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Ausgabe:

1978

Spalte:

131-133

Kategorie:

Kirchengeschichte: Neuzeit

Autor/Hrsg.:

Flückiger, Felix

Titel/Untertitel:

Die protestantische Theologie des 19. Jahrhunderts 1978

Rezensent:

Göbell, Walter

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131

Theologische Literaturzeitung 103. Jahrgang 1978 Nr. 2

132

KIRCHENGESCHICHTE: NEUZEIT

Flückiger, Felix: Die protestantische Theologie des 19. Jahrhunderts
.

Anz, Wilhelm: Idealismus und Nachidealismus. Göttingen:
Vandenhoeck & Ruprecht [1975]. IV, 212 S. gr. 8° = Die
Kirche in ihrer Geschichte. Ein Handbuch, hrsg. von
B. Moeller, Bd. 4, Lfg. P. Kart. DM 59,-.

Die oben genannten Beiträge sind in der Anlage ganz verschieden
konzipiert. Flückiger bietet eine zusammenfassende
, aufs Ganze der protestantischen Theologie dieses
Zeitraums zielende Darstellung. Er versucht, die theologisch
relevanten Grundentscheidungen zu verdeutlichen,
indem er unter die verschiedenen Richtungen deren Vertreter
zeichnet. Anz hingegen greift in seiner Darstellung führende
Philosophen des 19. Jahrhunderts heraus, analysiert
im Rückgriff auf die für ihre spezifische Fragestellung wichtigsten
Werke deren Denkbewegungen und verweist von
dort aus auf die Einheit des Gesamtwerks.

Flückiger beginnt seine Darstellung der protestantischen
Theologie im 19. Jahrhundert nach einer knappen, aber informativen
Einleitung mit Schleiermacher, dessen theologische
Hauptaussagen er referiert und abschließend die Impulse
heraushebt, die die Theologie des 19. Jahrhunderts
von ihm empfangen hat. An diesen Einstieg schließt sich die
Darstellung der spekulativen Theologie und ihrer Vertreter
an. Sie wird in ihren beiden Zweigen erfaßt, nämlich als
Fortsetzung der Aufklärungstheologie und als durch die
Hegelsche Philosophie bedingter Neueinsatz. Die noch für
die Theologie der Gegenwart folgenreiche Richtung der
historischen Theologie zeichnet Flückiger an den Fragestellungen
und Problemlösungen — u. a. der Frage nach dem
historischen Jesus — ihrer repräsentativen Vertreter, an
F. C. Baur, A. v. Harnack, E. Troeltsch, D. F. Strauß und
B. Bauer. Der Abschnitt über die Vermittlungstheologie
bringt aus der großen Zahl der Vermittlungstheologen diejenigen
zur Sprache, die in besonders markanter Weise, auf
dem von Schleiermacher gewiesenen Weg weitergehend, wie
er, den theologischen Ansatz im christlich frommen Selbstbewußtsein
gewählt haben. Religion und Ethik in enger Verbindung
sehen, das Reich Gottes uneschatologisch als das
Reich der Sittlichkeit auffassen und das Christentum geschichtlich
verstehen. Die konservative und die konfessionelle
Theologie behandelt Flückiger zusammen in einem
Abschnitt unter ausdrücklicher Betonung ihrer Unterschiede
. Besonders die „Erlanger Theologie" findet für die
konservative Richtung besondere Beachtung. Der letzte Abschnitt
schließlich erfaßt solche Theologen, die gegen die
Hauptströmungen der Theologie ihrer Zeit sich stellten. Es
sind dies Biblizisten und Einzelgänger wie Kierkegaard.
Auch die geraffte Zusammenfassung der Theologie der
Ubergangszeit vom 19. zum 20. Jahrhundert, das Flückiger
mit der 2. Ausgabe des ..Römerbriefs" (1922) von Karl
Barth einsetzen lassen möchte, bietet im Schlußteil wertvolle
, an einzelnen Theologen demonstrierte Skizzen theologischer
Tendenzen, wie der religionsgeschichtlichen Schule
und der religiös-sozialen Bewegung. Der abschließende Hinweis
darauf, daß die idealistische Philosophie in ihren verschiedenen
Ausprägungen der weltanschauliche Diskussionspartner
der Theologie im 19. Jh. gewesen ist, führt
hinüber zu dem Beitrag von Anz über Idealismus und Nachidealismus
.

