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Ausgabe:

1979

Spalte:

214-215

Kategorie:

Ökumenik, Konfessionskunde

Titel/Untertitel:

Die Evangelisch-Lutherische Kirche 1979

Rezensent:

Nagy, Gyula

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Theologische Literaturzeitung 104. Jahrgang 1979 Nr. 3

214

kritische Anfragen zu stellen. Diese drei Sachthemen sind:
„das Problem der Christologie, dessen klassisch-dogmatische
Lösung eng mit der Entwicklung der östlichen Kirchen zur
Orthodoxie verknüpft ist", „das Sakrament, dessen beherrschende
Stellung für H. die Ausbildung der westlichen Kirche
zum römischen Katholizismus bestimmt" und „das rechte
Weltverhältnis christlicher Kirche heute ...: die Verwirklichung
des Christentums in der modernen Welt unter protestantischem
Vorzeichen" (275).

Für das ausführliche Verzeichnis derjenigen Literatur, die
sich mit H. und seinem Werk beschäftigt, am Schluß des
Buches, muß man dem Autor einen Extra-Dank sagen. Sehr
erhellend ist, was Vf. über das Verhältnis von H. zu Ritsehl
beisteuert (43ff).

Während der Rcz. sowohl mit dem Ansatz bei der Ekklesio-
logie als auch mit der Gesamtausrichtung der Harnack-Dar-
stellung im vorliegenden Buch übereinstimmt, sieht er die
Hauptschwäche der Darstellung in den Abschnitten, die sich
mit dem Weltverhältnis H.s beschäftigen; denn hier versäumt
es N., nach den gesellschaftlichen Hintergründen und H.s politischer
Position in den konkreten Tagesproblemen zu fragen
bzw. seine theologischen Reflexionen in Relation dazu zu setzen
. Aufgrund dieses Versäumnisses bleiben N.s Ausführungen
hier vage und wenig hilfreich, was um so bedauerlicher ist,
da N. sich nach eigener Aussage gerade deshalb mit H.s theologischem
Werk beschäftigt, „um letztlich zu einem Beitrag für
die Lösung der allgemein ekklesiologischen Aufgabe zu gelangen
, d. h. ein Stück Fundamental-Ekklesiologie zu entwik-
keln" (30). Nun gehört aber das Weltverhältnis zu den brennendsten
Problemen unserer heutigen Theologie bzw. Ekklesio-
logie, und im kritischen Gespräch mit H. wäre hier mehr zu
gewinnen, als es dem Vf. gelingt. Ein typisches Beispiel dafür
ist das kommentarlose Zitat auf S. 262, demzufolge nach dem
1. Weltkriege alles untergegangen „und die volle Barbarei an
die Stelle getreten" wäre, „wäre nicht das Evangelium und
die Kirche gewesen". Sie allein hätten gerettet und erhalten
und überführt, was zu retten war, und die neue Zeit gebaut.

Genau an dieser Stelle müßte die Ambivalenz des Begriffes
„Barbarei", das Schillernde in der Aussage anhand der historischen
Hintergrundfakten verdeutlicht werden: Was ist hier
mit „Barbarei" gemeint? Was wurde hier von der Kirche gerettet
, erhalten und überführt? Doch N.s Abstinenz gegenüber
einer politischen Wertung dieses Harnack-Urteils führt hier,
wie insgesamt in den Ausführungen über das Harnack'sche
Weltverhältnis, nicht zu derartigen Anfragen. So erscheint es
auch nicht als Zufall, daß N. (mit H.), auf der Suche nach dem
„tertium genus ecclesiae", in fatale Nachbarschaft mit der politischen
Position eines „Dritten Weges" gelangt. N. beschreibt
die Rolle des Christentums in der Welt (nach H., wobei man
den Eindruck gewinnen muß, dafj sich der Autor dabei mit H.
identifiziert) „als jene universale Macht..., die alle innerweltlichen
Antagonismen überwindet", so, daß „das Christentum
über jeden Interessengegensatz hinaus Menschen geistig
einigen und zusammenschließen kann. Gegenüber Parteien,
Gruppen oder Klassen erweist sich Kirche als das .tertium',
das die berechtigten Erwartungen auf den verschiedenen Seiten
gelten läßt und zugleich die Kraft besitzt, die daraus
resultierenden Antagonismen in einer neuen übergreifenden
Gestalt aufzuheben." (345) „Das Christliche darf sich nicht
länger in die Niederungen weltlicher Antagonismen herabziehen
lassen, wo es unfähig ist für die ihm eigenen Aufgaben.
Im Gedanken des .tertium genus ecclesiae' ist der Vorwurf an
alle christlichen Kirchen ausgesprochen, das Evangelium verraten
zu haben. . . Wenn der Glaube versagt, ... dann verliert
sich das christliche Selbstbewußtsein gegenüber der Welt, für
die Menschheit Grundlage ihres höheren Lebens zu sein." (346)

Genau hier müßte das Gespräch ansetzen: In welchem Verhältnis
stehen die beiden Erkenntnisse zueinander, daß das
Evangelium nie und an keiner Stelle mit irgendeiner Weltanschauung
identifiziert werden kann und darf, daß aber
andererseits die Glieder der Kirche Jesu Christi in der Nachfolge
des Herrn stehen, der sich erniedrigte bis zum Tode am
Kreuz? Stieg er nicht selber in die Niederungen weltlicher

Antagonismen? Hat ihn das unfähig gemacht für die eigenen
Aufgaben? Welchen Weg haben die ihm folgenden Jünger zu
gehen?

