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Ausgabe:

1979

Spalte:

377-380

Kategorie:

Christliche Kunst und Literatur

Titel/Untertitel:

Saemtliche von Johann Sebastian Bach vertonte Texte 1979

Rezensent:

Petzoldt, Martin

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Theologische Literaturzeitung 104. Jahrgang 1979 Nr. B

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Menschen ständig umgebenden Arsenal von „Zeichen und
Wundern", deren Deutung durch den alles andere als theologisch
ungebildeten Protopopen selbst autorisiert wurde"
(27).

Diese Einsicht in die eigenartige Zeichenwelt des altgläubigen
Eiferers wurde erst möglich durch die konsequente
Analyse der altrussischen Hagiographie im Lichte der pseu-
doareopagitischen Urbild-Abbild-Ästhetik. Das neue Buch
von Onasch und Freydank ist ein wichtiger Beitrag zur Erforschung
der Geschichte dieser Ästhetik in der altrussischen
Kunst und Dichtung.

Oslo Jostein Bortnes

Neumann, Werner [Hrsg.]: Sämtliche von Johann Sebastian
Bach vertonte Texte. Leipzig: VEB Deutscher Verlag für
Musik 1974. 512 S. 4°. Lw. M 54,-.

L

Die Besprechung des vorliegenden Bandes in einem theologischen
Rezensionsorgan hat, neben dem Interesse an der
■.Auseinandersetzung mit den Problemen" der Textgrundlage
des Bachschen Vokalwerkes als „permanente(m) Anliegen
der Bachpflege" (14), vorwiegend theologische Absichten
. „Bachpflege" heißt in bezug auf die abgedruckten Texte
für den Theologen wohl zweierlei: 1. Die Frage nach der im
größeren Rahmen der Theologiegeschichte angesiedelten
Frömmigkeitsgeschichle und -hermeneutik und 2. die aktuelle
Frage nach den Texten heute, die sich letztlich als liturgisches
Problem stellt. Darüberhinaus zeigt sich die fröm-
fnigkeitshermeneutische Seite mehr und mehr auch als gegenwärtig
betreffende, unmittelbar interessierende Seite angesichts
der in Theologie und Gemeinden sich vollziehenden
Prozesse einer neuen Spiritualität.

Der ganze Band hat zwei Hauptteile: „I Text-Teil" (21 bis
253) und „II Faksimile-Teil" (255-449), denen Vorwort (14
bis 18), Abkürzungen und Hinweise (19—20) sowie Hinweise
zur Modernisierung und zum Verständnis alter Wortformen
(20) voranstehen. Teil „III Verzeichnisse" (473-512) enthält
folgende Arbeitsschlüssel: Übersicht über die Dichter (473
bis 475), Alphabetisches Verzeichnis der Satzanfänge des
Text- und des Faksimile-Teils (476—98), Verzeichnis der
Werke nach Nummern (499—503) und Quellennachweis zum
Faksimile-Teil (509—12), der nach Drucken (Gedichtsammlungen
, Sammelbände, Einzeldrucke, Texthefte) und Handschriften
aufgeteilt ist. Das Unternehmen des Hrsg. ist nicht
das erste dieser Art: 1914 erschien in Leipzig der Band „Johann
Sebastian Bachs Kantatentexte, hrsg. v. R. Wuslmann".
Daß diesem Werk gegenüber mit der vorliegenden Edition
ein wichtiger Schritt nach vorn getan wurde, kann und wird
niemand bezweifeln. Dafür kann man dem Hrsg. nicht genug
Banken. In erster Linie betrifft das die Vervollständigung
der Sammlung um den Textbestand aller Vokalwerke
Bachs, die es über den Bestand der Kirchenkantaten hinaus
gibt (sog. weltliche Kantaten, Motetten, Passionen, Lieder/
Choräle'Arien/Quodlibet, Messen und Sanctusvertonungen,
Magnificat). Sodann muß die geglückte Durchgliederung
(Kirchenjahr, verschiedene Kasus und die bereits genannten
Werkgruppen) hervorgehoben werden, die dann mit
Hilfe des Faksimile-Teils eine sinnvolle und vielfach erhellende
Bezugnahme auf verschollene und parodierte Werke
anbietet. Im Faksimile-Teil können als Besonderheit 10
Textdrucke des Darmstädter Hofpoeten Georg Christian
Lehms (256-261; erst 1969/70 dokumentarisch sichergestellt)
und 3 Texthefte zur Leipziger Kirchenmusik (422-437; 1971
in Leningrad entdeckt) gezeigt werden.

