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Ausgabe:

1978

Spalte:

144-147

Kategorie:

Systematische Theologie: Allgemeines

Autor/Hrsg.:

Brantschen, Johannes B.

Titel/Untertitel:

Zeit zu verstehen 1978

Rezensent:

Harnisch, Wolfgang

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Theologische Literaturzeitung 103. Jahrgang 1978 Nr. 2

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Exegetische und religionsgeschichtliche Befunde bestätigen
jedoch Louis Derousseaux zufolge („L'Ancien Testament
", S. 5—25), daß es in alttestamentlicher Zeit trotz der
allgemeinen Verderbnis ein Wissen um freie sittliche Verantwortung
vor Gott gegeben habe („... les sages et les
prophetes n'ont jamais cesse d'affirmer la liberte et la res-
ponsabilite de l'homme devant Dieu". S. 25). Im nächsten
Kapitel („La veritable solidarite humaine selon Romains,
5,12—21", S. 26-33) wird von Rene Jacob die Linie Adam-
Christus und in Auseinandersetzung mit neueren theologischen
Auffassungen die Einheit einer durch Adams Sünde
verdorbenen, durch Christus aber wieder restituierten
Menschheit hervorgehoben. Gegen Schoonenbergs Erbsündentheologie
wendet der Vf. ein, daß in ihr die Sünde
Adams gleichsam nur als erstes Glied in einer Kette aufeinanderfolgender
Taten, die das ständige Situiertsein des
Menschen in Sünde bedingen, erscheine.

Jacques Liebart („La tradition patristique jusqu'au V«5
siecle", S. 34—55) bemüht sich um den Nachweis, daß die
patristische Theologie der ersten fünf Jahrhunderte in der
Abwehr von Manichäismus und Determinismus an der personlichen
Verantwortung festgehalten und gleichzeitig die
Solidarität der Menschheit in Adam und Christus betont
habe. In „Le mal originel dans la tradition chretienne occi-
dentale de saint Augustin ä saint Thomas" (S. 56—68) verweist
Paul Guilluy auf den sozialen Aspekt der Sünde in
Augustins „Gottesstaat" sowie auf die ontologisch schwierig
zu deutende Solidarität „dans le mal" (S. 68) bei Thomas.

Francis Frost behandelt das Tridentiner Konzil unter
Darlegung kontroverstheologischer Gesichtspunkte (Taufe
und Erbsünde; Konkupiszenz) in „Le concile de Trente et
le peche originel: Les canons et leur elaboration" (S. 69—79).
Die Erörterungen über das protestantische Erbsündenverständnis
werden vom gleichen Verfasser in „Le concile de
Trente et la doctrine protestante" (S. 80—105) fortgeführt.
Vf. wirft der Confessio Augustana die Verlagerung der Privation
der Gnade auf die empirische Bewußtseinsebene vor.
Der sündige Mensch erfahre seinen Zustand als Abwesenheit
von Gottesfurcht und Gottvertrauen (CA II). Diesen
Fehler versuche Melanchthon in der Apologie zu korrigieren
, indem er an die Stelle des Bewußtseins die „Natur"
des Menschen setze. Das Konzil betone dagegen (und nach
dem Vf. zu Recht) die außerhalb des Bewußtseins liegende
Dimension der Erbsünde („la dimension proprement supra-
consciente du peche originel", — S. 88). Da von Frost wie
auch von anderen Autoren — anscheinend um die „Natur"
im Hinblick auf die Erbsünde zu entlasten — weithin auf
die Sündigkeit der sozialen Strukturen rekurriert wird,
müßte sich u. E. doch die (hier aber so nicht gestellte) Frage
anbieten, ob der sündige Zustand der Menschheit dann nicht
durch Veränderung dieser Strukturen überwindbar und damit
schließlich auch das peccatum originale zu negieren
wäre.

Uber die Auffassung des Bösen bei Rousseau, Kant und
Hegel informiert in einem kurzen Abriß Raymond Vancourt
(„Le peche originel Selon Rousseau, Kant et Hegel", S. 106
bis 129). Der Vf. arbeitet in seinem Beitrag heraus, daß die
rationalistischen Anschauungen des 18. und 19. Jahrhunderts
in der Beurteilung des Bösen jeweils entscheidend
abhängig von der Bewertung geschichtlichen menschlichen
Handelns seien und daß sie im Grundansatz das Problem
nicht gelöst hätten. Rene Thery setzt sich in „La responsa-
bilite collective" (S. 130-152) mit der Frage kollektiver
Schuld und Verantwortung auseinander und nimmt damit
die bereits in den ersten Jahren nach 1945 geführte Kollektivschulddebatte
wieder auf. Aus einer allgemeinen Tendenz
zur Eliminierung des Gedankens kollektiver Schuldhaftung
resultiere heute möglicherweise auch eine verbreitete Ver-
ständnislosigkeit gegenüber der kirchlichen Lehre von der
Erbsünde.

