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1978

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Kirchengeschichte: Neuzeit

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Neuerscheinungen

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Theologische Literaturzeitung 103. Jahrgang 1978 Nr. 11

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ständnis, bringt Pfeiffer, ebenso wie zu anderen Detailfragen,
interessante Materialien bei.

Eine Dissertation soll Neues bringen, und so ist es verständlich,
daß die Auseinandersetzung mit der vorliegenden Literatur über
Detailfragen, wo Korrekturen möglich oder notwendig sind, dominiert
. Für die Mehrheit der Leser wäre es förderlicher gewesen,
wenn bestimmten sich aufdrängenden Sachfragen noch intensivere
Aufmerksamkeit geschenkt worden wäre. So zeigt ja z.B.
das theologische Lebenswerk Albert Schweitzers und seines
Schülers Martin Werner, daß ein unbedingtes Ernstnehmen der
radikalen Naherwartung Jesu und des Urchristentums nicht ohne
weiteres zu einer einseitigen Interpretation des Wesens des Christentums
als Weltverneinung führen muß, interpretiert Albert
Schweitzer doch historisch wie sachlich „das Wesen des Christentums
" als „Weltbejahung, die durch Weltverneinung hindurchgegangen
ist. In der eschatologischen Weltanschauung der Weltverneinung
stellt Jesus die Ethik tätiger Liebe auf". Man hätte sich
daher z.B. gewünscht, daß dieser wichtigen Nahtstelle in Overbecks
Denken noch intensiver nachgeforscht wäre. Damit im
Zusammenhang verdiente auch „die Verankerung Overbecks im
Denken der Aufklärung" (S. 126), insbesondere seine intensive
Beschäftigung mit Shaftesbury einerseits und seine Beeinflussung
durch Schopenhauer andererseits in ihrer gegenseitigen Beziehung
eine gründlichere Erforschung. Mit dem Satz: „Dadurch, daß die
Philosophie Schopenhauers auf Overbeck einwirkte, erfährt der
radikale Optimismus Shaftesburys bei Overbeck von vornherein
eine Brechung" (S. 128) wird eher ein Problem benannt als gelöst.
Und wenn Pfeiffer auf S. 200 schreibt: „Von weitreichender Bedeutung
ist der - den Aussagen des Neuen Testaments widersprechende
- Satz, der Glaube werde ,das Denken immer nur aus
Noth oder aus Schwäche anrufen'. Träfe dieser Satz zu, dann wäre
die Bewegung der f ides quaerens intellectum als illegitime Bewegung
erwiesen, und dann könnte man allerdings Theologie grund-
zätzlich als,Satan der Religion' bezeichnen", so ist ja auch damit
auf ein wichtiges historisches Sachproblem hingewiesen. Wie
kommt eigentlich ein so überaus gebildeter Theologe wie Overbeck
zu einer derartig merkwürdig einseitigen und total überspitzten
Entgegensetzung von Glaube und Wissen, Religion und Denken?
Läßt sich darüber etwas aus den Quellen ermitteln?

Aber solche Anfragen können und sollen nicht im geringsten
den Dank für dieses hochinteressante, sorgfältig gearbeitete und
trotz aller Stoffülle durchaus gut lesbare Buch mindern. Es ist
unzweifelhaft ein ausgesprochenes Verdienst des Verlages, diese
Untersuchung in seine „Studien zur Theologie und Geistesgeschichte
des Neunzehnten Jahrhunderts" aufgenommen zu haben,
denn der Aktualität dieser Untersuchung kann man leider kaum
widersprechen.

Berlin Hans-Hlnrich Jens8cn~ |

Kantzenbach, Friedrich Wilhelm: Spannungen im Religiösen
Sozialismus (DtPfrBl 78, 1978 S. 39-43).

Rupp, George: Culture-Protestantism: German Liberal Theology
at the Turn of the Twentieth Century. Missoula, Montana:
Scholars Press for The American Academy of Religion [1977].
67 S. gr. 8° = American Academy of Religion, Studies in Religion
Series, ed. by S. Crites, 15. $ 4.50.

Stein, Albert: Das „Kirchbüchlein" der Bekennenden Kirche
Altpreußens, eine evangelische Lebensordnung der Kirchenkampfzeit
(ZSavRGkan 94, 1977 S. 300-317).

KIRCHEN- UND KONFESSIONSKUNDE

Beazley, George G. [Hrsg.]: Die Kirche der Jünger Christi (Dis-

ciples). Progressiver amerikanischer Protestantismus in Geschichte
und Gegenwart. Ubers, v. G. Raabe. Stuttgart: Evang.
Verlagswerk [1977]. 261 S. 8° = Die Kirchen der Welt, hrsg.
v. H.H.Hanns, H.Krüger, G.Wagner, H.H. Wolf, XVI.
Lw. DM 45,-.

Es handelt sich um die erste deutschsprachige Geschichte der

„Kirche der Jünger Christi" (im folgenden kurz „Jünger" genannt
), einer nordamerikanischen Denomination, die heute etwa
1,2 Millionen Mitglieder in den Vereinigten Staaten umfaßt. Mitgliederzahlen
für die Kirchen in Großbritannien, Zaire, Indien,
Neuseeland, Jamaika, Kanada, Argentinien, Paraguay, Uruguay,
Malawi und Südafrika werden leider nicht angegeben.

