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Ausgabe:

1979

Spalte:

212-214

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Neufeld, Karl H.

Titel/Untertitel:

Adolf von Harnack 1979

Rezensent:

Kaltenborn, Carl-Jürgen

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Theologische Literaturzeitung 104. Jahrgang 1979 Nr. 3

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Vorstellungen. Von dieser Tatsache ausgehend, setzt B. in
Erörterung der Dogmenhermeneutik grundsätzlich an: „Im
Fall der Maria haben wir gesehen, wie sich die anthropologischen
Theorien zur Doktrin verkörpert haben, aber implizit
von der früheren Mariologie angenommen, sind sie
schließlich in den Dogmen von 1854 und 1950 aufgegangen.
Das aktuelle Problem der Dogmeninterpretation erhebt sich
durch die Tatsache, daß die dogmatischen Definitionen auf
Voraussetzungen gegründet sind, die ihnen nicht so gemäß
wie dem Bewußtsein vergangener Zeiten sind. Diese Problematik
trifft nicht nur die Formulierung der Dogmen, sondern
auch ihren Inhalt." (117) Nachweise dafür gab B. mit Vergleichen
und Analysen der beiden mariozentrischen Dogmen
1854/1950 mit den Aussagen der vorhergehenden Texte. In
dem Maß, in dem die zeitgenössische Theologie zu einer
„biblischen Anthropologie zurückzukehren" bemüht ist, haben
die traditionellen Lehren „tatsächlich viel von ihrem Einfluß
verloren". „Weil sie von veralteten Theorien abhängen,
sind die dogmatischen Definitionen von 1854 und 1950 buchstäblich
unverständlich geworden. Eine unbefleckte Empfängnis
oder eine Aufnahme von Leib und Seele (assumptio) sind
bedeutungsleer." (ebd.) B. zeigt, wie die scholastischen Autoren
in christozentrischer Perspektive bleiben, aber die „Maxi-
malisten" unserer Zeit bei zweifellos guter Absicht, über
Maria den Weg zu Christus zu bahnen, doch mariozentrisch
werden. „Die traditionellen Vorrechte Christi, seine übernatürliche
Empfängnis und seine Himmelfahrt, werden durch die
Vorrechte der immaculata coneeptio und der assumptio in
einem gewissen Grade auf Maria übertragen. Und in diesem
Sinne kann von der Doktrin als mariozentrisch gesprochen
werden; sie verdient durch eine gewisse Mittlerstellung, die
sie Maria zwischen Christus und der übrigen Menschheit
einräumt, Aufmerksamkeit." (118)

Freilich stimmt B. der vollständigen Erneuerung zu, in der
die katholische Theologie gegenwärtig begriffen ist. Sie
zeigt auch, daß die christozentrische und ekklesiologisch-
eschatologische Perspektive etwa in „Lumen gentium", promulgiert
am 21. Nov. 1964, das Dogma von der Assumptio
Mariae (1950) bereits im nicht-mariozentrischen Sinne zu
interpretieren vermag. Mit dem Dogma von 1854, das im
Gegensatz zu dem von 1950, nicht so interpretierbar sei, weil
es „in sehr klarer Weise seine Absicht" präzisiert, „ein exklusives
Vorrecht zu formulieren, das Maria auf einen ganz
besonderen Platz in der Heilsökonomie stellt" (119), setzt sie
sich nicht weiter auseinander. Sie gibt aber der „minimali-
stischen" Bewegung der Gegenwart die Chance, im Dogma
von 1854 noch einen „Ansporn zu einem neuen Verständnis
des Mechanismus der dogmatischen Entwicklung" zu gewinnen
. Hiermit wird das ganze Problem der Tradition aufgerollt
, in der — wie z. B. 1854 beweise — das „blinde Umhertappen
der menschlichen Vernunft" zu unvermeidlichen
Unsicherheiten führe. „Die Gefahr eines doktrinalen Triumphalismus
" könne also „vermieden werden durch eine nuan-
ciertere Interpretation der Rolle der Tradition in der Geschichte
der Dogmen" (ebd.).

Diese Erwartung des Schlußsatzes der Studie, die übrigens
absolut zuverlässig gearbeitet und mit Noten und Indices
versehen ist (120—143), deutet (ähnlich wie bei Hans Küng)
auf unumgängliche Klärungen im Verständnis des Dogmas von
der Irrtumslosigkeit bei Ex-Cathedra-Verkündigungen. Ob es
dafür Wege und Interpretationen gibt? Oder bleibt zwischen
Apostelzeugnis und heutiger Dogmatisierung von Glaubenssätzen
eine unüberwindliche Schranke?!

Was die sachliche Leistung und die bewundernswürdige
Akribie und der Scharfsinn früherer Theologen zustandegebracht
hat, muß wohl in Perioden des Wandels anthropologisch
-physiologischer Kenntnisse nicht ungeklärt weitergeschleppt
werden. Zu Hoffnungen, daß die hier vorgelegte
Klärung einen Wandel auf dem Wege der Erneuerung von
Theologie und kirchlicher Interpretation allgemeiner macht
und verstärkt, berechtigt manches.

