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Ausgabe:

1978

Spalte:

910-911

Kategorie:

Religionspädagogik, Katechetik

Autor/Hrsg.:

Seydel, Otto

Titel/Untertitel:

Kirchliche Jugendarbeit 1978

Rezensent:

Kehnscherper, Günther

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Theologische Literaturzeitung 103. Jahrgang 1987 Nr. 12

910

aufmerksamer und kritischer Kenner der einschlägigen deutschsprachigen
Literatur stellt er zunächst die Geschichte dieses
Streites der letzten drei Jahrzehnte dar: Nach seiner Auffassung
vernachlässigte die Evangelische Unterweisimg die eine Seite des
dialektischen Prozesses, den selbständig reagierenden Schüler.
Der hermeneutische Religionsunterricht wollte die Dialektik wiederherstellen
, rechnete aber nicht mit dem Verstehen des Kindes
und des Jugendlichen als einer eigenen Komponente des Prozesses.
Der problemorientierte Religionsunterricht entdeckte zwar die
Lebenswirklichkeit der Schüler, beachtete aber die andere Seite
der Dialektik, das Evangelium und seine Wahrheit, zu wenig.
Besonders wenn curriculare Arbeitsweisen übernommen wurden,
erlag man vielfach der Gefahr einer Funktionalisierung von Glaube,
Bibel und Evangelium. Dort wo man den „neomarxistisch" verstandenen
Emanzipationsbegriff zum obersten Kriterium des
Religionsunterrichts erhob, verengte man erst recht das Evangelium
in unerträglichem Maße. Das christliche Freiheitsverständnis
umfaßt auch die Freiheit zur Person und die Freiheit zur Liebe!

Zur Begründung seiner eigenen Position arbeitet Schmidt mit
dem originellen Modell eines Kegels, bei dem die Ebenen dreier
Kegelschnitte verschiedene ich-nahe und ich-ferne Perspektiven
der Erfahrung und der Kegelmantel das Subjekt symbolisieren,
das in Auseinandersetzung mit Religionen und Weltanschauungen
sich selbst und die Welt reflektiert. Den Perspektiven der Erfahrung
, die schon als solche jeweils aus einem dialektischen Gegenüber
zweier Tendenzen bestehen (z. B. Rationalität zwischen den
Tendenzen der Verwissenschaftlichung und der Verdinglichung),
stellt Schmidt, in Schwerpunkten gegliedert, die Intentionen der
christlichen Botschaft gegenüber (wiederum durch ein dialektisches
Gegenüber beschrieben): Herrschaft Gottes zwischen den Tendenzen
von schwärmerischem Aktivismus und resignierender Verdrängung
, Rechtfertigung zwischen den Tendenzen der Gesetzlichkeit
und der Willkür, Liebe/Gemeinschaft zwischen den Tendenzen
von Konservativismus und Utopismus und Glaube/Hoff-
nung zwischen den Tendenzen frommer Selbstsicherheit und
Selbstbehauptung. Bei der Umschreibung seiner Position achtet
Schmidt besonders auf die Bekämpfung des anthropologischen
Reduktionismus im Sinn von L. Feuerbach. Neben dem „pro me"
aller christlich-theologischen Aussagen muß das „Extra nos"
Gottes gewährleistet bleiben. Darum lehnt er auch den Gebrauch
des Begriffs Symbol im Tillichschen Sinne ab, weil durch die Verwendung
dieses Begriffes zentrale Inhalte des Glaubens funktio-
nalisiert werden und Gott selbst dann nichts anderes ist als eine
Bestimmung des Menschen. Auch die Korrelationslehre von Tillich
lehnt Schmidt ab, so sehr er methodisch zunächst ähnlich vorgeht
wie Tillich bei seinem Korrelationsdenken. Aber er will nicht wie
Tillich Gott und die Wirklichkeit in ein ontologisches System einfassen
, „das weder dem eschatologischen Geschichtsdenken der
biblisch-christlichen Ueberlieferung noch dem neuzeitlichen Selbstverständnis
einer offenen... Wirklichkeit entspricht."

In der mehrdimensionalen religionspädagogischen Dialektik, die
Schmidt entwirft, werden die speziellen Erfahrungen des Schülers
dialektisch auf die oben erwähnten vier Perspektiven des Evangeliums
bezogen. Die Rede von der Herrschaft Gottes z. B. knüpft an
Erfahrungen des Schülers mit Strukturen, Gesetzen und Gegebenheiten
an und zeigt dann „Stück für Stück Wege, wie Lehrer und
Schüler zu einer Anerkennung der Herrschaft Gottes, zu lobender
Zustimmung zu ihr und schließlich auch zu einem entsprechenden
Verhalten finden können." Was das Evangelium hinsichtlich der
Perspektiven Liebe/Gemeinschaft zu bieten hat, wird dem Schüler
nicht schon dadurch vermittelt, daß heute relevante Themen aufgegriffen
werden. Hier hat der Religionsunterricht ein Proprium
zu bieten. Es besteht u.a. darin, daß die Zehn Gebote als „Grundlage
für jedes Nachdenken über das menschliche Zusammenleben
in der verborgenen Herrschaft Gottes" vermittelt werden. Die
Perspektive der Rechtfertigung ist für den Jugendlichen, der nach
seiner Ich-Identität sucht, gerade dadurch aktuell, weil sie klar
macht, daß „innerweltliche Werte und Orientierungen nicht das
Heil des Lebens schaffen. Sie können dem Jugendlichen wie dem
Erwachsenen seine Identität nicht auf Dauer gewährleisten. Denn
diese Identität ruht letztlich in Gott." Die Perspektive Glaube/
Hoffnung läßt sich nach Schmidt nicht schon dadurch einbringen,