Diese kritischen Rückfragen sollen nicht Beckmesserei, vielmehr
Beleg dafür sein, daß mit der N.schen Untersuchung ein
theologisch anregendes Buch vorliegt, daß dem weiteren Nachdenken
sowohl über einen der bedeutendsten Theologen seiner
Zeit als auch über die Ekklcsiologie sehr nützlich ist.

Berlin Carl-Jürgen Kaltenborn

Kirchen- und Konfessionskunde

Vajta, Vilmos [Hrsg.]: Die evangelisch-lutherische Kirche. Vergangenheit
und Gegenwart. Stuttgart: Evang. Verlagswerk
[1977]. 443 S. 8" = Die Kirchen der Welt, XV. Lw. DM 47.50.

Eine Selbstdarstellung der weltweiten evangelisch-lutherischen
Kirche — ihrer theologischen Basis, Geschichte und
Gegenwart — durch bekannte Theologen und Kirchenleiter aus
aller Welt: das ist kurz zusammengefaßt der Inhalt des neuen
Bandes aus der bekannten Reihe „Kirchen der Welt".

Es ist keine leichte Aufgabe, welche die Herausgeber dieses
Bandes sich vorgenommen haben. Je größer und traditionsreicher
nämlich die darzustellende Kirche ist, desto schwieriger
ist die Frage, wie dies geschehen sollte. Den Plan für dieses
Werk hat der Forschungsstab des Institus des Lutherischen
Weltbundes für Ökumenische Forschung in Strasbourg-Frankreich
— unter der Leitung vom Forschungsprofessor Dr. Vilmos
Vajta — ausgearbeitet. Diesem Plan folgend behandelt
der Band sein Thema in drei Teilen, die sich nicht nur inhaltlich
, sondern auch in der Methode der Bearbeitung ihres Gegenstandes
voneinander unterscheiden.

Im ersten Teil findet man eine mehr historisch-theologische
Untersuchung über die Anfänge lutherischer Reformation im
16. Jh. B. Lohse analysiert zuerst die Hauptgründe der Entstehung
der deutschen Reformationsbewegung und würdigt
dabei Luthers theologischen Neuansatz und geschichtliche
Rolle. F. W. Kantzenbach beschreibt „die kirchenbildende
Kraft der deutschen Reformation'' von 1530 bis 1648 und zeigt
auf, wie und weshalb aus der Reformationsbewegung eine
lutherische Kirche als Institution entstand. C. G. Andren und
W. Dantine wenden sich dann zwei besonderen Typen der
lutherischen Reformation in Europa zu. Andren verfolgt in
seiner Darstellung der Reformation der skandinavischen Länder
eine historisch-beschreibende Methode, wobei aber einige
Länder dieses Raumes (Norwegen, Finnland) zu kurz kommen
. Dantine schreibt über die Reformation im osteuropäischen
Raum mehr interpretierend, indem er das geschichtliche
Selbstverständnis dieser Kirchen untersucht und dabei
besonders die Folgen ihrer Minderheitssituation in den Vordergrund
stellt.

Im zweiten und umfangreichsten Teil untersuchen Theologen
vor allem aus dem europäischen Raum einerseits die
dynamische, sich in ständig wechselnden geschichtlichen Formen
verwirklichende Identität der evangelisch-lutherischen
Kirche, andererseits aber auch ihre mehr oder weniger hervortretende
ökumenische Ausrichtung durch die Jahrhunderte
der Neuzeit. Die Hauptthemen — und somit auch die „Testfälle
" dieser Untersuchung — sind: das reformatorischc
Schriftprinzip und die geschichtliche Entwicklung seines Verständnisses
(I. Lönning), die Entwicklung der Bedeutung und
der Interpretation der Bekenntnisse (H. Zeddies), Verkündigung
, Sakrament und Gottesdienst (V. Vajta), geschichtliche
Typen lutherischer Frömmigkeit (A. Aarflot), kirchliches Amt
und Entwicklung der lutherischen Kirchenordnung (G. Gaßmann
), die sozialistische Dimension des Glaubens, besonders
in der Lehre vom Beruf und in den Wandlungen der Zwei-
Reiche-Lehre (F. Sherman), die Mission als Auftrag der Kirche
(J. Aagaard) und die Frage der Vereinbarkeit konfessioneller