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Ausgabe:

1979

Spalte:

372-374

Kategorie:

Kirchengeschichte: Reformationszeit

Autor/Hrsg.:

Sucher, Curt Bernd

Titel/Untertitel:

Luthers Stellung zu den Juden 1979

Rezensent:

Meier, Kurt

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371

Theologische Literaturzeitung 104. Jahrgang 1979 Nr. 5

372

Osborn, Eric: Ethical Patterns in Early Christian Thought.

Cambridge—London—New York—Melbourne: Cambridge

University Press [1976]. IX, 252 S. gr. 8°. Lw. £ 8,-.

Der Vf., Professor am Queen's College der Universität
Melbourne, hat sich bereits mit Arbeiten über die Philosophie
des Clemens von Alexandrien (1957) und über Justin d.
Märtyrer (1973) als Kenner der frühchristlichen Theologiegeschichte
ausgewiesen. In seinem neuen Buch entwickelt er
auf dem Hintergrund von Beobachtungen am zeitgenössischen
ethischen Denken eine Phänomenologie der frühchristlichen
Ethik, die sich bewußt auf Leitideen bzw. Leitbilder-
beschränkt. Angeregt von verschiedenen Arbeiten Iris Mur-
dochs interessiert ihn nicht das Detail ethischer Forderungen,
das heute ohnehin zunehmend hinterfragt wird, sondern das
Geflecht determinierender Ideen, die als „quasi-ästhetische
Konzepte" dem ethischen Denken allererst Zusammenhalt
und Lebendigkeit verleihen. Was O. leisten möchte und
zweifellos wirklich geleistet hat, ist eine Beschreibung und
Analyse der Leitideen oder Leitbilder (patterns or pictures),
die sich in den ersten fünf Jahrhunderten der christlichen
Theologiegeschichte durchgehalten haben und die sich durch
zwei Merkmale auszeichnen: durch ihr spannungsvolles Bezogensein
auf Kontingenz wie auf Vollendung. O. erkennt
vier solche „patterns", auf die hin er das Neue Testament,
Clemens von Alexandrien, Basilius d. Gr., Joh. Chrysosto-
mus und Augustin befragt: Gerechtigkeit, Nachfolge,Glaube,
Liebe. Damit ist ein klarer und einleuchtender Aufbau des
Buches gegeben.

Der eigentlichen Darstellung vorangestellt sind einleitende
Beobachtungen zum ethischen Denken im Griechentum und
in Israel. Griechische Ethik (Plato, Aristoteles, Stoa) erscheint
geprägt durch die beiden Leitideen einer in oder
jenseits der Welt stehenden rationalen Ordnung und eines
höchsten Zieles oder Gutes, auf das die Ordnung bezogen ist.
Beide Leitideen kehren, durch jüdischen Einfluß modifiziert,
im Christentum wieder, als Weg der Gerechtigkeit und als
Jesus-Nachfolge. Jedoch geht das Christentum über die beiden
Grundideen des griechischen Denkens hinaus, indem es
seinerseits die Gerechtigkeit durch den Glauben und das
Ziel durch die Liebe modifiziert. Beide Modifikationen mußten
erfolgen, weil das Verstehen der Gerechtigkeit und des
Zieles durch Inkarnation, Tod und Auferstehung Jesu
Christi transformiert worden ist. So kam es zu jenen vier
Leitideen, um die herum christliche Ethik gebaut ist. Freilich
bleiben auch sie nur heil, solange die für sie wesentliche
Spannung zwischen Kontingenz und Vollendung nicht verlorengeht
. Andernfalls droht Degeneration in Richtung auf
Legalismus oder Enthusiasmus. Wie tief die beiden für
christliche Ethik wesentlichen Pole von Kontingenz und
Vollendung schon urchristlichem Ethos eingestiftet sind, ist
beispielhaft an der Bergpredigt ablesbar.

Schon diese einleitenden Thesen und Gesichtspunkte zeigen
, daß O. in der Tat nicht eine historische, sondern eine
phänomenologische, an grundlegenden Denkstrukturen interessierte
Darstellung geben will. Die Durchführung im einzelnen
bestätigt es. Das Schrifttum des NT und der oben genannten
vier Kirchenväter wird auf ihr jeweiliges Verständnis
jener vier Leitideen untersucht. Bei allem Wandel im
einzelnen ergibt sich doch eine bemerkenswerte Kontinuität
im Grundsätzlichen. O. erweist sich als ausgezeichneter Kenner
der betreffenden Literatur, der entscheidende Aussagen
der Autoren einleuchtend aus den Quellen zu erheben und
einander zuzuordnen vermag. Sicher kann man gelegentlich
streiten, welcher der vier Leitideen gewisse Einzelaussagen
am sinnvollsten zuzuordnen sind. Doch bleibt hier selbstredend
ein bestimmter Spielraum, da sich O. ganz mit Recht
nicht nur an solche Ausführungen hält, in denen die vier
Leitbegriffe unmittelbar vorkommen. Die Analyse ist zugleich
Interpretation.