Es liegt nahe, verschiedene Datierungen und Angaben
(Textdichter) mit bisherigen Einschätzungen zu vergleichen.
So fällt auf, daß für eine ganze Reihe von Kantaten eine frühere
Entstehungszeit (zwischen 1724 und 1728) als bei W.
Schmieder, Thematisch-systematisches Verzeichnis der Werke
J. s. Bachs. Leipzig 19501 (5. unveränd. Aufl. 1971), angegeben
wird (zwischen 1730 und 1740). Trotz der Feststellung,

daß „für nur ein Drittel des Gesamtbestandes" der freien
Dichtungen „bisher die Autoren mit Sicherheit ermittelt
werden" konnten (17), ist auch hier hinsichtlich einer beträchtlichen
Anzahl gegenüber den Schmiederschen Angaben
eine Präzisierung erfolgt. Der schon erwähnte G. Chr. Lehms
wird bei Schmieder lediglich als Autor der Kantate 199 vermutet
. Die für die Kantate 63 vermutete Autorschaft J. M.
Heineccius' aus Halle ist nicht zu hoch zu veranschlagen (vgl.
den Faksimile-Abdruck auf S. 302f, der den Bezug zwischen
Kantatentext und dem Namen des Herausgebers der ganzen
Schrift nicht unbedingt nahelegt). Aber auch inzwischen als
unberechtigt erkannte Vermutungen Schmieders sind aufgegeben
worden (ich nenne nur BWV 248 .,Weihnachtsoratorium
", sowie Angaben, die sich auf Bach selbst, auf Henrici,
Chr. Weise Vater und Sohn bezogen).

IL

Die Frage nach den Texten der geistlichen Kantaten und
ihrem Verständnis ist zunächst historisch-analytisch zu stellen
. Mit den gewonnenen Erkenntnissen kann dann die
frömmigkeitshermeneutische Seite bedacht werden. Der
Hrsg. erleichtert die hist.-analytische Arbeit durch die typographische
Gestaltung der Texte: Bibeltexte sind kursiv,
Choraltexte halbfett, und poetisch-lyrische Texte sind in
normaler Type gedruckt. Das optische Bild ermöglicht bereits
Differenzierungen, die am Schluß jedes Kantatentextes befindlichen
Anmerkungen bringen in (im Höchstfall) drei Anmerkungsteilen
(1) Textänderungsvorschläge für die Praxis.
(2) Bemerkungen zu Herkunft und Fundort des Textes, sowie
zur Verwendung und Kompilation der einzelnen Textgattungen
und (3) Nachweise für Bibelstellen, Liedstrophen
und zur einzelnen Wortgestalt in den bisherigen Ausgaben
(Originalpartitur, -stimmen, Bach-Gesamtausgabe usw.), sowie
Angaben zur Wiederverwendung der Komposition in
anderem Zusammenhang.

Beobachtungen zum Umgang mit den Texten verschiedener
Herkunft lassen Schlußfolgerungen frömmigkeitsherme-
neutischer Art zu. (1) Die Bibeltexte sind entweder den Peri-
kopen des jeweiligen Sonntagspropriums entnommen (Hrsg.
bringt die Stellennachweise für Epistel und Evangelium unter
dem Sonntagsnamen mit einer kurzen Inhaltsangabe) oder
sie versuchen mit Hilfe eines passenden alttestamentlichen
(meist aus der Psalmen- und Weisheitsliteratur stammenden)
Zitates den Skopus des Sonntages einzufangen. Eindeutig ist,
daß die Bibeltexte, die Choralstrophen und die freien Texte
dem jeweiligen Sonntagsproprium zugeordnet sind, was der
Hrsg. verkennt, wenn er gelegentlich die Beziehung der freien
Dichtungen zu den dominierenden Chorälen vermißt (so z. B.
S. 130; vergleichbar auch die Bemerkung auf S. 145, Satz 4 sei
„frei eingefügt" !). Mit Hilfe unserer Erkenntnis ließen sich
u. U. auch die Bestimmungen von Kantaten rekonstruieren,
die mit dem Vermerk „ohne Bestimmung" auf den S. 183ff
abgedruckt sind (BWV 150 wäre dann dem Sonntag Reminis-
cere zuzuordnen, da dessen Introituspsalm 25 sowohl den
Kantatentext bestimmt, wie auch die freien Dichtungen den
Bezug zum Evangelium Mt 15,21—28 nahelegen).—(2) Interessant
ist auch die starke Hinwendung zum AT (auf Psalmen-
und Weisheitsliteratur wurde schon hingewiesen). Die Frömmigkeit
der Bachzeit artikuliert sich offenbar gern mit Hilfe
von alttestamentlichen Metaphern. So werden unmittelbare
analogische Bezüge zu verschiedenen Gestalten hergestellt:
Adam (35), Jona (56), David und Manasse (122,183), Abner
(150), Daniel (165), Obed und Rahel (175), Jesaja (180) usw.
Daneben finden sich allegorische Deutungen folgender Metaphern
: der Schilo [Helfer] des Paradieses (26), des Weibes
Samen (31), im Paradies verstecken (35), des Todes Bitterkeit
vertreiben (56), den Sodomsäpfeln gleich (67, hier sind gleich
zwei Metaphern für „Sünde" miteinander verbunden), die
Salb aus Gilead (127), die noch nicht verkürzte Hand des
Herrn (144), Babels Ofen (165), mit Feuer, Roß und Wagen
(166). Die Verwendung solcher oft sehr der Entschlüsselung
bedürftiger Metaphern setzt ein hohes Maß an Bibelkenntnis
voraus, die jedenfalls für Bach und die damaligen Hörer