Jena Horst Beintker

Neufeld, Karl H.: Adolf von Harnack. Theologie als Suche
nach der Kirche „Tertium Genus Ecclesiac". Paderborn: Verlag
Bonifacius-Druckerei [1977). 369 S. gr. 8° = Konfessions-
kundliche und kontroverstheologische Studien, XLI. Lw.
DM 42.-.

Die vorliegende Arbeit wurde im Frühjahr 1975 am Institut
Catholique de Paris als Dissertation angenommen. Für den
Druck mußte die ursprüngliche Fassung beträchtlich gekürzt
werden. Die noch nicht veröffentlichten Teile sollen später
publiziert werden. Es handelt sich dabei um eine Hintergrundstudie
, die den fünf berühmten „Fällen" Harnacks (dessen
Auseinandersetzung mit seinem Vater und den theologischen
Lehrern in Dorpat, seine umstrittene Berufung nach
Berlin, den Apostolikumsstreit, die Auseinandersetzung um
das „Wesen des Christentums" und die Diskussion mit Rudolf
Sohm über „Wesen und Ursprung des Katholizismus") als dessen
„persönlicher Kirchengeschichte" nachgeht.

„Das Zentralmotiv Harnack'schen Theologisierens" sieht N.
— in völliger Übereinstimmung mit dem Rez. (vgl. ThLZ 101,
1976 Sp. 900!) — „in einer positiv kontroverstheologischen
Ekklesiologie mit Stoßrichtung nach innen, d. h. auf den Protestantismus
im Interesse einer kirchlichen Neugestaltung."
(79) „Die ekklesiologische Frage erschließt die Harnack'schc
Theologie als jene Mitte, von der her die unglaubliche Vielseitigkeit
des Berliner Professors in ihrem tieferen Zusammenhang
gedeutet werden kann." (272)

Den Buchtitel hat Vf. der „Entstehung und Entwicklung der
Kirchenverfassung und des Kirchenrechts..." entnommen,
wonach die Völker „auf ein tertium genus ecclesiac als Grundlage
ihres höheren Lebens" warten. N. sieht in der Frage nach
diesem „tertium genus ecclesiae" das Anliegen Harnacks
prägnant wiedergegeben (23). Der Gedanke des künftigen
„tertium genus ecclesiae" bezeichnet nach N. den Abschied
H.s „von existierenden Kirchen in der Hinwendung zu einer
kirchlichen Form, die in der modernen Welt wirklich die Aufgabe
des Christentums erfüllen konnte" (ebd. Anm. 19).

Die gesamte Arbeit versteht sich „als begründete Frage an
das Harnack'sche Werk im Rahmen heutiger theologischer
Diskussion" (354). Andererseits sieht der Autor am Ende selber
, daß seine Untersuchung „auf weite Strecken hin eher
einer Verteidigung Harnacks ähnlich" sieht, „als einem kühl
analysierenden Pro und Contra von ,neutraler' (?) Warte"
(was allerdings nicht die Alternative sein muß, da auch ein
zwar nicht kühl, wohl aber klar analysierendes Pro und
Contra zugleich parteilich und engagiert geschehen kann.)
(358f) Letzteres vermißt man ein wenig an der vorliegenden
Untersuchung. Darin liegt andererseits ein Vorzug des
Buches; denn N. beschränkt sich im wesentlichen darauf, H.
zu Wort kommen zu lassen, dessen Hauptanliegen und Grundgedanken
zu verstehen bzw. zu interpretieren, so daß sein
Buch nicht so sehr ein Gespräch mit dem Berliner Kirchenhistoriker
ist, als vielmehr — wie N. am Schluß sagt (359) —
die „Vorbereitung der Diskussion mit diesem Theologen", aber
wirklich: mit diesem Theologen. Auch dies ist nämlich
ein Vorzug der Arbeit N.s: Er nimmt H. als Theologen ernst
und macht es sich damit nicht leicht.

Nach einer Einleitung, in der u. a. Rechenschaft über Arbeitsmethode
und Materialgrundlage der Untersuchung gegeben
wird, gliedert sich die Untersuchung in drei Hauptteile. Der
erste Teil beschäftigt sich mit H.s Kirchenkritik. Dabei stützt
sich Vf. zur Hauptsache auf das Lehrbuch der Dogmengeschichte
. Bei der Darstellung des positiven Kirchenverständnisses
H.s (im zweiten Teil) legt N. im wesentlichen „Die
Mission und Ausbreitung des Christentums. .." sowie die „Entstehung
und Entwicklung der Kirchenverfassung und des
Kirchenrechts.. ." zugrunde. Der dritte Teil stellt unterschiedliche
Diskussionsansätze mit H. vor: die Polemik des katholischen
Apologeten H. Dieckmann, des Würzburger Apologeten
H. Schells Versuch, H. zu verstehen, sowie die Kontroverse
zwischen Barth und H. Danach erst versucht N. auf die
drei für die kirchliche Gestaltung des Christentums wichtigsten
Sachthemen (im Sinne H.s) einzugehen und ein paar