O. begnügt sich jedoch nicht mit einer solchen Darstellung,
sondern schließt, da sein Interesse offensichtlich letztlich der
Gegenwart gilt, eine interessante Problemdiskussion an.
Jede dieser vier Leitideen enthält nämlich ein Problem, das

einerseits in den letzten zwanzig Jahren diskutiert worden
ist, zu dem aber audi bereits die altkirchliche Theologie Wesentliches
beigesteuert hat. Die Idee der Gerechtigkeit provoziert
die Frage nach dem natürlichen Gesetz. O. beobachtet
bei den Kirchenvätern die problematische Tendenz, aus dem
natürlichen Gesetz ein abstraktes, autonomes System zu
machen. Damit wird die Idee der Gerechtigkeit verzerrt. —
Die Idee der Nachfolge provoziert die Frage nach dem historischen
Jesus. O. versucht zu zeigen, daß das kritisch erarbeitete
Jesusbild für diese Idee keinen Verlust bedeutet, sondern
im Gegenteil einen mehrfachen Gewinn: in der historischen
Begrenztheit Jesu stoßen wir neu auf die Elemente
der Souveränität, der Unmittelbarkeit und Klarheit Jesu
und damit auf die zentrale Bedeutung von Kreuz und Ethik
für jede Form von Nachfolge. — Der Glaube als Grund der
Ethik provoziert die Frage nach der Bedeutung der Philosophie
für die christliche Ethik. O. bemüht sich nachzuweisen
, daß die Verwendung nichtchristlicher ethischer Begriffe
aus linguistischen, historischen und logischen Gründen
schlechthin notwendig ist. Dabei führt ihn sein Studium der
Kirchenväter zu der Überzeugung, daß auch heute der Pla-
tonismus die geeignete philosophische Basis für eine christliche
Ethik bildet, um so mehr, als schon Paulus Phil 3 und 4
ihm strukturell nahekommt. — Endlich provoziert die Idee
der Liebe die Frage nach der sog. Situationsethik. Hier urteilt
O. kritisch: das Gebot der Liebe kommt nicht ohne
einige klare Regeln für das aus, was Liebe zu tun hat. Gegen
Nygren ist O. davon überzeugt, daß eine so verstandene
Liebe dem platonischen Verständnis von der überfließenden
göttlichen Güte nahekommt.

Ein Schlußabschnitt faßt die Ergebnisse zusammen und
betont noch einmal die notwendige Spannung von Kontingenz
und Vollendung für alle christliche Ethik. Insgesamt
stellt das Buch einen bemerkenswerten Versuch dar, Grundlinien
frühchristlicher Ethik für die moderne Diskussion um
die Gestalt christlicher Ethik zu erschließen. Freilich wird
seine platonisierende Grundtendenz ihrerseits kritisch zu
hinterfragen sein.

Greifswald Günter Ilaute

Kirchengeschichte: Reformationszeit

Sucher, C. Bernd: Luthers Stellung zu den Juden. Eine Interpretation
aus germanistischer Sicht. Nieuwkoop: de Graaf
1977. XXVI, 316 S. gr. 8° = Bibliotheca Humanistica & Re-
formatorica, XXIII. Lw. hfl. 85,-.

In einer durchaus aspektreichen germanistischen Promotionsschrift
, die — wie aus dem Vorwort hervorgeht — ihren
ersten Anstoß 1972 von Peter Bauland, amerikanischer Gastprofessor
für Theaterwissenschaft in München, empfing und
von Prof. Hans-Friedrich Rosenfeld ebendort betreut wurde,
unternimmt der Autor zu dem vielerörterten Thema „Luther
und die Juden" den „Versuch einer erneuten Interpretation
aus nichttheologischer Sicht" (200). Dem etwaigen Vorwurf,
er habe sich in einen „fachfremden Bereich eingemischt'',
versucht er in einer „Vorbemerkung" mit dem Hinweis auf
äußerste Askese in puncto Luthers Theologie zu begegnen,
auf die in der Untersuchung „sowenig wie möglich" eingegangen
werde. Wenn der Vf. das Verfahren, Luther in seinen
umfangreichen Äußerungen zur Judenfrage (in Schriften,
Briefen und Tischreden sowie in den Frühvorlesungen usw.)
sachgerecht zu interpretieren, ohne die Theologie Luthers
insgemein ins Auge zu fassen, als „möglich ... und sinnvoll"
ansieht, so ist dieser methodische Ansatz freilich schon insofern
problematisch, als Luthers Beurteilung des Judentums
keineswegs nur arbiträre Urteile enthält, sondern durchweg
in die theologische Grundposition seiner reformatorischen
Theologie hineinweist, auch wenn Restbestände mittelalterlichen
Denkens ebensowenig wie allgemeine zeitgenössische
Denkimplikationen in personell-biographischer Brechung