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Ausgabe:

1979

Spalte:

294-298

Kategorie:

Systematische Theologie: Allgemeines

Autor/Hrsg.:

Schillebeeckx, Edward

Titel/Untertitel:

Christus und die Christen 1979

Rezensent:

Slenczka, Reinhard

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Theologische Literaturzeitung 104. Jahrgang 1979 Nr. 4

294

Ein Höhepunkt des Buches ist die Darstellung des theologischen
und kirchenpolitischen Weges des Patriarchen Tichon (1917-1925)
anhand einer sorgfältigen, die Spannungen nicht verdeckenden
Einzelinterpretation der wichtigsten Texte (222-240). Es ist der
Weg von der Konzeption und Wirklichkeit einer herrschenden
Staatskirche zur Freiwilligkeitskirehe ohne den Status einer juristischen
Person. Das gottesdienstliche Leben der Gemeinde bleibt
unangetastet, sofern eine Gruppe von Gläubigen (die spätere
Zwanzigerschaft) dies wünscht und staatlichen Behörden gegenüber
vertritt. Damit kann die Kirche - ungeachtet aller äußeren
Wandlungen - ihrem Auftrag zu Lob, Verkündigung und Nachfolge
treu bleiben. Dies ist die geistliche Erkenntnis und Wogweisung
des Patriarchen Tichon. Sie bedeutet kirchenpolitisch die
klare Absage an die zaristische Vergangenheit und die Orientierung
auf die staatliche Wirklichkeit der Sowjetunion. Für diesen Weg
hatten andere Kirchen oft viele Jahrzehnte, ja Jahrhunderte Zeit.
Kein einsichtiger Theologe oder Historiker wird sich dessen verwundern
, daß es auf diesem kurzen Weg der ROK zu Zerreißproben
kommen mußte.

Das Ergebnis des dramatischen geistlichen Ringens ist die gewiß
authentische Grundaussage des Testaments dos Patriarchen Tichon
(7. April 1925): „Indem wir auf alle Oberhirten, Hirten und
die uns treuen Kinder den Segen Gottes herabrufen, bitten wir
euch, mit ruhigem Gewissen und ohne Furcht, dadurch gegen unseren
heiligen Glauben zu vorstoßen, euch der Sowjetmacht unterzuordnen
, und zwar nicht aus Furcht, sondern um des Gewissens
willen, eingedenk der Worte des Apostels: .Jeder Mann sei Untertan
der Obrigkeit, die Gewalt über ihn hat. Denn es ist keine
Obrigkeit ohne von Gott; wo aber Obrigkeit ist, die ist von Gott
verordnet (Rom. 13,1)"' (240).

Der Grundorkenntnis Tichons ist die ROK über die Erklärung
des Patriarchatsvenvesers Sergij vom 29. Juni 1927 bis in die Gegenwart
hinein gefolgt (244).

Die Einzelheiten des Staat-Kirohe-Verhältnisses wurden in der
Verordnung des Allrussischen Zentralexekutivkomitees und des
Rates der Volkskommissare der RSFSR vom 8. April 1929 „Uber
religiöse Vereinigungen" geregelt (248). Sie wurde am 1. Jan. 1932
geringfügig verändert und am 23. Juni 1975 präzisiert (268). Diese
Verordnung garantierte das gottesdienstliche Leben, das Herzstück
der ROK. Dies Herz hat in den bewegten zwanziger wie in
den schwierigen dreißiger Jahren ungebrochen geschlagen.

Zu den Grundtexten der verschiedenen Verfassungen der Sowjetunion
(221, 249, 251) fügen wir hier den Artikel 52 der Verfassung
vom 7.Oktober 1977 hinzu: „Den Bürgern der UdSSR wird Gewissensfreiheit
garantiert, d. h. das Recht, sich zu einer beliebigen
oder keiner Religion zu bekennen, religiöse Kulthandlungen auszuüben
oder atheistische Propaganda zu betreiben. Das Schüren
von Feindschaft und Haß im Zusammenhang mit religiösen Bekenntnissen
ist verboten. In der UdSSR sind die Kirche vom
Staat, die Schule von der Kirche getrennt."

Das Friedenswirken der ROK (295-300) wird von der sowjetischen
Gesellschaft besonders geschätzt. Sichtbarstes Zeichen dafür
war die Weltkonferonz der religiösen Friedenskräfte in Moskau im
Juni 1977.

Offensichtlich unter dem Druck des mit dem Verlag ausgehandelten
Umfangs des Buches ist der Abschnitt über die bilateralen
und ökumenischen Beziehungen der ROK (280-295) zusammengedrängt
worden. Man kann dem Vf. nur wünschen, daß er Gelegenheit
zu ausführlicherer Darstellung erhält. Trotz der Beschränkungen
zeigt der Abschnitt eindrücklich, daß Moskau schon
heute zu den Zentren der Welte hristenheit gehört.

Für den ovangelischen Leser möchten wir vermerken, daß der
Dialog mit der ROK zu bemerkenswerten Ergebnissen führt«. So
konnten die Teilnehmer an Arnoldshain III (EKD-ROK 1907,
Thesen 1) formulieren: „Von der Evangelischen Kirche wird die
Orthodoxe Kirche (also auch die ROK, G.S.) als Kirche Jesu
Christi anerkannt". Die beiden Kirchen haben sich gegenseitig die
Taufe anerkannt und zwar unabhängig von der Art der Verwendung
des Wassers (Arnoldshain IV, Thesen II, Studienheft 5, hrsg.