daß man von Jesus als dem vorbildlichen Menschen redet. Die
elementare Theologie, die der Schüler nötig hat, „muß sich von
Anfang an bemühen, Jesus als historische und eschatologische
Person, als Repräsentant des ganz anderen und des alles ändernden
Gottes ins Spiel zu bringen." Um den biblischen Zusammenhang
nicht zu verkürzen, empfiehlt Schmidt, sich an der Lehre
vom dreifachen Amt Christi zu orientieren.

Kurz: Ziehe ich das Fazit dieser mit Gelehrsamkeit und Scharfsinn
entwickelten mehrdimensionalen dialektischen Religionspädagogik
, so bekomme ich den Eindruck, daß es sich um eine verbesserte
Neuauflage der Evangelischen Unterweisung handelt. Ich
halte es (auch im Blick auf den Religionsunterricht in Ländern
außerhalb der BRD) für sinnvoll zu untersuchen, ob die Religionspädagogen
in Westdeutschland mit der Evangelischen Unterweisung
nicht etwas zu schnell fertig geworden sind. Schmidt kann
sich zudem mit Recht darauf berufen, daß er die tieferen Intentionen
von K. Barth besser verstanden hat als die allzu undialektischen
Vertreter der Evangelischen Unterweisung. Ob er freilich
gut daran tut, seine Konzeption als „dialektisch" zu bezeichnen,
bezweifle ich. Im dialektischen Gegenüber von Glaube und Erfahrung
, Evangelium und Welt sichert er nämlich mit der Formel
„Das Voraus des Evangeliums" der einen Seite einen prinzipiellen
Vorrang zu, so daß ich mich frage, ob „dialektisch" nicht ein
modernes Tarnwort für einen theologischen Suprematieanspruch
sei.

Basel-Eeiuaeh Walter Neidhart

Seydel, Otto: Kirchliche Jugendarbeit. Freiraum und Konflikt.
Stuttgart-Berlin-Köln-Mainz: Kohlhammer [1974]. 121 S. 8°
Kohlhammer Urban-Taschenbücher, T-Reihe, 612. Kart.
DM 10,-.

Eine Darstellung der Problemgeschichte evangelischer Jugendarbeit
mit ihren verschiedenen historisch und theologiegeschichtlich
bedingten Denkmodellen muß zwangsläufig die Verflochtenheit
der Grundmuster der Jugendarbeit in die jeweiligen Theorien
von Kirche und Gemeinde sowie ihre Stellung zur Gesellschaft
aufzeigen. Über Voraussetzung, Wesen und Funktion der Jugendarbeit
herrschen aber gerade deshalb immer wieder unklare Vorstellungen
; denn eine Theorie der Standortfindung und Funktion
der Kirche und damit auch ihrer Jugendarbeit in der Gesellschaft
ist einem ständigen Erfahrungs- und Lernprozeß unterworfen, der
natürlich auch von der Gesellschaftsform bestimmt ist, in der
kirchl iche Arbeit sich vollzieht.

Dem Wissenschaftlichen Assistenten an der Universität Bielefeld,
O. Seydel, ist es in einer dankenswert knappen Darstellung gelungen
, die wichtigsten Konzeptionen und Modelle von Jugendarbeit
der Vergangenheit und Gegenwart systematisch darzustellen und
die Hintergründe ihrer soziologischen und ekklesiologischen Tendenzen
kritisch aufzuweisen. Angesichts der fast unüberschaubaren
Fülle des Materials durfte man gespannt sein, wie der Vf.
die Kriterien einer Systematisierung erarbeiten würde.

Es zeigt sich, daß die vom Vf. herausgestellten Kategorien
„Freiraum" und „Konflikt", aus dem Bereich der Erziehungswissenschaften
übernommen, als Ausgangsposition für eine Theorie
der Jugendarbeit durchaus geeignet sind.

So hat etwa kirchliche Jugendarbeit einen Komplex von Traditionen
und Werten zu vertreten und ist gezwungen, sich aktiv
oder kritisch mit ihnen auseinanderzusetzen. Die hier auftretenden
sozialisationstheoretischen, pädagogischen und religionssoziologischen
Fragestellungen werden durch den Spannungsbogen Freiraum
- Konflikt einleuchtend umschrieben. So gelingt es dem Vf.,
sowohl der gemeindebezogenen Jugendarbeit mit ihren missionarischen
und sozialdiakonischen Aspekten, von der viele ältere
Leser ausgehen werden, wie auch einem sozial-integrativen Ansatz
gerecht zu werden. Bei der Darstellung der gesellschaftlichen
Funktion kirchlicher Jugendarbeit werden in betont sachbezogener
Weise auch „politische, antikapitalistische Zielsetzungen von
Jugendgruppen" einbezogen, ein hoffnungsvolles Novum im
Handlungsfeld kirchlicher Erziehungsarbeit.

Auf die Dauer gesehen kann die Kirche nicht auf die Vermitt-