Den Komplex Biologie und Erbsünde („Biologie et peche
originel", S. 153—164) behandelt unter kritischem Inbetracht-
ziehen neuerer biologistischer Theorien Claude Heddebaut.

Unter Bezugnahme auf die Enzyklika Humani Generis (1950)
geht Paul Guilluy in „Sciences humaines et peche de l'hu-
manite" (S. 165—174) auf psychologische, ethnologische, soziologische
und weitere Gesichtspunkte ein. Wollte man
ihm unbedenklich folgen, müßte man eine Konvergenz von
moderner anthropologischer Forschung und biblischer Sicht
der Sünde behaupten bzw. müßte sich ein Dialog zwischen
Christen, Marxisten und Freudianern (!) zur Menschheitsschuldfrage
geradezu anbieten. Wir meinen allerdings, daß
der Vf. selbst im folgenden Kapitel („Sens moderne de la
culpabilite fondamentale", S. 175—191) eine derartige Behauptung
relativiert, indem er in theologischer Vertiefung
nachdrücklich den biblischen Gedanken einer in Schuld und
in eschatologischer Hoffnung solidarischen Menschheit vertritt
und u. E. richtig sieht, daß eine einheitliche Menschheit
„an sich" nicht existiert. Den biblischen Sinn des Erbsündendogmas
für den theologischen Laien katechetisch
aufzubereiten unternimmt Paul Guilluy in seinem Schlußkapitel
„Praesentation catechetique" (S. 192—195).
Potsdam-Babelsberg Dse Bertinetti

BranIschen, Johannes Baptist: Zeit zu verstehen. Wege und
Umwege heutiger Theologie. Zu einer Ortsbestimmung
der Theologie von Ernst Fuchs. Zürich: Theologischer
Verlag [1974]. 292 S. gr. 8°. Kart. DM 35,-.

Erst das innere Titelblatt verrät, daß die Untersuchung
dem Denken von Ernst Fuchs gewidmet ist. Die Außenaufschrift
des Buches präzisiert das vieldeutige Thema nur
durch die Angabe „Wege und Umwege heutiger Theologie".
Doch ist diese Kurzfassung des Untertitels nicht einmal irreführend
. Denn es handelt sich primär nicht um eine ausführliche
Würdigung des theologischen Werkes von E.Fuchs
(diese will der Schweizer Autor einer weiteren Veröffentlichung
vorbehalten, die unter dem Titel „Die Sprache der
Liebe" erscheinen soll). Die vorliegende Studie sucht vielmehr
zunächst die Situation ausfindig zu machen, aus der
sich der theologische Entwurf von E. Fuchs erschließt. Zu
diesem Zweck zeichnet sie die Denkwege der neueren Theologie
nach. Da finden sich Wege, die „jäh im Unbegangenen
aufhören", oder solche, die — ohne in die Irre zu führen —
von der Geraden abweichen, und schließlich andere, die
„gesondert" verlaufen, obwohl sie „im selben Wald" anzutreffen
sind1.

Damit ist bereits der dreiteilige Aufriß des Buches angedeutet
. Im l.Kp. („Holzwege") skizziert Vf. die gegenwärtige
Diskussionslage an den radikalen Positionen der Orthodoxen
und Orthopraktiker (20—46). Beide zeigen sich den
Herausforderungen der Zeit an die Theologie nicht gewachsen
; denn weder „die extreme Orthodoxie, die das Reden
von Gott unverantwortet fortsetzt, noch die extreme Ortho-
praxie, die es unverantwortet unterläßt, bringt angesichts
der heutigen Verstehensschwierigkeiten die Sache der Theologie
und des Glaubens überzeugend zur Sprache" (45).

Auf der Suche nach einer Vermittlung der Extreme gelangt
Vf. im 2. Kp. („Notwendige Umwege") zu weiterführenden
Distinktionen (47—139). Er begründet die Notwendigkeit
der theologischen Denkbemühung zunächst im Blick
auf den Prozeß der Säkularisierung und dessen Entartungserscheinungen
, die sich in der Konsequenz des Säkularismus
(Grenzüberschreitung der Vernunft in Wissenschaft
und Politik) und der Säkularität (Transzendenzvergessenheit
) abzeichnen. Nach dem Urteil des Vfs. kann die Theologie
der Gefahr des Säkularismus weder durch eine einseitig
politisch noch durch eine einseitig kerygmatisch orientierte
Hermeneutik des Evangeliums begegnen. Das berechtigte
Interesse einer gesellschaftskritisch ansetzenden „Theologie
des .Barmherzigen Samariters'" (67) muß vielmehr so geltend
gemacht werden, daß gleichzeitig das Anliegen der
„Theologie des .Verlorenen Sohnes'" gewahrt bleibt, die
„sich primär um das rechte Verhältnis ... zwischen Gott