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Ausgabe:

1979

Spalte:

380-382

Kategorie:

Systematische Theologie: Dogmatik

Autor/Hrsg.:

Baudler, Georg

Titel/Untertitel:

Wahrer Gott als wahrer Mensch 1979

Rezensent:

Fritzsche, Hans-Georg

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379

Theologische Literalur/.eitung 104. Jahrgang 1979 Nr. 5

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anzunehmen ist. Oft geht ein leicht rationalistischer Zug
durch die Texte, der die Erklärung der Heilszusammenhänge
mit Hilfe von natürlichen Vorgängen versucht. — (3) Im
wesentlichen aber herrscht mit allen Vor- und Nachteilen
der Auslegungsgrundsatz der sich selbst erklärenden Schrift
vor. Z.B. wird Lk 16,1-9 (BWV 105/S. 115) mit Ps 143,2
eingeleitet, dann aber einfach christologisch interpretiert,
wenn in einem Baß-Rezitativ folgendes zu hören ist: „Wohl
aber dem, der seinen Bürgen weiß, Der alle Schuld ersetzet,
So wird die Handschrift ausgetan, Wenn Jesus sie mit Blute
netzet. Er heftet sie ans Kreuze selber an ...". Ein anderes
Beispiel liegt vor, wenn unter dem 20. Sonntag n. Trin.
(141ff) das Evangelium Mt 22,1-14 durch die Kantate 162 als
Hochzeitsfest zwischen Christus und den Menschen (bzw. der
Welt!), durch die Kantate 180 als Allegorie des Abendmahls
(„Schmücke dich, o liebe Seele") und durch die Kantate 49
als Dialog zwischen Jesus und der Seele ausgelegt wird.

III.

Nur andeutungsweise muß auf eine weitere wichtige Beobachtung
hingewiesen werden: die Kantaten lassen sich in
ihrem geistigen Gehalt wohl nur dann recht verstehen, wenn
man bereit ist, die bewußte gottesdienstliche Verknüpfung
in Rechnung zu setzen. Wenige Hinweise müssen genügen:
Auf den unbestreitbaren Bezug zu den Propriumslesungen
wurde schon hingewiesen; die auffällig starke Einspielung
fester liturgischer Texte wie Te Deum, Litanei, Sanctus,
Agnus Dei, Magniflcat, Lobgesänge des Simeon und des Zacharias
, Versikel; nicht zuletzt muß der Stellenwert des Chorals
genannt werden, der nicht hoch genug veranschlagt
werden kann. Hinzu kommen Bezugnahmen auf fromme Sitten
der Bachzeit (z. B. wies R. Mauersberger-Dresden gern
auf das letzte Rezitativ vor dem Schlußchor der Matthäuspassion
hin als dem sächsischen Brauch des Abschiednehmens
jedes einzelnen von dem Toten). Nicht unbedeutend
sind schließlich die wenigen Zeugnisse für Zeitgeschehnisse
(BWV 143, 116 nach Friedensschlüssen, BWV 39 wurde anläßlich
des Eintreffens der Salzburger Emigranten 1732 wieder
aufgeführt; zu vergleichen sind auch die sog. Ratswahlkantaten
). — Zusammenfassend: Die Texte atmen eine im
besten Sinn reformatorische Frömmigkeit, wenn immer und
immer wieder — freilich z. T. ebenso im exegetischen salto
mortale wie in einer unserem Empfinden nach überzogenen
Sprache — das rechtfertigungstheologische Ziel angepeilt
wird. Dazu muß schließlich alles herhalten: Schöpfungs-
theologie, Naturverbundenheit, Schuld und Sünde, aber auch
eine oft nur beim Tod angebundene Eschatologie: alles mündet
in die Rechtfertigung aus Glauben durch Jesus Christus.
Überraschend ist für den Leser jedenfalls, daß die Texte der
Kirchenkantaten besser sind als ihr Ruf, was für die Texte
der weltlichen Kantaten wohl genau umgekehrt ist („Kirchenkantaten
haben in der Regel einen höheren dichterischen
Wert, da sie meist der bildhaften Sprache der Bibel
verpflichtet sind", W. Siegmund-Schultze, Johann Sebastian
Bach. Leipzig 1976 S. 159).

IV.

Es ist hier nicht der Ort, den begonnenen Analyseversuch
fortzusetzen. Das Gebotene soll als Material für eine wichtige
Tendenz ausreichen, die für Bachforschung und -pflege
heute nicht unbedeutend sein dürfte: Es gibt einen unbestreitbaren
aber auch unzerreißbaren Zusammenhang zwischen
der inhaltlich-geistigen Investition durch Bach selbst
und der heutigen Aufführungspraxis der Werke Bachs. Die
Texte sind für Bach auf jeden Fall Existenzäußerung gewesen
. Diesen Zweig der Bachforschung und -pflege zu intensivieren
, ermöglicht die vorliegende Edition. Bedeutsame Hilfen
liegen außerdem u.a. in folgenden Beiträgen vor: Hans Preuß,
Bachs Bibliothek, in: Festgabe für Th. Zahn. Leipzig 1928
S. 105-129; Hans Besch, Eine Auktionsquittung J. S. Bachs,
in: FS für F. Smend. Berlin 1963 S. 74-79; Paul S. Minear.
J. S. Bach and J. A. Ernesti: A Case Study in Exegetical and

