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Ausgabe:

1978

Spalte:

828-829

Kategorie:

Kirchengeschichte: Neuzeit

Autor/Hrsg.:

Pfeiffer, Arnold

Titel/Untertitel:

Franz Overbecks Kritik des Christentums 1978

Rezensent:

Jenssen, Hans-Hinrich

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Theologische Literaturzeitung 103. Jahrgang 1978 Nr, 11

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dentially or apocalyptic-eschatologically" (263). Am Beispiel von
M. F. Roos wird gefragt, ob es für den Christen unrecht sein könne,
etwas zu tun, was Gott selbst gewünscht habe (283f.). G. Less,
J. W. Schmid und Chr. F. Ammon werden als Befürworter des
Widerstandsrechts gegen eine tyrannische Obrigkeit vorgestellt.
Ihnen stehen eine Reihe von Theologen gegenüber, die die Revolution
ablehnten, wenngleich sie Anhänger der Vertragstheorie waren
(298ff.).

In Kap.III „Religion: Prescription for a diseased Generation"
beschäftigt sich Junkin zunächst mit der homiletischen Reflexion
des Revolutionsgeschehens und zeigt die vorwiegend in moralischen
und religiösen Kategorien erfolgende Bewertung, besser
Abwertung der Revolution als irreligiös und anarchisch. Stärkung
und Unterweisung in der wahren Religion hätten die Seelsorger
und Prediger deshalb als ihre eigentliche Aufgabe angesehen, dabei
freilich - und dies ist die politisch-ideologische Seite der Medaille -
zur Zementierung des status quo beigetragen, indem sie die
deutschen Verhältnisse sakral absegneten. Allerdings, die Notwendigkeit
politischer und sozialer Reformen auch in den deutschen
Territorien sei durchaus empfunden worden; sozialer Fortschritt
und Gerechtigkeit nur eben nicht durch Revolution, sondern
durch Reform, dies in der theologischen Überzeugung: „One
must work from the inside out and not from the outside in" (539).
Auch die Auseinandersetzung mit dem politisch-sozialen Freiheitsbegriff
der Revolution sei aufs theologische Terrain überführt und
dort entschärft worden (516ff.). Callisen kann allerdings auch den
hohen Wert politischer Freiheit betonen (553).

In Kap.V, dem Abschnitt über Patriotismus und Vaterlandsliebe
, zeigt Junkin, wie die Französische Revolution die Patriotismusdebatte
unter den Deutschen stimuliert hat, und wie
Vaterlandsliebe sofort als Alternative zur Revolution interpretiert
wurde. Patriotismus wurde nicht zum Motor für Wandlungen,
sondern zum Rechtfertigungselement der bestehenden Ordnung,
die es so gut als möglich zu gestalten galt (629). So wurde Patriotismus
als christliche Tugend konzipiert, die Obrigkeitsgehorsam
und Pflichttreue der Untertanen, allerdings auch, wie an Löfflers
Forderungen dargetan wird (637f.), Pflichten der Herrschenden
umgreift. Die zeitgenössische Attraktivität des aufgeklärten Absolutismus
wird breit unterstrichen. Besonderes Augenmerk schenkt
Junkin J. L. Ewald und seinen exzeptionellen sozialen Reformvorschlägen
(667ff.). Im Patriotismuskapitel hat auch die protestantisch
-kirchliche Debatte über den Krieg gegen Frankreich
ihren Platz gefunden. Junkin stellt dabei besonders den allenthalben
virulenten Kreuzzugsgedanken für Gott und Christenheit
gegen den „disrupter of international peace and order" (687)
heraus. Als Kriegsgegner wird J. M. C. Tarnow berücksichtigt
(693ff.). Der letzte Teil des Kapitels ist der Situation der deutschen
Aufklärer gewidmet, die sich durch das Wöllnersche Religionsedikt
schon vor Ausbruch der Revolution in die Defensive gedrängt
sahen. Der antiaufklärerische Kampf in Preußen wird als modellhaft
auch für andejg Territorien gekennzeichnet (720). In den die
Aufklärung verteidigenden Argumentationen fänden sich relativ
wenige direkte politische Bezüge. Da die Revolution der politischtheologischen
Rechten die schrecklichen Folgen der Aufklärung
bewies, konnte in dieser Zeit auch die Verschwörungstheorie als
geschichtliche Deutungskategorie neu Boden gewinnen (721).

Junkin, der bei den deutschen Kirchenmännern mangelnde
Einsicht in politische und soziale Zusammenhänge sowie eine
moralisierende Geschichtsperspektive konstatiert, verfällt passagenweise
selbst in eine Diktion, die ein wenig erbaulich-moralisie-
rend wirkt. Seine theologische Grundkonzeption, in die er auch
sein Revolutionsverständnis einfügt, ist vom Reich-Gottes-Glauben
bestimmt, ohne daß er jedoch einem linearen Optimismus
erliegt. In „ultimate obedience to God's Kingdom" (883) gälte es
die Ambivalenz von Gut und Böse in jeder Entwicklung zu erkennen
. Die Geschichte sei zunächst die Sphäre des Menschen und
seiner Aktion und könne nicht kurzschlüssig auf Gottes Fußspuren
hin untersucht werden.