Nach einer einleitenden Kennzeichnung des Idealismus
und Nachidealismus im 19. Jh., in Verbindung mit einer
Überlegung zur Aufgabenstellung und Methode der Abhandlung
, setzt Anz mit der Darstellung der Philosophie
Fichtes ein. Die locker gefügte Einheit der drei „Absoluta"
Denken, Wollen, Fühlen in der Philosophie Kants erscheint
dem systematischen Anspruch Fichtes als unzureichend.
Diesen vermeintlichen Mangel soll die Wissenschaftslehre

von 1794 ausgleichen. Sie steht daher für Anz im Mittelpunkt
der Untersuchung. Auf die Erläuterung des Begriffs
„Wissenschaftslehre" folgt die Beschreibung ihrer Durchführung
unter Angabe der methodischen Leitbegriffe. Sehr
klar kommt hierbei heraus, daß die theoretische Philosophie
in der praktischen sich vollendet und daß nach Fichtes Erkenntnistheorie
der menschliche Geist mit einem Zirkel
operiert, den er zwar unendlich erweitern, aber über den
er niemals hinausgehen kann, ohne sich als kritischer Idealismus
preiszugeben, der die Mitte zwischen dogmatischem
Idealismus und realistischem Dogmatismus strikt einhält.
Fichtes weitere Entwicklung führte vom kritischen Idealismus
weg zur spekulativen Theologie, die Anz an zwei populären
Schriften Fichtes, der „Bestimmung des Menschen"
und der „Anweisung zum seligen Leben" darstellt. Der
„Proteus" des deutschen Idealismus, Schelling, setzt ein mit
einer kritischen Absetzung von Fichte, wie später Hegel
dann in einer programmatischen Schrift sich von Fichtes
wie von Schellings Prinzip der Philosophie abwendet. Anz
arbeitet an Schellings Schrift „Über das Wesen der menschlichen
Freiheit" entscheidende Motive der Position Schellings
heraus, nämlich die Ontologie der Freiheit, die Potenzenlehre
, das theosophische Moment, die Geschichte als
Selbstoffenbarung Gottes und schließlich die Transzendenz
als Indifferenz. Die Spätphilosophie Schellings führt über
die „negative" auf die „positive" Philosopie und damit
über den Idealismus hinaus. Sie enthält wichtige Anknüpfungspunkte
für Kierkegaard. Das Bild der Philosophie
Hegels zeichnet Anz, nach der einleitenden Darstellung
einer Auswahl von Hegels Jugendschriften, der Neufassung
des Ideebegriffs und der abschließenden Funktionsbestimmung
der „Wissenschaft der Logik", indem er die „Phänomenologie
des Geistes" analysiert. Er folgt dabei dem von
Hegel gebotenen Aufbau und kommentiert eindringlich die
einzelnen Stufen, in denen die dialektische Bewegung sich
zum absoluten Wissen hindurcharbeitet. Die rechtshegelsche
Linie zeichnet Anz in wenigen, aber deutlichen Zügen und
gibt dann eine Darstellung Feuerbachs. Besonders muß hier
erwähnt werden, daß der Autor sich der Mühe unterzogen
hat, das Denken Feuerbachs, das zumeist als Religionskritik
und Projektionstheorie abgehandelt wird, auch nach der
positiv-konstruktiven Seite hin beleuchtet zu haben, was
um so schwieriger ist, als Feuerbachs Mitteilungen dazu nur
in einer Fülle von fragmentarischen Äußerungen vorliegen,
die Anz zu einem gegliederten Gesamtbild verwebt. Marx
wird nicht nur ökonomietheoretisch, sondern auch von den
anthropologischen Aussagen der „Pariser Manuskripte" her
gewürdigt. Man hat sich daran gewöhnt, seit Löwiths bedeutender
Studie „Von Hegel zu Nietzsche" den Akzent
auf den „revolutionären Bruch" im Denken des 19. Jhs. zu
setzen. Demgegenüber weist Anz völlig zu Recht auf die
Fülle der verborgen weiterwirkenden idealistischen Motive
auch im Nachidealismus hin. Nietzsches Denken gliedert
Anz nach den drei Perioden, in denen üblicherweise sein
Schaffen dargestellt wird. Auch hier werden eindringliche
Einzelinterpretationen zu den Hauptschriften dieser Phasen
vorgelegt. Die vorsichtig angedeutete und begründete
These, daß Nietzsche „vielleicht der Philosoph des Zeitalters
" sei, bietet Anlaß, den eigenen Standpunkt in dieser
Frage selbstkritisch zu überdenken. Zu diesem rätselvollen
und umstrittenen Philosophen wäre es wünschenswert,
auch die neuesten Untersuchungen anzumerken, die gegenüber
Jaspers, Löwith, Heidegger durchaus eigene Wege beschritten
haben und als gedruckte Werke auch gut zugänglich
sind, wie etwa die Nietzschebücher von Müller-Lauter.
Alwast, Kaufmann u. a. Mit der Darstellung Diltheys beschließt
Anz die Gestaltenreihe der bedeutendsten Persönlichkeiten
der Philosophiegeschichte im 19. Jh., und das
nicht nur im zeitlich-chronologischen, sondern auch im entwicklungsgeschichtlichen
Sinne. Stellt doch Diltheys Denken
die endgültige Befreiung vom Idealismus dar, um die
die vorangegangenen Philosophen gerungen haben, ohne
sie verwirklichen zu können. Neben dieser anregenden