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Ausgabe:

1978

Spalte:

60-61

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Rößler, Martin

Titel/Untertitel:

Die Liedpredigt 1978

Rezensent:

Piper, Hans-Christoph

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Theologische Literaturzeitung 103. Jahrgang 1978 Nr. 1

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profan-verbalen und nonverbalen Seelsorge" nicht erspart (30).
Demgegenüber fordert T.: „Das verbale Zeugnis von der
Scelsorge Gottes muß als konstitutives Element kirchlicher
Seelsorge erkannt und anerkannt werden" (30/31; Hervorhebung
original). Seelsorge habe ihr spezifisches Proprium,
das sie von der Predigt unterscheidet, in der persönlichen Hinführung
zum Glauben, während ihr generelles Proprium im
Unterschied zu aller säkularen Lebenshilfe eben in dieser
Glaubenshilfe zu sehen sei. „Die vom Evangelium getragene
Seelsorge kann nicht säkularisieren, weil der Glaube nicht
säkularisieren kann. Es gibt zum Glauben keine Analogie,
kein zwischenmenschliches Verhalten, kein Kommunikationsgeschehen
, womit er abgelöst oder vertreten werden könnte"
(33). Wenn das Wort Gottes heute in der Grundlegung der
Seelsorge ebenso wie in ihrem praktischen Vollzug so selten
zur Geltung komme und statt dessen Methoden der Beratung
oder der Gesprächsführung im Vordergrund stehen, dann sei
dies der Ausdruck einer Glaubenskrise (vgl. 34).

Die theologischen Bedenken T.s vertiefen und verschärfen
sich in den folgenden Kapiteln noch weiter. Das II. Kapitel
trägt die Überschrift „Divinisierung des Humanen", womit
u. a. die partnerzentrierte Seelsorge gemeint ist (außer auf die
schon Genannten wird auch auf Rogers, Boisen und Hiltner
hingewiesen), die in der Gefahr stehe, die zwischenmenschliche
Beziehung theologisch zu überhöhen und geradezu zum Sakrament
zu erheben. Besonders in der seelsorgerlichen Gruppenerfahrung
, wie sie im CPT praktiziert wird, droht nach T. das
„kommunizierte Evangelium" an die Stelle des „gehörten
Evangeliums" und die zwischenmenschliche Kommunikation
an die Stelle der Kommunikation mit Gott zu treten. „Gottes
Gericht und Gnade erschließen sich nicht der Dimension gruppendynamischen
Erlebens, sondern allein dem Glauben, der
aus dem Hören kommt" (73). „Mag auch das verbal vermittelte
Evangelium einen Mangel an Erlebniskraft und Praktikabilität
beweisen — es bindet aber den Menschen niemals an den
Menschen, sondern an Gott" (ebd.).

Im III. Kapitel versucht T., „Das seelsorgerlichc Gespräch"
etwa im Sinne Thurneysens als kerygmatische Aufgabe darzustellen
, wobei er wiederum gegen die partnerzentrierte
Methode polemisiert, die nach seiner Meinung dem Betreuten
das eigentliche Evangelium vorenthält. „Jetzt kommt es darauf
an, das auf die Geschichte bezogene Wort des Evangeliums
seelsorgerlich einzuüben und seine ... menschliche Sprache mit
der Sprache des sorgenden Menschen zu verbinden. Das secl-
sorgerliche Zuhören ist inzwischen oft gewürdigt worden und
wird als methodisch erlernbar gefordert. Das scelsorgerliche
Reden ist demgegenüber weniger beachtet und weithin verkümmert
" (111). Man wird den Wahrheitskern dieser und
ähnlicher Urteile nicht bestreiten wollen, aber fragen müssen,
ob es dem Vf. gelingt, sein positives Anliegen überzeugend zu
verdeutlichen. Konkrete Beispiele für das „erzählende .Einsprechen
' der evangelischen Geschichte in den scclsorgcrlichcn
Dialog" (106) bringt er leider nicht.

Unter der Oberschrift „Annahme und Rechtfertigung" wendet
sich das IV. Kapitel gegen den „Mißbrauch des pro me"
(Iwand), d.h. in diesem Fall gegen Identifizierung der seelsorgerlichen
Akzeptation des Partners mit der rechtfertigenden
Annahme durch Gott. Nicht einmal die Analogie zwischen
beiden treffe zu, da die Rechtfertigung christologisch vermittelt
sei und es für die Funktion Christi keine Entsprechung
bei der mitmenschlichen Akzeptation gebe (vgl. 143)! Rom 15.7
zitiert T. hier natürlich nicht, weil ein solches Wort nicht zu
seinen dogmatischen Negationen paßt.

