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Ausgabe:

1978

Spalte:

58-60

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Tacke, Helmut

Titel/Untertitel:

Glaubenshilfe als Lebenshilfe 1978

Rezensent:

Kiesow, Ernst-Rüdiger

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Theologische Literaturzeitung 103. Jahrgang 1978 Nr. 1

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von einer Tradition in die andere geschieht in so breitem
Maße, daf3 die Frage nicht leicht zu beantworten ist, wie denn
die Identität der römisch-katholischen Moraltheologie im
Dialog mit der protestantischen Ethik begrifflich festgehalten
werden kann. In Auseinandersetzung mit einer Studie von
Roger Mehl aus dem Jahre 1970 nennt Curran drei Fragenkreise
, innerhalb derer heute noch Divergenzen zwischen
beiden Traditionen auftreten können: die Wertung des Naturrechts
, der Autoritätsanspruch des römisch-katholischen Lehramts
und die theologischen Voraussetzungen der Ethik.

Für die Geltung des Naturrechts als einer Größe zur deduktiven
Ableitung ewiger und unveränderlicher moralischer
Normen setzen sich heute immer weniger katholische Theologen
ein. Statt dessen beobachtet man wachsende Differenzen
unter den Moralthcologcn im Blick auf ihre Methodologie und
bei der Entscheidung einzelner ethischer Fragen. Der „Mythos"
einer monolithischen katholischen Moraltheologie, die nur
eine einzige Meinung als „die" katholische Meinung in bestimmten
Fragen vertrete, ist dadurch zerstört worden. Die
Pluralität der Ethik ist auf protestantischer und auf katholischer
Seite in gleichem Maße zu bemerken.

Das hat zur Folge, daß auch die autoritative unfehlbare
Lehrentscheidung des Papstes in moralischen Fragen einen
anderen Stellenwert bekommen hat. Sie kann von der Moral-
thcologie als provisorisch bezeichnet werden, und man kann
die Möglichkeit des Widerspruchs nicht ausschließen, wenn
solide Gründe dafür vorliegen. Der Grund für diese veränderte
Haltung liegt in der Komplexität der Situationen und der
moralischen Entscheidungen, die nicht mehr einlinig getroffen
werden können.

Die protestantische Meinung, daß zu den theologischen Voraussetzungen
der römisch-katholischen Moralthcologie die
Unterscheidung von natürlicher und übernatürlicher Ethik gehöre
, trifft nicht mehr zu und wird auch durch die Pastoralkonstitution
des Zweiten Vatikanums über die Kirche in der
modernen Welt bestritten. Ebenso ist die alte Kontroverse, ob
nur der Glaube oder die Werke bestimmend für christliches
Handeln seien, heute gegenstandslos, wenn beidem das nötige
Recht zuteil wird. Ein großer Teil der katholischen Moral-
theologcn geht außerdem mit der protestantischen Ethik darin
überein, daß die Moral auf Freiheit und Verantwortlichkeit zu
basieren hat.

Diese Annäherung zwischen protestantischer und römischkatholischer
Ethik sollte von Seiten der Moralthcologie sowohl
den protestantischen Kollegen als auch der weithin noch uniformierten
katholischen Gemeinde und der kirchlichen
Hierarchie bekanntgemacht werden. Die Zukunft wird nach
Currans Meinung diesen Prozeß noch weiter befördern und
vor allem in der Sozialethik zu neuen Einsichten und Vcrhal-
tensregeln führen.

Ausführlich geht Curran noch auf den Bezugsrahmen, den
Horizont der Moraltheologie ein, der durch fünf Aspekte gekennzeichnet
ist, die alle berücksichtigt werden sollten, wenn
über die Perspektiven der Moraltheologie nachgedacht wird.
Wenn einer dieser Aspekte übersehen oder einer auf Kosten
der anderen verabsolutiert wird, kann Moralthcologie nicht in
angemessener Weise zu Ergebnissen kommen.

Der erste Aspekt kreist um die Schöpfung. Alle Menschen
haben teil an der Humanität als der Gabe Gottes und können
daraus ethisches Wissen gewinnen. Hier liegt das relative Recht
der traditionellen Naturrechtslchrc; das Naturrecht ist eine
Quelle ethischer Erkenntnis außerhalb der Schrift, indem es
auf einen allgemeinen Grund der Moral auf Grund der Schöpfung
verweist. Allerdings ist das Verhältnis zwischen der
allen Menschen gemeinsamen ethischen Erkenntnis und der
spezifisch christlichen Ethik heute noch ungeklärt. Gegen die
Entwürfe von Barth und Thielicke hält aber Curran daran fest,
daß Christen und Nichtchristcn eine gemeinsame Basis für die
ethische Orientierung in der guten Schöpfung Gottes haben,
auch wenn Schöpfung zugleich unter dem Aspekt der Sünde
gesehen werden muß.

