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Ausgabe:

1979

Spalte:

305-306

Kategorie:

Religions- und Kirchensoziologie

Autor/Hrsg.:

Schibilsky, Michael

Titel/Untertitel:

Religiöse Erfahrung und Interaktion 1979

Rezensent:

Kehnscherper, Günther

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305

Theologische Literaturzeitung 104. Jahrgang 1979 Nr. 4

gen. Die Protesthaltung mit ihrer Kritik am Bestehenden wird im
Zuge der Aufklärung und der Säkularisation in Europa zu einer
geschichtsmäehtigen Kraft gegenüber dem als sakrosankt geltenden
Bündnis von Thron und Altar. Ein Angriff auf die Religion bedeutet
zugleich einen Angriff auf die feudal-monarchische Obrigkeit
. Das aufstrebende Bürgertum benutzt die Argumente der Aufklärungsphilosophen
, in Deutschland besonders durch Feuerbach,
Marx und Engels radikalisiert, als Waffe im Kampf gegen monarchisch
-klerikale Vormundschaft. - In einem weiteren Gedankengang
untersucht die Vfn. die Beziehungen der Religionskritik der
Aufklärung zur „neuen" Wissenschaft, die auf Erkenntnissen von
Francis Bacon und Rene Descartes beruht und der von Auguste
Comte entwickelten „positiven" Methode unter Verzicht auf religiöse
und metaphysische Erklärungen. Religionskritik gehört somit
zur Voraussetzung heutiger Ideologiekritik, und die Autorin
gelangt zu der Schlußfolgerung: „Die Religionssoziologie war in
ihrer Geschichte immer zugleich politische Soziologie. Das Zusam-
mensehen von Religionskritik und politischer Kritik liefert daher
einen Schlüssel zum Verständnis der Religionssoziologie, weil dadurch
das ideologische Interesse der religionssoziologischon Theoretiker
deutlich wird" (18).

Dr. phil. Bärbel Wallisch-Prinz, M.A., lehrt Soziologie an der
Cornell Universität in Ithaca (New York). Von ihrem persönlichen
Lebenshintergrund her mit den in Deutschland und in den USA
gesammelten Erfahrungen ist ihr starkes Interesse an der Entwicklung
der Religionssoziologie im 19. und 20. Jh. in Westeuropa und
in den USA verständlich. Die Autorin bewegt die Frage, wie es zur
Abkehr von der religions- und gosellschaftskritischen Grundhaltung
zur Zeit der Aufklärung zu einer bei aller Kritik im einzelnen
doch positiven Einstellung von bürgerlichen Rcligioassoziologen
zur Gesellschaftsformation im Spätkapitalismus gekommen ist.
Für diese Entwicklung in Westeuropa bildet das erstarkte Bürgertum
mit der Festigung seiner politisch-ökonomischen Machtpositionen
die gesellschaftlichen Voraussetzungen, innerhalb derer hervorragende
Vertreter der „klassischen" Religionssoziologie (z. B.
in Frankreich: Emile Dürkheim - in Deutschland: Max Weber) die
Religion als integratives, bindendes und stabilisierendes Element
der Gesellschaft erklärten. - Die überwiegende Zahl der Gründer
der Vereinigten Staaten von Nordamerika waren Nachkommen
von Einwanderern, die in den westeuropäischen Heimatländern zu
den „Häretikern" und „Freikirchlern" (Independents, Levellers,
Diggers, Quäker, Puritanor) innerhalb und außerhalb der Staatskirchen
gehörten. Wichtige Elemente ihrer religiösen Lehren, politisch
-demokratischen Überzeugungen und der puritanischen Lebenshaltung
sind durch diese Männer in der Verfassung der USA
und in weiteren Konventionen verankert. In dem Maße, wie die
ehemaligen Independonten zu Staatsträgern wurden, wandelte
sich ihr früher negatives Verhältnis zum Staat zum Positiven, zur
Bejahung der von ihnen geschaffenen Gesellschaft. Somit wurde
die Religion trotz rechtlicher Trennung von Kirche und Staat zu
einem integrierenden Faktor der Gesellschaft.

Die Autorin beschreibt die weitere Entwicklung der Religionssoziologie
als einen Prozeß ständiger Differenzierung: die Entstehung
der Kirehengemeinde- bzw. Pastoralsoziologie, zum Teil als
„Hilfswissenschaften" von Kirche und Theologie angesehen - die
Bedeutung der Säkularisation für die religionssoziologische Forschung
- die unterschiedlichen Methoden zur Erfassung und Messung
von „Religiosität" im kirchlichen und gesellschaftlichen Bereich
- die Übernahme der „kritischen Funktion" der Religionssoziologie
innerhalb theologischer Richtungen (z. B. durch Paul
Tillich, Helmut Gollwitzer, Jürgen Moltmann). - In ihren Schlußbemerkungen
bezeichnet die Vfn. den „Widerspruch von menschlicher
Freiheit und realer Herrschaftspraxis" als entscheidendes
und geschichtlich relevantes Problomfeld, mit dem sich die gegenwärtige
Religionssoziologie zu befassen habe.

