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Ausgabe:

1978

Spalte:

888-889

Kategorie:

Ökumenik, Konfessionskunde

Titel/Untertitel:

Zeugnis und Dienst reformatorischer Kirchen im Europa der Gegenwart 1978

Rezensent:

Tannert, Werner

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Theologische Literat urzoitung 103. Jalirgang 1978 Nr. 12

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Dieser Haltung setzte der intransigente Katholizismus des
19. Jhs. im Zeichen des Antimodernismus und Ultramontanismus
sein absolutes Nein entgegen, das im Syllabus Pius' IX. seine
schärfste Ausprägung erfuhr. Doch die Entwicklung der bürgerlichen
Gesellschaft brachte es mit sich, daß der ursprüngliche
Antimodernismus beträchtlich modifiziert werden mußte. Leo
XIII. leitete eine neue Phase der offiziellen katholischen Situationsbestimmung
ein. Poulat ist darin zuzustimmen, daß diese
Kursänderung primär taktisch motiviert war. Sie sollte dazu
dienen, ein neues katholisches Kräftereservoir aufzubauen, mit
dessen Hilfe der Angriff auf dio bestehende Gesellschaft in neuer
Form eröffnet werden konnte. Leo XIII. und seine Nachfolger
waren vor allem bestrebt, die laikalen Kräfte des Katholizismus
zu aktivieren, da der Klerus nur noch in mittelbarer Form über
die Laien Einfluß auf die aktuelle Politik ausüben konnte, und die
durch die bürgerliche Demokratie gegebenen neuartigen Möglichkeiten
des politischen Kampfes im Zeichen der Freiheit gegen den
Säkularismus zu nutzen. Diese Taktik hatte weithin Erfolg, wenn
es auch nicht immer gelang, die laikalen Kräfte unter kirchenoffizieller
Kontrolle zu halten, So daß sich zuweilen Maßregelungen
als unumgänglich erwiesen.

Poulat verdeutlicht auf überzeugende Weise, daß diese Kurskorrektur
gegen Ende des 19. Jhs. zur programmatischen Formulierung
des Konzeptes einer christlichen Demokratie führte, und
er läßt am Schluß seines Buches zwei „Vätei" der christlichen
Demokratie, Albert de Mun und Leon Harmel, mit charakteristischen
Äußerungen selbst zu Wort kommen. In dieser Konzeption
wurde der vom liberalen Bürgertum entwickelte Gedanke der
Demokratie bewußt aufgenommen, ohne daß man diese Entlehnung
zunächst offen zugab. Man betonte vielmehr in der ersten
Phase den Gegensatz zum liberalen Verständnis der Demokratie
wegen dessen Antithese zum christlichen Sittengesetz im Zeichen
individualistischer Atomisierung des Einzelnen und des früh-
kapitalistischen Laissez-faire-Prinzips. Man gab der christlichen
Demokratie eine gelegentlich stark soziale Tönung und betonte
don ganzheitlich-integralen Charakter des christlichen Menschen-
und Gesellschaftsbildes. Dies war insofern taktisch bedingt, als
das Volk auf diese Weise aufs neue an kirchliche Normen gebunden
werden sollte, weshalb man die letztlich demagogische Losung von
der unzerstörbaren Einheit von Kirche und Volk ausgab. Sie war
aber subjektiv bei vielen Vertretern des sozialen Katholizismus
ehrlich gemeint und verlieh zuweilen dem Streben nach durchgreifenden
Reformen im Staatsgefügo starke Impulse, was die
„Liberalen" besorgt-spöttisch von „staatssozialistisch"-dirigisti-
schen Tendenzen auf diesem Flügel des Katholizismus sprechen
ließ.

So nachhaltig indes Jahrzehnte lang in vielen katholischen
Ländern die ideologischen und politischen Auseinandersetzungen
zwischen den Liberalen und den Vertretern einer christlichen
Demokratie waren, letztlich führten sie, wie auch Poulat zugibt,
zu mancherlei Koalitionen und zur stillschweigenden Übernahme
der Grundüberzeugungen der herrschenden Gesellschaft, während
das Nein zur marxistisch verstandenen Revolution und zur
sozialistischen Demokratie ein prinzipielles blieb. Immer wieder
macht Poulat zwar auf das christlich-demokratische Programm
des „Dritten Weges" und der „Dritten Kraft" aufmerksam, das
vom geistigen Ansatz her tatsächlich ebenso antiliberal wie antimarxistisch
ist. Ihm ist auch darin zuzustimmen, daß noch heute
innerhalb der christlich-demokratischen „Weltfamilie" große
Unterschiede - von der bayerischen CSU auf dem rechten Flügel
bis zu den oft reformistisch ausgerichteten christlich-demokratischen
Bewegungen lateinamerikanischer Länder - bestehen. Doch
abgesehen davon, daß diese Konzeption zeitweise sogar dem
Faschismus in einigen seiner Spielarten zugute kommen konnte,
kann er nirgends einsichtig machen, daß heute von einer katholischen
Soziallehre her geformte Länder unabhängig neben bürgerlich
-kapitalistischen Ländern stehen. Im Unterschied zu ihm wird
man auf Grund der geschichtlichen Realitäten nicht die Einsicht
umgehen können, daß nach dem 2. Weltkrieg in vielen europäischen
Ländern die christlich-demokratischen Parteion zu den führenden
Regierungsparteien ihrer kapitalistischen Ordnungen
wurden und daß bisher das Konzept eines „Dritten Weges" in der
Endkonsequenz stets der bestehenden kapitalistischen Gesellschaft
dienstbar gemacht wurde. Von solchen Erkenntnissen her
wird man die tatsächlich unverzichtbare Kompetenz des Glaubens
für die gesamte Wirklichkeit noch anter anderen Aspekten analysieren
müssen, als es Poulat tut, und es werden auch Erfahrungen
vieler Christen in den gegenwärtigen sozialistischen Staaten von
Christen spätbürgerl icher Länder mitberücksichtigt werden müssen,
wenn es darum geht, die rechte Positionsbestimmung in der heutigen
geschichtlichen Entwicklungsphase vorzunehmen. Mit Poulat
ist daboi eindeutig daran festzuhalten, daß der Christ im echten
Sinne zeitgemäß sein muß, ohne vor dem Zeitgeist zu kapitulieren
und die eigene Identität preiszugeben. Was dies konkret bedeutet,
kann nur immer neu bestimmt werden und ist niemals dem Wagnis
geschichtlicher Entscheidungen entnommen.