Außonamt der EKD, S.21; Studienheft 6, S.27f.). Die autorisierten
Vortreter der ROK und des Bundes der Evangelischen
Kirchen in der Deutschen Demokratischen Republik haben in

SagorskI, 1974, gemeinsam unterzeichnet: „Die Verkündigung
des Evangeliums an alle Kreatur (Mark. 16,16) ist der Kirche vou
ihrem Herrn für alle Zeiten aufgetragen. Sie ist Fortsetzung des
Wirkens seiner Apostel. Der bleibende Inhalt der Verkündigung
ist der für uns gekreuzigte, auferstandene und erhöhte Herr Jesus
Christus (1.Kor 1,23; l.Kor 15,20; Mark. 16,19)." (ZdZ 1/75, S.26)

Auch das Literaturverzeichnis ist sehr gedrängt. Wir empfehlen
deutschsprachige Literatur, zumal Arbeiten und Publikationen aus
der DDR, stärker zu berücksichtigen. Wir nennen z.B.:

Graßhoff,H„ K.Müller u. G.Sturm, O Bojan, du Nachtigall der
alten Zeit. Sieben Jahrhunderte altrussischer Literatur, Berlin
1965.

Herberstein, Siegmund von, Moskowia, Weimar 1975.
Olearius, Adam, Moskowitische und Persische Reise, Berlin
1959.

Onasch,K. u. D.Freydank. Altrussische Heiligenleben, Berlin
1977 (nachträglich erschienen).

Schulz, G., Die theologiegeschichtliche Stellung dos Starzen Ar-
temij innerhalb der Bewegung der Besitzlosen im Rußland der
ersten Hälfte des 16. Jh., Theol. Diss., Greifswald 1970 (Masch.).

Durch geschickte Verbindung der Hauptthemen in den einzelnen
Zeitabschnitten, den ständigen Bezug auf die Profangeschichte, die
Rezeption der Ergebnisse der Profanwissenschaften, speziell der
sowjetischen Historiographie und Literaturwissenschaft, vermittelt
Döpmann ein eigenständiges, interessantes Bild von der Breite
und Fülle kirchlichen Lebens und christlicher Tradition in Rußland
und in der Sowjetunion. Gewiß aus diesem Grund ist das
Buch in der Deutschen Demokratischen Republik wie der Bundesrepublik
Deutschland nach kurzer Zeit fast vergriffen.

Eine begrüßenswerte Neuauflage gewönne durch ein Sachregister
neben dem Personenregister, durch ein ausführlicheres
ökumenokapitel und Literaturverzeichnis. Der ökumenisch wie
kirchengeschichtlich gleich wichtigen Publikation Döpmanns
wünsche ich viele und aufmerksame Leser.

Errata:

S.73 Domostroi statt Domostro

3.158, Z.9 sollte vor „Kathollken" eingeschoben werden: „ebenso gegenüber"
S. 177, V. Solov'ev veröffentlichte seine Magisterdissertation nicht 1784, sondern
1874.

S.288 Johannes XXIII., 1958-1063.
Naumburg/Schafstädt Günther Schulz

Systematische Theologie: Allgemeines

Schillebeeckx, Edward: Christus und die Christen. Die Geschichte
einerneuen Lebenspraxis, übers, v. H.Zulauf. Freiburg - Basel -
Wien: Herder [1977]. IV, 895 S. gr. 8°.

In dem nur zwei Jahre zuvor erschienenen Buch „Jesus. Die
Geschichte von einem Lebenden" (vgl. ThLZ 103, 1978 Sp.423 bis
426), das als Prolegomenon dienen sollte, war die Weiterführung
bereits angekündigt worden. Sie sollte oine Re flexion sein auf das,
„was .Gnade' ist, d.h. eine Darlegung, in welcher in einem heutigen
Verstehens- und Handlungshorizont das Problem der Erlösung
und Emanzipation - das heutige Problem unserer Befreiungsgeschichte
- zur Sprache kommen müßte" (Jesus, 594). Dies liegt
nun vor, und die Fortsetzung übertrifft das erste Buch um gut
200 Seiten, imponierend nicht nur im Umfang, sondern wiederum
in der Fülle des herangezogenen Materials.

Verbindung und Unterscheidung machen die Absicht des Folgebands
deutlich: Das erste Buch handelte von „Jesus" und dem aus
der Begegnung mit ihm erwachsenen .Schlüsselerlebnis', wie es
sich in der Evangolienüberlieforung niedergeschlagen und von dort
geschichtlich fortgesetzt hat. Unter dem Grundgedanken „erkannt
als Mensch - bekannt als Gott" ging es um das Werden des christlichen
Glaubons. Das zweite Buch handelt nun von „Christus" und
dem Glauben der Christen. Es zielt auf die „neue Lebenspraxis",
die unter der Reich-Gottes-Verkündigung von Gerechtigkeit und
Liebe bestimmt ist. So wird historisch und systematisch im Übergang
vom ersten zum zweiten Buch ein Schritt von der „Jesus-
Bewegung" zur „Christus-Bewegung" vollzogen (58). Während