Das umfangreiche V. Kapitel (169-282) hat das Thema
„Seelsorge als Glaubenshilfe" und entspricht also der Konzeption
des ganzen Buches. Es wirkt wie eine in sich abgeschlossene
Darlegung, der die anderen Kapitel nachträglich vorgeschaltet
worden sind; denn einerseits finden sich hier viele
Wiederholungen und andererseits auch Unausgeglichenheiten
und Widersprüche zum Vorhergehenden. T. nimmt jetzt
manches aus der partnerzentrierten Seelsorge auf und beschreibt
es als die von ihm intendierte Glaubenshilfe, was er
zuvor scharf kritisiert hat. Leider gestattet es der Rahmen der

Rezension nicht, auf die zahlreichen Belege dafür näher einzugehen
. Nur einige Beispiele:

„Mitmenschliche Kommunikation ist die Voraussetzung für
die Glaubensrelation" (195). Wie kann dies nun als „ein dezi-
diert theologischer Ansatz" erscheinen, nachdem T. vorher
seitenlang gegen den angeblich anthropologischen Ansatz der
meisten heutigen Scclsorgelehren gestritten hat?! Wie kann
er sich gegen die Verabsoluticrung des Glaubens aussprechen
(vgl. 192) und zugleich „den meisten heutigen Seelsorgekonzeptionen
" „die Abschreibung des Glaubens" unterstellen? Wie
kann er empfehlen: „Der Glaube will emphatisch und nicht fanatisch
vermittelt werden" (184), nachdem er an anderer Stelle
apodiktisch erklärte: „Was nicht erzählt werden kann, ist nicht
das Evangelium" (109)!? Natürlich kann T. dies alles vereinbaren
vermöge einer Dialektik, die vom theologischen
„extra nos" aus zunächst die Krisis alles Menschlichen einschließlich
der Religion (vgl. bes. 278!), behauptet, um dann
die Kehre zu vollziehen (vv kennen es von K. Barth her) und
unter dem Vorzeichen des „fremden Evangeliums" (155 u. 281)
bzw. des rechten Glaubens den Seelsorger doch wieder das
Eingehen auf und in die menschliche Situation zu gestatten.
Am Humanuni als dem Ort und dem Medium der Seelsorge
kommt diese Theologie eben auch nicht vorbei, wenn sie nicht
die Tatsache der Inkarnation des göttlichen Wortes leugnen
wollte. Während für die von T. kritisierten Theologen und ihre
mehr lutherische Tradition die geschehene Menschwerdung
Gottes die Voraussetzung ihrer Seelsorgekonzeption ist,
scheint für T. (aus reformierter Tradition?) nur die verbal
verkündigte Inkarnation der prinzipielle Ausgangspunkt zu
sein. Beide Standpunkte haben m.E. ihr theologisches Recht;
T. sollte es den anderen in derselben Weise zugestehen, wie
er es für sich in Anspruch nimmt.

Trotz solcher Gegenkritik, die um der Kürze willen nur einzelnes
markieren und zuspitzen konnte, sollen diesem
kritischen Buch aber auch Dank und Anerkennung zuteil werden
! Der Reichtum der theologischen Gedanken und seelsorgerlichen
Klärungen, denen voll zuzustimmen ist, läßt sich nicht
in wenige Worte fassen. Den hartnäckigen Ruf zur Sache des
Evangeliums und die Warnungen vor Abwegen oder Verfälschungen
wird auch derjenige als ein heilsames Korrektiv
empfinden, der manches anders sieht. Wer sich fernerhin mit
den poimenischen Grundfragen beschäftigt und sich an der
weiteren Debatte beteiligen will, muß diese eindrückliche
Arbeit zur Kenntnis nehmen.

Rostock Ernst-Rüdiger Kiesow

Rössler, Martin: Die Liedpredigt. Geschichte einer Piedigt-
gattung. Göttingen: Vandenhocck & Ruprecht [1976]. 353 S.
cjr. 8° = Veröffentlichungen der Evang. Gesellschaft f. Liturgieforschung
, hrsg. v. O. Söhngen, 20. Kart. DM 48,-.

Die (gekürzte und überarbeitete) Tübinger Dissertation aus
dem Jahre 1970 (Referenten: W. Jetter und M. Doenie) setzt
sich zur Aufgabe: „Eine vergessene, einst nicht unwichtige
Predigtgattung sollte in möglichster Vollständigkeit dargestellt,
ein stillgelegtes Nebengleis evangelisch-lutherischer Liturgiegeschichte
freigelegt werden" (S.280). Diese Aufgabe hat der
Vf. mit einer Akribie und Sorgfalt gelöst, daß seine Arbeit als
bibliographisches Handbuch für dies Thema benutzt werden
kann, auch wenn man für die ausführliche Bibliographie auf
die Dissertation selbst zurückgreifen muß. Es verdient Beachtung
, daß vor allem die Gebauersche Sammlung (in der
Universitätsbibliothek Göttingen) und die Bibliothek von
J. C. Olearius (in der Forschungsbibliothek Gotha) wesentliches
Material für diese Arbeit hergegeben haben.

Ein einleitender Teil untersucht das Verhältnis von Lied und
Predigt bei Luther (S.15—48), wobei der Nachweis erbracht
wird, wie die entscheidenden Impulse für die Liedpredigt von
Luther selbst ausgehen. Ablesbar ist das etwa an der erstaunlichen
Geschichte, die das Weihnachtslied „Ein Kindel ein so
löbelich" innerhalb der Gattung der Liedpredigt gehabt hat
(S. 53—89 und passim).