Theological Conflict, in: Our Common History as Christian.
FS für A. C. Outler. New York 1975 S. 131-155. Diese Studien
legen die Tatsache nahe, daß Bach in den von ihm vertonten
Texten mehr zu Hause war, in ihnen lebte, als man bisher
annehmen mochte, ja anzunehmen bereit ist. Kurz: Bachpflege
und -forschung kann an der Mitarbeit der Theologie
nicht vorbei, will sie nicht Bach von seinem Werk, sein Werk
in Komposition und Inhalt trennen. Von dieser Erkenntnis
her wird man dem Hrsg. sehr dankbar sein für die gelungene
Edition; man wird mit ihm aber auch gern in ein kritisches
Gespräch eintreten über seinen als Ergänzung zum Vorwort
unseres Bandes verstehbaren Beitrag im Veranstaltungsheft
zum „52. Bachfest der Neuen Bachgesellschafl — Schwerin,
17.-20. November 1977" S. 133-145: „,Erwirb es, um es zu
besitzen!' Besorgnisse um Bachs Kantatenwerk". Vor allem
die am Schluß stehenden „Direktiven" zur Kantatenpflege
„für unsere Gegenwartssituation" (S. 143—145) bedürften
einiger Anfragen und Richtigstellungen. Das Gespräch über
Bach kann noch nicht zu Ende sein, da es noch gar nicht
richtig begonnen hat!

Auf einige Fragen und Desiderate sei noch hingewiesen: Am meisten
vermißt der Theologe ein Bibelstellenregister, durch das erst
Beobachtungen möglich werden, wie sie kurz angedeutet wurden. —
Warum fehlt der Textbestand einzeln überlieferter Bach-Chorale.
voran der des sog. Schemellischen Gesangbuches? In diesem Zusammenhang
ist interessant, daß verschiedene damals vielgelesene Liedautoren
bei Bach total fehlen (z. B. Silesius, Scriver, Tersteegen,
franz.-reformierter Liedpsalter usw.). — Die Geschichte vom Zinsgroschen
(Mt 22,15-22. vgl. 148) ist kein „Gleichnis". - Die Anmerkungen
geben gelegentlich Hinweise auf Inhalte; nur wird man für
die Kantate 144 (59) nicht sagen können, daß die Dichtung „ohne
eigentliche Weiterentwicklung um die Idee der Genügsamkeit"
kreist, wenn man den Bezug zum Evangelium Mt 20,1-16 ernst
nimmt. Auch spricht man besser von „Evangeliumstext" als von
„Evangelistentext" (34,37.47). - Druckfehler: „Textvarianten" (188);
unter dem Namen Lehms fehlt die Kantate 35 (474); auf S. 500 müssen
die BWV-Nr. 174 und 173 ausgetauscht werden, auf S. 503 muß die
BWV-Nr. für „Komm, Jesu, komm" 229 heißen; „Heerscharen" unter
Nr. xm (502).

Leipzig Martin Petzoldt

Klepper, Jochen: Die Flucht der Katharina von Bora. Aus
dem Nachlaß hrsg. u. eingeleitet v. K. Pagel. Gütersloh:
Gütersloher Verlagshaus Gerd Mohn [1978]. 139 S. 8° =
Gütersloher Taschenbücher/Siebenstern 275. Kart.
DM 5,80.

Systematische Theologie: Dogmatik

Baudler, Georg: Wahrer Gott als wahrer Mensch. Entwürfe
zu einer narrativen Christologie. München: Kösel-Verlag
[1977]. 272 S. 8°. Kart. DM 32,-.

Der Autor des Buches ist Professor für katholische Theologie
und ihre Didaktik an der Pädagogischen Hochschule in
Aachen. Die Titelformulierung seines Buches kann denjenigen
in die Irre führen, der nicht weiß, was „narrative Theologie
" ist. Es ist der Versuch, die Berichte besonders des
Neuen Testamentes und hauptsächlich über Jesus neu zu erzählen
, in der Sprache und Vorstellungswelt der Zeit, hierbei
romanhaft auszugestalten und vor allem so neu zu komponieren
, daß durch gezielte Gegenüberstellungen von biblischen
Texten untereinander wie von biblischen Texten mit
Berichten über gegenwärtig erlebte Vorkommnisse aktuelle
Tragweiten sichtbar werden. Es geht also um das missionarische
Anliegen des Katecheten — kaum um Dogmatik
oder Dogmengeschichte.

Vom einleitenden theoretischen und grundsätzlichen Teil
her ist man geneigt, dieses Buch sehr wichtig zu nehmen,
weil es schon vom rein logischen Standpunkt aus sehr Interessantes
vorträgt; u.zw., wenn die narrative Redeweise in
Gegensatz gestellt wird zum diskursiven und argumentativen
Reden. Das Schulbeispiel dieser Logik ist die Gegenüberstellung
zweier Sätze eines „Warngedichtes", die erst in