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Ausgabe:

1979

Spalte:

374-377

Kategorie:

Christliche Kunst und Literatur

Titel/Untertitel:

Altrussische Heiligenleben 1979

Rezensent:

Børtnes, Jostein

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Theologische Literaturzeitung 104. Jahrgang 1979 Nr. 5

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übersehen werden dürfen. Tatsächlich kommt ja auch der Vf.
selbst nicht umhin, die Theologumena, die in Luthers Äußerungen
zur Judenfrage in zumal biblisch-exegetischem Begründungszusammenhang
auf Schritt und Tritt begegnen,
aufzuweisen. Audi bei der Darstellung der Forschungsgeschichte
begegnet der Vf. interpretatorischen Beurteilungsmaßstäben
, die die Entwicklung Luthers in dieser Hinsicht
nicht losgelöst von seinem biblisch gesättigten, theologisch
orientierten Denken zu erfassen suchen. Insofern partizipiert
die Untersuchung an den Ergebnissen, die unter historisch
notwendiger Einbeziehung von Luthers Selbstverständnis
seine Stellungnahmen zu den Juden als Geschichte entweder
eines grundsätzlichen Wandlungsprozesses oder einer stärkeren
Kontinuität erfassen bzw. zwischen gleichbleibender
theologischer Grundhaltung und unterschiedlichen rechtlich-
Praktischen Folgerungen unterscheiden.

Quellenmäßig wird versucht, die bisherige Forschungsgeschichte
seit Reinhold Lewin (Luthers Stellung zu den Juden
, Berlin 1911) dadurch zu überbieten, daß auch die Tischgespräche
und vor allem die Frühvorlesungen (gründlicher
als Lewin) ausgewertet werden; freilich hatte auch schon
Theodor Pauls — wenngleich in bedenklicher zeitgeschichtlicher
Aktualisierung — die Frühvorlesungen ausführlich
analysiert. Ohne die Untersuchung von Johannes Brosseder
(Luthers Stellung zu den Juden im Spiegel seiner Interpreten
, München 1972), die auch die weltanschauliche Trivialliteratur
exemplarisch mit berücksichtigt, quantitativ zu erreichen
(doch kommen einige englischsprachige Titel hinzu),
Weicht Sucher von der Konzeption Brosseders ab (vgl.
meine Rez. zu Brosseder in: Luther-Jahrbuch 42,1975, 141 bis
!43). Brosseder, ebenfalls der von Sucher abgelehnten Kontinuitätskonzeption
verpflichtet, hatte sich bei sonst weitgehender
Übereinstimmung mit meinen Forschungsergebnissen
(Zur Interpretation von Luthers Judenschriften. In:
Kirche und Judentum, Halle und Göttingen 1968) auseinandergesetzt
und war meiner These, bei Luther sei die Rechtfertigungslehre
(Materialprinzip) als universales Heilsangebot
vornehmlich wegen Luthers Festhalten an bestimmten
judenkritischen Aussagen der Bibel im Zusammenhang mit
mittelalterlicher Exegese von Rom 9—11 (definitives Verstok-
kungsurteil) dem Judentum gegenüber partikularistisch eingeschränkt
, mit dem Hinweis entgegengetreten, daß vielmehr
„die Universalisierung der Rechtfertigungslehre Luthers
zu seinen harten Ratschlägen gegen das Judentum verleitet
" habe (Brosseder, aaO., 386). C. B. Sucher will nachweisen
, daß die im Gefolge schon Joh. Georg Walchs und
Gustav Plitts besonders von Theodor Pauls vertretene Kontinuitätslinie
in Luthers Beurteilung des Judentums nur mit
starken Einschränkungen aufrechterhalten werden könne.
Darum unterliegt auch Carl Cohens Nachwort für eine 1973
vom Leo-Baeck-Institut geplante, vorläufig aber nicht realisierte
Neuauflage der Arbeit von Lewin aus dem Jahre 1911
seiner Kritik. Die Interpretationstypen (Wandel, Kontinuität
, grundsätzliche Kontinuität bei Wandel praktischer Konsequenzen
) sähen sich überhaupt zu starken Definitionseinschränkungen
genötigt. Die Kontinuitätsthese zumal lasse
sich in der Forschung nicht eindeutig erheben, wobei er indes
den Charakter typologischer Kennzeichnung als Orientierungshilfe
begrifflich überfordert und durch die Vernachlässigung
theologischer Interpretationskriterien sich Möglichkeiten
verbaut, eine dynamische Kontinuität in Luthers Judenkritik
zu konstatieren, die bei aller unterschiedlichen
praktischen Akzentuierung eine innere Stringenz aufweist.

