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Ausgabe:

1979

Spalte:

298-299

Kategorie:

Systematische Theologie: Allgemeines

Autor/Hrsg.:

Verweyen, Hansjürgen

Titel/Untertitel:

Christologische Brennpunkte 1979

Rezensent:

Gerber, Uwe

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Theologische Literaturzeitung 104. Jahrgang 1979 Nr. 4

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zu einem konkreten Beschluß aus und innerhalb des apostolischen
Glaubens kommen wollen: Heil von Gott her in Christus" (205 f.). -
Oder: Die Apokalypso gilt als „ein Buch des geistigen Widerstandes
der Christen" (420).

Für die systematische Auswertung der Analyse in bestimmten
,Strukturelementen' ist wiederum der Primat der Erfahrung vor
der Reflexion wichtig. Für das Verständnis der Gnade zeigt er sich
als „neuer Lebensweg und Lebenserfüllung, als Rettung und Sündenvergebung
" (461). Demgegenüber ist es eine spätere Stufe, die
konkrete Heilserfahrung auf einen allgemeinen Grundbogriff wie
z. B. Adoption oder Geburt aus Gott zu reduzieren im Sinne einer
„grundlegenden Gnade". In biblischer Füllung und eschatologi-
scher Bestimmung erscheint hier offenbar die Unterscheidung von
,gratia habitualis' (grundlegende Gnade) und gratia actualis' (konkrete
Gabe).

Der vierte Teil hat als Thema „Gottes Ehre und das wahre, gute
und glückliche Menschsoin". Das umschließt nach der klassischen
Gnadenlehre die ,causa finalis primaria' (Ehre Gottes) und secundaria
' (die Seligkeit des Menschen). Als Motto wird Joh 10,10
„damit sie das Leben haben, und zwar in Fülle haben" vorangestellt
, eingeleitet mit der Wendung: „Gottes Ehre liegt in der
Aufrichtung der Verworfenen", was nicht ohne weiteres in den
Kontext vom guten Hirten und dem Räuber paßt. Der Sache nach
handelt es sich um eine politische Ethik, in der die „neutestament-
liche Inspiration und Orientierung" aktualisiert wird: „Heutige
Aktualisierung dieser neutestamentlichen Inspiration und Orientierung
setzt daher, außer der theologischen Analyse des Neuen
Testaments ohne Vernachlässigung seiner nicht-theologischen geschichtlichen
Vermittlung, ein kritisches Verständnis dessen voraus
, was die heutigen Menschen, an die hier und heute dieselbe
frohe Botschaft gerichtet wird, erfahren und wollen und denken.
Diese Botschaft gerät nie in ein geistiges und sozial-geschichtliches
Vakuum oder auf eine tabula rasa" (634). Für diesen Schritt gewinnt
der Begriff der „Vermittlung" und die Frage nach den „geschichtlich
vermittelten Situationen" eine tragende Bedeutung.
Das Verfahren ist als solches nicht nur eine geschichtliche Vermittlung
, sondern es enthält zugleich die Vermittlung heute vielfach
konkurrierender Methoden in der Theologie, der historischkritischen
hermeneutischon Methode und der strukturalen und
materialistischen Exegese: „Anthropologisch entsteht eine dialektische
- und nicht einspurige - Beziehung zwischen sozialen Veränderungen
und „Ideengoschichte". Dahinter steht die Einsicht,
„daß das Verhältnis zwischen ,Ideen' (in diesem Fall: den neu-
testamentlichen Auffassungen von Gnade, Heil und Erlösung) und
dem sozialpolitischen Kontext nicht einseitig, sondern dialektisch
ist" (523). Es ist dies eine Vermittlung nicht nur in die Zeit, sondern
in die politische Aktion, die als „Praxis konform dorn Reich
Gottes" bezeichnet wird: „Das rechtgläubige Bekenntnis ist nur
der Ausdruck wahrhaft christlichen Lebens als .memoria Jesu'.
Getrennt von der Praxis konform dem Reich Gottes, ist das christliche
Bekenntnis ungefährlich und von vornherein .unglaubwürdig
'. Die lebendige Gemeinde ist die einzig echte „Reliquie Jesu"
(621). Oder: „Was uns iti der Geschichte, welche uns die Kirche
von Jesus erzählt, tatsächlich zugesagt wird, ist: daß gerade in
dieser Praxis, die der Botschaft Jesu und dem Reich Gottes konform
ist, die reale Möglichkeil einer Gotteserfahrung erschlossen
wird. Dieser Praxis wurde in Jesus dem Christus eine besondere
Gegenwart Gottes zugesagt" (821).

Versucht man die Vielseitigkeit der praktischen und situations»
bezogenen Überlegungen auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen
, so kreisen sie durchweg um das Theodizeeproblem, illustriert
an leinen verschiedenen Lösungen in der Geschichte menschlichen
Denkens und Handolns. Die eigene These dos Vf. lautet dazu:
>,Christentum gibt dem Leiden keine Erklärung, es zeigt einen
Lebensweg: Leiden ist destruktiv real, hat aber nicht das letzte
Wort. Beide Aspekte will das Christentum festhalten: keinon Dualismus
, keinen Dolorismus, keine Illusionstheorien - Leiden ist
Leiden und unmenschlich -, jedoch: es ist mehr, nämlich Gott, wie
ersieh in Jesus Christus zeigt" (679). Allordings grenzt sich Schille-
beeckx ausdrücklich gegenüber Moltmann an einem Punkt ab, wo
er bei Moltmann den Eindruck hat, daß er „das Leiden in Gott
.verewigt' . . . daß man dabei Gott zuschreibt, was allein die

menschliche Unrechtsgeschichte Jesus angetan hat. Irgendwie
sucht man in Gott selbst dio Ursache, den Grund odor das Motiv
des Todes Jesu. Ich meine, daß wir damit in der Soteriologie und
der Erlösungslehre auf eine falsche Spur geraten, trotz des tiefen
und richtigen Gedankens darin, daß Gott der große Mit-Leidende
ist, besorgt um unsere Geschichte" (709 vgl. 818).