Der allzu große Umfang der Arbeit, die durch einen stark aufgeblähten
und ungeschickt angeordneten Anmerkungsapparat
belastet ist, macht die Beschäftigung mit ihr etwas mühsam. Eine
ausgezeichnete Fundgrube, die zur Weiterarbeit anregt, ist die

Bibliografie (909-963). Die zustimmenden Voten deutscher Intellektueller
zur Revolution sind, was der Rez. bedauert hat, weitestgehend
ausgespart geblieben. Junkin gibt zur Begründung an:
„...that is because the affirmative reactions are more predictable
and therefore less interesting" (145). Man darf in der Studie eine
Anregung sehen, die kirchengeschichtliche Beschäftigung mit dem
Epochenumbruch von 1789 zu vertiefen; dies im Blick auf die
folgenreichen ideologischen Traditionen, die durch die Auseinandersetzung
mit der Französischen Revolution in Deutschland
gestiftet worden sind. Dabei wird das Augenmerk noch konkreter,
als es bei Junkin der Fall ist, auf die Voraussetzungen der Urteilsbildung
über die Revolution zu richten sein (z.B. auf die Auswirkungen
der girondistischen Propaganda auf dem Höhepunkt der
revolutionären Ereignisse oder auf die je besondere Lage - das gilt
auch geografisch! - der deutschen Territorien). Die Bewältigung
und gedankliche Aufhebung der Französischen Revolution ist in
der evangelischen Kirchenhistoriograf ie noch längst nicht abgeschlossen
, und so ist Junkins Buch, das die wahrlich nicht gerade
umfängliche Literatur zum Thema bereichert, ein schätzens- und
beachtenswerter Impuls.

Leipzig Kurt Nowak

Pfeiffer, Arnold: Franz Overbecks Kritik des Christentums. Göttingen
: Vandenhoeck & Ruprecht 1975. 231 S. gr. 8° = Studien
zur Theologie und Geistesgeschichte des 19. Jh., 15. Kart.
DM 48,-.

Es handelt sich bei dem Buch um die gestraffte Fassung einer
Marburger Dissertation aus dem Jahre 1971. Der Vf. hat den
Overbeck-Nachlaß benutzen können, und es zeigt sich, daß bisherige
Overbeck-Bilder durch die Heranziehung von Briefen und
anderen handschriftlichen Materialien überzeugend korrigiert,
bzw. neu akzentuiert werden können. In einem ersten Kapitel
„Das Echo auf Overbeck" geht Pfeiffer einleitend auf einige
ältere und vor allem neuere Overbeck-Interpretationen ein. Einen
ersten großen Schwerpunkt der Arbeit bildet dann das Kapitel II,
in dem auf über 50 Seiten die Auseinandersetzung mit der „Overbeck
-Interpretation von Carl Albrecht Bernoulli" geführt wird.
Es ergibt sich u.a., daß Bernoulli, der Schüler, Freund und Nachlaßverwalter
Overbecks, das 1919 von ihm herausgegebene bekannte
Buch „Christentum und Kultur" reichlich eigenwillig aus
den Overbeck-Papieren zusammengestellt hat und daß die Ablehnung
von Christentum und auch jeglicher Religion durch
Overbeck wesentlich grundsätzlicher und entschiedener ist als
Bernoulli es wahrhaben will. Overbeck kann nicht für jenen Irrationalismus
in Anspruch genommen werden, dem Bernoulli selbst
sich immer stärker öffnete. Daß „die Overbeck-Interpretation
von Karl Barth", die im III. Kapitel untersucht wird, nichts mit
dem historischen Overbeck zu tun hat, braucht kaum weiter ausgeführt
zu werden. Kapitel IV stellt in drei Teilen auf über hundert
Seiten den jungen Overbeck dar, Kapitel V ist „Overbecks .Streit-
und Friedensschrift' ,Über die Christlichkeit unserer heutigen
Theologie'" (1873, bzw. 19032) gewidmet, und Kapitel VT stellt
abschließend „das Verhältnis zwischen Overbeck und Nietzsche"
dar. Im wesentlichen wird untermauert, was auch schon vorher
bekannt war, daß Overbeck - beeinflußt durch Schopenhauer -
das Christentum auf Grund seiner Naherwartung einseitig als
radikale Weltverneinung versteht und von daher die weitere Geschichte
des Christentums als eine Geschichte notwendiger Verweltlichung
und also des Abfalls vom Ursprung versteht, an dem
es auf die Dauer scheitern und zugrundegehen muß. Insbesondere
ist jede christliche Theologie angesichts des von Overbeck behaupteten
unauflöslichen Gegensatzes von Wissen und Glauben ein
unchristliches Unternehmen, das nur zur Auflösung des Christentums
beitragen kann. Zur liberalen Theologie des Kulturprotestantismus
stand Overbeck auf Grund seiner Voraussetzungen in
einem besonders scharfen Gegensatz, obwohl er den Bemühungen
des theologischen Liberalismus seine Berufung nach Basel verdankt
. Zum Selbstverständnis Overbecks, als eines Theologieprofessors
mit atheistischer Weltanschauung und einem - seinem
Selbstverständnis nach - dezidiert nichtchristlichen Weltver-