Rostock Gert Wondelbora

Lienhard, Marc [Hrsg.]: Zeugnis und Dienst reformatorischer
Kirchen im Europa der Gegenwart. Texte der Konferenz von
Sigtuna (10.-16. Juni 1976). Frankfurt/M.: Lembeck; Frankfurt
/M.: Knecht L1977]. 167 S. 8° = ökumenische Perspektiven
, hrsg. v. M. Lienhard u. H. Meyer, 8.

Im Geleitwort dieses Bandes heißt es: „Die an der Leuenbcrger
Konkordie beteiligten Kirchen lutherischer, reformierter und
uniorter Prägung haben sich mit der Annahme dieses Dokumentes
zu kontinuierlichen Lehrgesprächen verpflichtet, die dazu dienen
sollen, das gemeinsame Verständnis des Evangeliums, auf dem
ihre Kirchengemeinschaft beruht, zu vertiefen und zu aktualisieren
. Die erste Runde dieser Lehrgespräche fand in der Laienschule
der schwedischen Kirche in Sigtuna statt" (S. 7). Marc Lienhard/
Straßburg war als einer der Vorsitzenden im Fortsetzungsausschuß
und als erfalirenes Mitglied im Präsidium der Leuenborger
Gespräche gebeten worden, eine Dokumentation von Sigtuna
herauszugeben. Er legt sie hier vor mit der einleitenden Bemerkung
: „Dieser Band enthält Texte, dio in Sigtuna (Schweden) der
Delegiertenversammlung der an der Louenberger Konkordie beteiligten
Kirchen in Europa, die vom 10.-16. 6. 1976 stattfand, vorgelegt
wurden oder im Rahmen dieser Konferenz entstanden sind"
(S. 9). In seiner Einführung informiert der Herausgeber über
Vorgeschichte und Verlauf der Zusammenkunft und interpretiert
zugleich ihre Schwerpunkte. Darum wird in einein ersten Teil
(I. Die Kirchengemeinschaft reformatorischer Kirchen in Europa
- Entstehung und Rezeption) nochmals zuiückgeblondet auf die
Geschichte der Konkordie und die durch sie und mit ihr intendierte
Kirchengemeinschaft durch Wiedergabe des Konkordien-
textes, durch den Rechenschaftsbericht des Fortsotzungsaus-
schussos und durch das Verzeichnis der zustimmenden Kirchen
sowie durch den Bericht der Arbeitsgruppe VII („Zur Interpretation
der Leuenberger Konkordie") im Teil III der Dokumentation
(S. 158ff.). Von der letztgenannten Arbeitsgruppe heißt es im
Brief an die an der Leuenberger Konkordie beteiligten Kirchen:
„Außerhalb der Tagesordnung hat eine Arbeitsgruppe sich mit
bestimmten Anfragen von Kirchen, die der Leuenberger Konkordie
bisher nicht zugestimmt haben, befaßt und hierüber einen
Bericht vorgelegt, der von der Versammlung mit Dank entgegengenommen
wurde" (S. 153). Der Hauptteil (II. Dio Kirchengemeinschaft
und ihre Verwirklichung) gibt das Material der Konferenz
wieder. Die Referate von Johannes Hompel/Dresden (Zeugnis
und Dienst im Europa der Gegenwart, S. 39-53) und Andre
Dumas/Paris (Zeugnis und Dienst der Kirche im heutigen Europa,
S. 53-76) versuchen in positiv-kritischer Weise reformatorischo
Erkenntnisse aufzunehmen, umzusprechen und fruchtbar zu
machon für Richtweisung und Lösungsvorsuche von heuto anstehenden
Problemen. Wahrend Hempol und Dumas von der traditionellen
Zwei-Reicho-Lehre und der Lohre von der Königsherrschaft
Jesu Christi ausgehen, beschäftigt sich ein zweiter Themen-
komplex mit „Amt - Ämter - Dienste - Ordination", zu dein
Günther Gaßmann - früher Straßburg, jetzt Hannover - eine
Einführung gab (S. 77-86), Daniel von Allmenein Korreferat hielt
(S. 86-91) und Gaßmann oino überaus instruktive dokumentarische
Übersicht (S. 91-145) lieferte. Texte aus Kirchonverfassun-
gen und Ordinationsformularen aus 39 Kirchen und kirchlichen