Magdeburg Erwin Hinz

Schibilsky, Michael: Religiöse Erfahrung und Interaktion. Die

Lebenswelt jugendlicher Randgruppen. Stuttgart - Berlin -
Köln - Mainz: Kohlhammer [1976]. 191 S. 8° = Kohlhammer
Urban-Taschenbücher T-Reihe, 624. Kart. DM 14,-.

„Religionsloses Christentum" war Programm und Versprechen
einer Hauptströmung der Theologie in entscheidenden Phasen
ihrer jüngsten Geschichte. Aber die lange vernachlässigte Beschäftigung
mit den religiösen Phänomenen, dem religiösen Bewußtsein
und auch der religionsgeschichtlichen Forschung führte zwangsläufig
Anfang der 60er Jahre zu einer neuen Sensibilität für Religion
. Der Emanzipation des Christentums von der Religion folgte -
teilweise im außerkirchlichen Bereich - eine „Renaissance der
Religion", für Theologie und Kirche eine vielfach unerwartete
Wende.

Religiöser Optimismus ist nicht angebracht und wird auch in
Zukunft nicht anzuraten sein. Aber eine erneute Besinnung auf die
Phänomene echter Religiosität, erkennbarer Tiefendimensionen
religiöser Weltdeutung und neues Verständnis für das religiös verankerte
Glaubenszeugnis der biblischen Väter, der Literatur und
der Kunst haben doch viele Menschen nachdenklich gestimmt, auch
wenn diese Tendenzen bisher auf Kirche und Gesellschaft keine
tieferen Einflüsse ausgeübt haben.

Wenn auch zugegebenermaßen dem neuen Interesse an Religion
nicht ein ebensolches Fragen nach der Kirche entspricht, so darf
das doch kein Grund für Kirche und Theologie sein, den neuen
Aufbrüchen gleichgültig gegenüberzustehen, sie in kirchl iche Randgruppen
abzudrängen oder gleichgültig zuzusehen, wie die Deutung
dieser Phänomene ohne qualifizierte biblisch-theologische
Anleitung im Fundamentalismus verebbt oder in „frei-religiösen"
Gruppen Erfahrungserweiterung durch Yoga oder Drogen sucht.

So kommt der hier vorgelegten Untersuchung von Soh. eine
immense Bedeutung zu. Gerade weil religiöse Phänomene zweideutig
sind, bedürfen sie in der Gemeinde der sachkundigen Deutung
und Wegbegleitung durch den Theologen. Der Vf. vermittelt
einen umfassenden, klar gegliederten und einsichtigen Zugang zur
theologischen Problematik von Religion.

Religiöse Erfahrung im Alltag bedarf einer sorgfältigen Deutung,
um nicht zu sozialer oder kirchlicher Isolation zu führen. Der Vf.
richtet sein Augenmerk auf die biographische Sedimentierung solcher
Erfahrungsprozesse. Gegenstand der Darstellung und Auseinandersetzung
sind vornehmlich subjektive Erfahrungen und die
damit verbundenen sozialen und ekklesiologischen Entwicklungsprozesse
, die von den Beteiligten als solche erlebt und bewußt abgehoben
worden sind. Auf der Basis biographisch orientierter Interviews
mit Jugendlichen verfolgt der Autor das Ziel, die Funktion
religiöser Erfahrung in der Alltagswelt zu klären. Dabei wird deutlich
, daß sich im angeblich religionslosen Zeitalter die Suche nach
Sinn in neuen Formen religiöser Erfahrung und kirchlicher - wie
außerkirchlicher - Existenz verdichtet.

Im Gegensatz zu anderen Veröffentlichungen zum Thema bringt
Sch. einen sorgfältig erarbeiteten historischen Überblick, der den
Zugang zum Problem erleichtert und Verständnis für die heute aufgebrochene
Fragestellung schafft. Die didaktisch geschickt angelegte
Darstellung überzeugt auch in den argumentierenden Abschnitten
, wobei sich der Vf. durchaus dessen bewußt ist, daß gegenwärtige
Streitpunkte einer Theorie der Religion dort entstehen,
„wo ähnlich wie in den unterschiedlichen Ansätzen eine Theorie
der Gesellschaft nach einem überzeugenden Sinnsystom gefragt
wird" (36). Es geht um die allgemeine Erfahrung, daß wissenschaftliche
Welterklärung bisher zu keiner konkreten Orientierungshilfe
in der Gesellschaft, in der sozialen Alltagswelt geführt hat. Ohne
„Rückkopplung" zur Gesellschaft ist aber der sich auftuende religiöse
Freiraum nicht positiv zu besetzen. Diese neue Situation ist
bisher theologisch und kirchlich kaum reflektiert. Hier schärft der
Vf. nicht nur die Gewissen, sondern weiß auch zu praktikabler
Interaktion Mut zu machen und Verständnis für neue Formen zu
wecken. Eine wichtige Hilfe sind auch die sorgfältig bedachten
Literaturhinweise.

Greifswald Günther Kehnscherper

Audinet, Jacques: Action, confession, raison (RSR 65, 1977 S.567
bis 578).

Bondolfi,A. et Palo, G.: Sociologie de la connaissance et methodo-

logie theologique (RSR 65, 1977 S. 545-556).
Defois, Gerard: Critiqueet parole (RSR 65,1977 S.361-386).
Ernst, Josef: Die griechische Polis - das himmlische Jerusalem -

die christliche Stadt (ThGl 67. 1977 S. 240-258).