Der Vf. will den zwischen 1523 und 1543 bei Luther aufweisbaren
Wandel in Tonart und praktischen Vorschlägen
nicht lediglich auf Luthers enttäuschte Hoffnungen in der
Judenmission zurückführen, versucht vielmehr, Luthers längere
„Schweigeperiode" in den dreißiger Jahren und seine
haßerfüllte, explosivartig ausbrechende Alterspolemik psychologisch
und psychoanalytisch zu deuten, wobei er auf Gedanken
aus der historisch-psychiatrischen Untersuchung von
paul J. Reiter (Martin Luthers Umwelt, Charakter und Psychose
.. ., Kopenhagen 1937 u. 1941) sowie auf Erik H. Erik-

son (Der junge Luther. Eine psychoanalytische und historische
Studie, München 1964) zurückgreift, um nun doch - die
Germanistik transzendierend — übergreifende Beurteilungsmaßstäbe
nichtgermanistischer Art heranzuziehen und zu
dem lapidaren Schluß zu kommen: Luthers Stellung zu den
Juden sei „also bedingt durch seine Krankheit" (286). Hypothetisch
wird betont, es sei durchaus denkbar, daß Luthers
erneutes Eingreifen in der Judenfrage — ebenso wie seine
neuerlichen Angriffe auf das Papsttum und die römische
Kirche — ausgeblieben wären, „wenn nicht der spät ausbrechende
Haß auf alles und jeden ihn dazu veranlaßt" hätten
(ebd.). Dabei soll der psychoanalytische Begriff der „Regression
", mit der der Begriff der „Entwicklung" Luthers in der
Judenfrage qualifiziert wird, „Luthers Äußerungen zu den
Juden in jeder Weise" treffen. Ambivalent wirkt — wie auch
sonst gelegentlich — die Bemerkung, solche „Entwicklung"
zu konstatieren, helfe, Luthers Haltung zu den Juden als
Ganzes zu sehen, ohne nach Theologie und Praxis zu trennen
, während unmittelbar darauf selbst die sonst beargwöhnte
Unterscheidung gemacht wird:in praktischpolitischer
Hinsicht gehe der Luther von 1523 zuletzt
wieder auf eine Stufe vor 1513, zu einem katholischen Standpunkt
zurück, während in theologischer Hinsicht
(Meinung über Missionierung der Juden und Verfallensein
unter den Zorn Gottes) sich Luther am Ende nicht von seiner
Position der ersten Psalmenvorlesung unterscheide.

Während die Arbeit hinsichtlich ihrer appendixartigen
psychologischen Gesamtinterpretation schwerlich überzeugen
dürfte, liegt ihre Bedeutung mehr im informationsreichen
analytischen Hauptteil, in dem Luthers Äußerungen
zur Judenfrage chronologisch wie auch problemgeschichtlich
erörtert werden. Dem mehr lexikographisch orientierten
Vorspann über die Geschichte der Juden in Deutschland, der
— aus der Literatur übernommen — offenbar als Orientierungshilfe
für breitere Kreise gedacht ist, korrespondiert
am Ende eine hilfreiche Übersicht über Lutherausgaben
unter dem Aspekt, ob sie die Judenschriften ganz, partiell
oder überhaupt nicht abdrucken. Als Korrigendum
mag hier lediglich noch angemerkt sein, daß in der DDR
keine „fünfzigbändige Lutherausgabe" für 1983 geplant ist,
sondern eine fünfbändige Taschenbuchausgabe und eine
sechsbändige Studienausgabe, die natürlich die Judenschriften
nicht enthalten werden, zumal diese in der Weimarer
Lutherausgabe vollständig greifbar sind.

1-eipzi» Kurt Meier

Calvin, Jean: Christliche Unterweisung. Der Genfer Katechismus
von 1537, übers, u. hrsg. v. L. Schuckert. Gütersloh
: Gütersloher Verlagshaus Gerd Mohn [1978]. 79 S.
8° = Gütersloher Taschenbücher Siebenstern 291. Kart.
DM 6,80.

Müntzer, Thomas: Schriften und Briefe, hrsg. v. G. Wehr.
Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus Gerd Mohn [1978].
190 S. 8° = Gütersloher Taschenbücher Siebenstern 418.
Kart. DM 9,80.

Christliche Kunst und Literatur

Onasch, Konrad [Hrsg.]: Altrussische Heiligenleben, übers.

v. D. Freydank. Berlin: Union Verlag [1977]. 394 S., 16
Farbtaf. 8°. Lw. M 18,-.

Konrad Onasch, der durch seinen großartigen Ikonenband
weit über den Kreis der Fachgelehrten hinaus bekannt geworden
ist, legt mit dem neuen, aus der engen Zusammenarbeit
mit dem Übersetzer Dietrich Freydank erwachsenen
Buch dem deutschsprachigen Publikum eine Auswahl „verbaler
Ikonen" vor. Der Band enthält achtzehn Texte aus dem
11. bis 17. Jh., von denen viele hier zum erstenmal in deutscher
Sprache erscheinen. Die ältesten, „Alexios der Gottes-