In dioser an einer Roihe von aktuellen Beispielen illustrierten
politischen Ethik schließt sich der Kreis der Überlegungen, und
die Methode samt der Analyse kommen zu ihrem Ziel. Dies ist eine
Modifikation modernor Befroiungstheologien, deren Anliegen zwar
weitgehend aufgenommen wird, doch mit dem entscheidenden
Unterschied, daß die lineare Entwicklung emanzipatorischer Prozesse
in eine Dialektik überführt wird, die nicht nur in der Leidensüberwindung
besteht, sondern auch die ständige Leidenswirklichkeit
bedenkt - dogmatisch ausgedrückt: die das endgültige Heil
des Reiches Gottes immer noch als Tat Gottes erwartet. Die Vermittlungen
bleiben im Vorläufigen; sie betreffen ein „performati-
ves Sprechen", das „zu verwirklichender Praxis aufruft" (803); sie
bleiben damit angewiesen auf das, was Vf. als „vermittelte Unmittelbarkeit
" bezeichnet (797) im Gebet und das „nicht mehr zu
vermittelnde", der Glaube an Jesus Christus (804f.). Der Gottesdienst
hat daher seine heilsgeschichtliche Funktion genau in der
Erfahrung dieser Spannung von Verheißung und Erfüllung/Vollendung
, die letztlich niemals durch das Handeln vermittelt wird,
wo gleichwohl das Handeln vermittelnd wirkt: ..Solange es noch
wirkliche Leidensgeschichte unter uns gibt, können wir die sakramentale
Liturgie nicht entbehren; sie abschaffen oder sie vernachlässigen
würde bedeuten, dio feste Hoffnung auf universalen Frieden
und allgemeine Versöhnung verstummen zu lassen. Denn solange
Heil und Friede noch keine faktische Wirklichkeit lind, mufl
die Hoffnung darauf bezeugt und vor allem genährt und lobendig
erhalten werden, was nur in antizipierenden Symbolen möglich ist.
Gerade deshalb steht die christl iche Liturgie im Zeichen der großen
Symbole des Todes und der Auferstehung Jesu. Das Kreuz ist
darin das Symbol des bis zum Tode durchgehaltenen Widerstandes
gegen die Entfremdung unserer menschlichen Leidensgeschichte.
Konsequenz der Botschaft Von einem auf Menschlichkeitbedachten
Gott; die Auferstehung Jesu macht uns deutlich, daß Leiden nicht
das allerletzte Wort haben darf und wird. Die sakramentale Praxis
ruft den Christen daher zu befreiendem Handeln in unserer Welt
auf" (819).

DasFormular für eine Eucharistiefeier (die als .berakha' bezeichnet
wird), mit dem das Buch schließt, soll zeigen, wie dies zu geschehen
hat. Denn nicht zuletzt sind die beiden Bücher von Sohille-
beeckx theologische Anleitung zu gottesdienstlicher Praxis im weiteren
Sinne. So taucht gleich am Anfang des homiletischen Prologs
dio bezeichnende Frage und Aufgabe auf, „ob wir Christen, gleich
aus welcher christlichen Gemeinde, noch fähig sind, unsere christliche
Hoffnung den Menschen glaubwürdig anschaulich zu machen "
(824). So stellt sich für ihn die Frage nach der „christlichen Identität
". Alle Stücke dieser gottesdienstlichen Feier sind nach ihrem
Inhalt darauf ausgerichtet, das Schlüsselerlebnis der Begegnung
mit Jesus in die neue Lebenspraxis des christlichen Glaubens zu
vermitteln.

Eindrucksvoll sind die Elemente der Anamnese und der Para-
klese in diesen Texten; schlagartig wird aber auch die Grenze des
Ansatzes deutlich, sobald man sieht, daß in der vorgelegten Nen-
formulierung des Credo die Erwartung der Wiederkunft Christi
zum Gericht über Lobende und Tote völlig ausgefallen ist. Diese
Grenze ist bezeichnend nicht nur für den hier vorliegenden Ansatz,
sondern wohl auch für den Problemdruck unserer heutigen Theologie
.

Heidelberg lleiuhard Slenczkn

Verweyen, Hansjürgen: Christologische Brennpunkte. Joseph Ratzinger
zum 50.Geburtstag. Essen: Ludgerus Verlag [19771.
140 S. 8n tm Christliche Strukturen in der modernen Welt, 20.

Die These dieses Traktates läßt sich in zwei Sätzen vorstellen:
I. „daß am Kreuz Jesu die Macht Gottes sich am äußersten nicht
nur innertrinitarisch bewährt, sondern auch dem Glauben offen-