Die kirchen- und geistesgeschichtlichen Wurzeln dieser Anfang
des 19. Jhs. gegründeten, kleinen, aber bedeutsamen Kirche liegen
einerseits in der Aufklärung („Pragmatischer Liberalismus" nennt
es Beazley) und in der Reformation reformierter (nicht lutherischer
) Prägung. Inwieweit auch Einflüsse des schweizerischen
(nicht müntzerischen) Täufertums vorliegen, scheint mir nicht
ganz geklärt zu sein. Auf eine andere Formel gebracht, kann man
die beiden Pole der Kirche mit Biblizismus und Vernunftmäßigkeit
bezeichnen. Der Biblizismus ist aber nicht fundamentalistischer
Prägung (wie zum Beispiel bei vielen Südlichen Baptisten in den
USA), sondern erinnert eher an die Reformatoren. Die Vernunftmäßigkeit
ist eindeutig und stark von Locke beeinflußt. Was
Thomas für die römisch-katholische Theologie ist, das ist John
Locke für die Theologie der „Jünger".

Aber noch eine andere, nicht weniger interessante Wurzel findet
man in der Geschichte der Jünger. Sie wollten nämlich von Anfang
an eine ökumenische, die Spaltungen in der weltweiten Kirche
überwindende Körperschaft sein. Darum hatten (und haben sie)
kein bindendes Glaubensbekenntnis. „Tragik und Verheißung"
nennt Günter Wagner in seinem Vorwort diesen Tatbestand. Die
„Tragik" bestand darin, daß diese ökumenische Verpflichtung sie
nicht an der Bildung einer neuen Denomination hinderte. Die
„Verpflichtung" aber zeigt sich an einer resoluten, intelligenten
und biblisch inspirierten Mitarbeit im Ökumenischen Rat der
Kirchen. Erstaunlich ist die Anzahl von ökumenischen Mitarbeitern
sowohl auf internationalem, wie auch auf dem inneramerikanischen
Feld, die diese kleine Kirche hervorgebracht hat. So trifft
man unter den Verfassern des vorliegenden Bandes Autoren, die
man sonst „nur" von ihren ökumenischen Veröffentlichungen her
kennt. Ich erwähne zum Beispiel G. G. Beazley d. J., A. M. Penny-
backer und H. E. Fey. Aber auch in ihren theologischen Instituten
und in ihren Zeitschriften zeigen die „Jünger" die gleiche
ökumenische Verpflichtung. Sie gründeten zum Beispiel die einflußreiche
amerikanische ökumenische Zeitschrift „The Christian
Century", die sie bis heute herausgeben. Ihre Zeitschrift „Christendom
" war die Vorläuferin von „The Ecumenical Review".

Auch gottesdienstgeschiehtlich betrachtet bieten Geschichte
und Praxis der Kirche bemerkenswerte Impulse. Das Abendmahl,
das nicht als Sakrament verstanden wird und dessen Bußcharakter
in ihren Feiern in den Hintergrund tritt, wird jeden Sonntag gefeiert
und kann von den Ältesten (das sind „Laien") zelebriert
werden. Ein Gottesdienst kann aus Abendmahl ohne Predigt
bestehen (je nachdem ob ein ausgebildeter Prediger zur Verfügung
steht oder nicht), jedoch nicht aus einem Predigtgottesdienst
allein.

Auch politisch ist die Kirche in Erscheinung getreten. Zwei
Präsidenten der Vereinigten Staaten gehörten dazu: James A.
Garfield (1831-1881) und Lyndon B. Johnson (1908-1973) waren
„Jünger", der erstere sogar Pfarrer der „Jüngerkirche". Das
Sozialengagement ist, wo vorhanden, praktisch orientiert, zum
Beispiel sorgte die Kirche in verschiedenen Orten dafür, daß die
Farbigen sich in die Wählerlisten eintrugen. Es ist ihr wichtig,
daß politische und andere Minderheiten sich ausdrücken können
und politisch repräsentiert werden.

Ein erstaunlicher Pluralismus tritt uns schon bei den ersten drei
Missionaren der Kirche entgegen. Oliver Barclay, 1814-1879,
Missionar in Jamaika, war Sklavenhalter. Alexander Cross (1811?
bis 1854), Missionar in Liberia, war ein ehemaliger Sklave; darum
ist sein Geburtsjahr nicht bekannt. James Turner Barclay (1807
bis 1874), Missionar in Jerusalem, trat für die Befreiung der
Sklaven ein.

Dies ist ein bemerkenswertes, theologisch höchst anregendes,
gut dokumentiertes und flüssig geschriebenes Buch. Als Mangel
empfindet der europäische Leser, daß die außeramerikanischen
Kirchen der „Jünger" nur am Rande erscheinen. Man vernimmt
zum Beispiel im Vorüborgehon, daß Jean B. Bokoleale, der Gene-