Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

1978

Spalte:

842-843

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Auer, Alfons

Titel/Untertitel:

Zwischen Heilauftrag und Sterbehilfe 1978

Rezensent:

Rössler, Dietrich

Ansicht Scan:

Seite 1, Seite 2

Download Scan:

PDF

841

Theologische Literaturzeitung 103. Jahrgang 1978 Nr. 11

842

hinter der technischen Weltbeherrschung des Westens steht" (11),
ja der Verdacht, daß Theologie sogar als Mitlieferantin einer solchen
Ideologie (237) fungiert habe und fungiere, fährten Jensen zu
einer analytisch-kritischen Aufarbeitung der Theologie des jungen
Herrmann und der Theologie Bultmanns. Denn maßgeblichen
Anteil an der Hilflosigkeit der Theologie gegenüber den ökologischen
Problemen habe die existenz-kritizistisch und anti-metaphysisch
orientierte Theologie, die im Horizont des Kantianismus
die Natur, das Naturerkennen und die Beziehungen zwischen
Mensch und Natur aus dem Relevanzbereich theologischer Reflexion
entlassen hatte und einem irreligiösen Wissenschaftsverständnis
Vorschub leistete. So reiht sich Jensens Buch in die jüngeren
wichtigen Versuche ein, die Problematik von Natur, natürlichem
Lebensraum und Umweltproblematik theologisch aufzuarbeiten,
wobei sein Spezifikum darin besteht, theologiegeschichtliche Vergangenheit
von immenser Wirkungsgeschichte angesichts der
ökologischen Situation zu bewältigen.

Während Bultmann als Schüler Herrmanns vergleichsweise
knapp zur Darstellung kommt, verwendet Jensen einen sehr breiten
Raum zur Interpretation von Herrmanns- Frühwerk „Die
Religion im Verhältnis zum Welterkennen und zur Sittlichkeit"
(1879). Dieses Werk, in dem Herrmann die Grundlagen seiner
Theologie ausarbeitete, wird einer detaillierten Interpretation
unterzogen, die bisweilen einer mikroskopischen Analyse gleicht.
Jensen konzentriert sich vor allem auf Herrmanns Auseinandersetzung
mit H. Cohen, ein übrigens für die Herrmann-Forschung
ausgesprochen verdienstvolles Unternehmen! Herrmann habe
versucht, dem im Blick auf die Religion ausgesprochen restriktiven
Marburger Neukantianismus dadurch zu entgehen, daß er mit der
These von der erlebbaren Wirklichkeit einen unangefochtenen
Raum für die Theologie zurückzuerobern bemüht war, in dem
jeder Konflikt zwischen Naturwissenschaft und Theologie erspart
bleibt (vgl. 81): den Bereich menschlicher Existenz, des Selbsts,
des Personseins angesichts sittlicher Forderungen. Gleichwohl
handele es sich um einen durch Existentialisierung der erkenntnistheoretischen
Fragestellung parallelverschobenen Marburger Neukantianismus
(79). Demzufolge gilt Herrmann als „erster Existenztheologe
" (81) und ist in diesem Sinne „,themissing link' zwischen
kantianischer und existenz-theologischer, anti-metaphysischer
Wissenschaftsgrundlegung" (14, vgl. 163). Tatsächlich gelingt es
dem Autor, geradezu überraschende Parallelen zwischen dem
jungen Herrmann und Bultmann nachzuweisen.

Das Ergebnis der Analysen besteht darin, daß beide Theologen
zwar dem Illusionsverdacht der Theologie entgehen, dies aber mit
dem hohen Preis einer neuerlichen Restriktion erkaufen: Breite
und theologisch unbedingt relevante Wirklichkeitsbereiche werden
abgeblendet, die Natur ist theologisch gleichgültig (157f.) und
erscheint lediglich in „Abstoß-Bestimmungen" (148), die Welt ist
nur noch „Arbeitswelt" (146), das Eingehen auf die Belange des
äußeren Lebens ist durch ein „restriktiv apologetisches Interesse"
verstellt (149), Humanität und natürlicher Lebensraum stehen
dualistisch gegenüber, obwohl doch jede von der Natur isolierte
Humanität ausgesprochen inhuman ist (237ff.). Der Trend zur
Internalisierung der Weitsicht, dem übrigens auch H. Braun und
D. Solle zugeordnet werden, versteht das Christentum als die
Größe,,,die den Sieg der Humanität (Geschichte) über die Natur...
bewirkt. Der durchgängige, niemals in Zweifel gezogene Gegensatz
ist..., im Kielwasser von Kants Unterscheidung zwischen mundus
sensibilis und mundus intelligibilis, der Gegensatz Natur-Mensch.
Die Natur ist stets Mittel, stets Sklavin der Humanität" (208).

Im letzten Drittel des Buches (209ff.) bemüht sich Jensen um
die Bestimmung einer neuen ontologischen Mitte von Illusion und
Restriktion, die die Fehler des Existenzkritizismus hinter sich
läßt. Er greift dazu auf K. E. Lögstrups „Phänomenologie der
SouveränenDaseinsäußerungen'" zurück, die zwar innerhalb des
existenz-kritizistischen Personalismus entwickelt wurde, zugleich
aber dessen Entgegensetzung von Natur und Humanität überwindet
(211, 21 lff.). Diese Überwindung verwirklicht sich für
Jensen in einer „rcligionsphiloBophische(n) Theoria", einer „religiöse
^) Ontologie", „in der die Natur in ihrer Beziehung zu Gott,
und zwar als dem Gott des Universums, verstanden wird" (233,
Kursivdruck aufgehoben).

Man liest dieses Buch nicht ohne große Sympathien aber auch
nicht ohne eine gewisse Verunsicherung. Daß die Kinder das Versagen
der Väter kritisch verarbeiten sollen, trifft natürlich auch
für den Umgang mit Theologiegeschichte zu. Ob aber diese Verarbeitung
so einseitig geschehen darf, daß darüber berechtigte Anliegen
der Väter ausgeblendet werden? In diesem Sinne ist Jensens
Buch einseitig. Dadurch, daß er sich z.B. ganz auf Herrmanns
Auseinandersetzung mit Cohen konzentriert und das für Herrmann
viel wichtigere Gespräch mit seinen theologischen Zeitgenossen
bewußt übergeht (vgl. 12f.), verkennt er, daß für Herrmanns
Fixierung der erlebbaren Wirklichkeit ganz entscheidende theologische
Motive im Spiel waren, nämlich die Sorge, daß via meta-
physica aus dem Gott des christlichen Glaubens ein kosmologi-
sches oder ontologisches Prinzip gemacht werden könnte. Sollte
diese Sorge bei den heutigen - berechtigten und nötigen - theologischen
Versuchen, eine angemessene Theologie der Natur zu entwickeln
, gegenstandslos sein ?- Auch darf trotz des religionsphilosophischen
Impetus nicht ignoriert werden, daß die Strukturen von
Welterkenntnis und theologischer Erkenntnis ihre eigene Spezifik
haben, so daß wir also nicht einfach aus den von Kant gezeigten
Voraussetzungen unseres Denkens aussteigen können. Die Ernst-
nahme dieses Sachverhalts muß keineswegs gleich ein irreligiöses
Wissenschaftsverständnis zur Folge haben.

Mit diesen Einwänden darf aber das Verdienst dieser Studie
nicht geschmälert werden. Ole Jensen hat einen wesentlichen Beitrag
zur Kritik einer dem Existenz-Kritizismus unkritisch begegnenden
Theologie geleistet und gleichzeitig wegweisende Orientierungen
für die Überwindung der Hilflosigkeit von Theologie gegenüber
der ökologischen Krise gesetzt. Wer auch immer über die
Schöpfungslehre bzw. das theologische Verständnis von Kosmos
und Oikossphäre nachdenkt, sollte an diesem Buch nicht vorübergehen
.

Halle (Saale) Michael Beintker

Dantine, Wilhelm: Theologische Systematik - Bremsblock oder

Hilfe für Innovation (DtPfrBI 78, 1978 S. 226-229).
Simons, Frans: Man kann wieder Christ sein. Eine Abrechnung mit
■ der Theologie und der „kritischen" Bibelwissenschaft. Bern-
Frankfurt/M.-Las Vegas: Peter Lang [1978]. 231 S. 8°.

ETHIK

Auer, Alfons, Menzel, Hartmut u. Albin Eser: Zwischen Heilauftrag
und Sterbehilfe. Zum Behandlungsabbruch aus ethischer,
medizinischer und rechtlicher Sicht. Köln-Berlin-Bonn- München
: Heymanns [1977]. XI, 154 S., 22 Farbtaf. 8°. Kart.
DM 29,-.

Im Vorwort wird die Aufgabe, die die drei Autoren sich mit
diesem Buch gestellt haben, erläutert: Es ist „die Frage, bis zu
welchem Zeitpunkt und um welchen Preis der gesamte Apparat
medizinischer Lebenserhaltungsmaßnahmen eigentlich eingesetzt
werden muß, oder ob nicht vielmehr dem Arzt unter bestimmten
Voraussetzungen erlaubt sein müßte, mit oder möglicherweise auch
ohne Einwilligung des Patienten auf eine Behandlung von vornherein
zu verzichten oder bereits aufgenommene Lebenserhaltungsmaßnahmen
wieder abzubrechen" (S. V). Diese Frage ist neu. Die
ärztliche Ethik kann für den Umgang mit ihr nicht auf eine längere
Tradition zurückgreifen. Denn diese Frage entsteht, wie andere
parallele Fragen, aus der jüngsten wissenschaftlichen Entwicklung
der Medizin. Die Techniken, die hier entstanden sind, stellen das
ärztliche Handeln in Situationen, die sich nicht einfach als Fortsetzung
der bisherigen ärztlichen Aufgabo verstehen lassen. Das
in diesem Buch behandelte Problem kann an folgendem Sachverhalt
erläutert werden: Es gibt durch Unfall oder Krankheit hervorgerufene
Organschädigungen, die noch vor kurzer Zeit sicher zum
Tode des Patienten geführt hätten. Neuerdings ist es möglich
geworden, derartige Patienten durch intensive Behandlungs- und
Überwachungsmethoden am Leben zu erhalten - allerdings ohno
sicher vorhersagen zu können, ob die betroffenen Organe - in erster
Linie das Gehirn - wieder ihre Leistungsfähigkeit zurückgewinnen