Dieser zweite Aspekt ist in der römisch katholischen Theologie
oft unterbewertet worden; das trifft aber auch für

manche Richtungen der liberalen Theologie im Protestantismus
bis hin zu Harvcy Cox und William Hamilton zu. Solche
Unterschätzung der Sünde führt zu romantizistischer Illusion
und zu Enttäuschungen. Andererseits kann „Sünde" doch nicht
das letzte oder wichtigste Wort für Christen sein, weil sie
gerade überwunden werden soll. So ist Anerkennung der
Sünde nicht eine Entschuldigung lür Passivität, sondern Aufruf
dazu, etwas gegen sie zu tun.

Die Inkarnation als dritter Aspekt verhindert die Abwertung
des Materiellen und Weltlichen. Frühere Debatten über den
Dualismus von Geist und Fleisch haben ihre Bedeutung verloren
, aber nach wie vor ist es wichtig, die Realität der Transzendenz
mitten in unserer irdischen Existenz festzuhalten.
Schließlich sind noch die beiden Aspekte der Erlösung und der
Auferstehung notwendig für den Horizont der Moraltheologie,
weil nur von ihnen her die Erkenntnis, daß Vollkommenheit
in dieser Welt nicht zu erreichen ist, und die Bereitschaft zu
ständiger Veränderung zu gewinnen sind. Das betrifft keines
wegs nur den individuell-persönlichen Bereich, sondern erst
recht den sozialen, in welchem historisch begrenzte Realitäten
nicht mit einer ewigen gottgewollten Ordnung verwechselt
werden dürfen, wie das die Moraltheologie im Blick auf die
Einheit von Kirche und Staat jahrhundertelang getan hat. Die
Spannung zwischen gegenwärtiger Unvollkommcnheit aller
Strukturen, Institutionen und Ideale und der Hoffnung auf
eine zukünftige eschatologischc Vollendung darf von der
Moraltheologie nicht aufgelöst werden.

Das Buch Currans ist für die evangelische Theologie ein
weiterer Beleg für die Annäherung zwischen den Konfessionen
auf dem Gebiet ethischer Grundsatzfragen. Weithin vertritt
der Autor eine mittlere Linie, auf der ihm sowohl evangelische
wie römisch-katholische Theologen heute folgen können. Allerdings
kann man nicht verschweigen, daß echte Impulse für die
weitere Diskussion wohl eher von solchen Äußerungen und
Entwürfen ausgehen, die an einer Stelle diese mittlere Linie
verlassen und dadurch zum Widerspruch oder zur Übernahme
reizen.

Leipzig Joachim Wiebering

PRAKTISCHE THEOLOGIE

Tacke, Helmut: Glaubenshilfe als Lebenshilfe. Probleme und
Chancen heutiger Seelsorge. Neukirchen-Vluyn: Ncukirche-
ner Verlag des ErziehungsVereins [1975). 287 S. 8°.

Dieses Buch, aus der Arbeit im Elberfelder Predigerseminar
entstanden, liefert einen wichtigen und notwendigen Beitrag
zum poimenischen Prinzipienstreit, der durch die Wirksamkeit
der sog. Seelsorgebewegung ausgelöst worden ist. Zwar betont
der Vf. im Vorwort, daß es ihm nicht so sehr um den „Aufweis
der einander widersprechenden theologischen Positionen" ginge
als vielmehr „um den Versuch, in das von den Begriffen
.Glaubenshilfe' und .Lebenshilfe' markierte Spannungsfeld so
tief einzudringen, daß ihre Intentionen sich aufeinander beziehen
lassen" (5); aber für den Leser liegt doch in allen
Kapiteln der Schwerpunkt auf einer entschieden kritischen
Auseinandersetzung, die vom Standpunkt reformiert-barthia-
nischer Wort-Gottes-Theologie aus geführt wird (viel häufiger
als Barth und Thurneysen werden allerdings Iwand und
Miskotte zitiert, während R. Bohren, H.-J. Kraus und R. Frick
im Vorwort dankbare Erwähnung finden).

Im I. Kapitel äußert sich T. „Zum Funktionswandc! der Sccl-
sorge", den er etwa bei Autoren wie Clinebell, Scharfenberg.
Thilo und Stollberg feststellt, die sich vom kerygmatischen
Ansatz der dialektischen Theologie gelöst hätten und Scelsorgc
letzten Endes mit Beratung oder Therapie bzw. mit Kommuni
kations- und Lebenshilfe identifizierten. Auch Josuttis, der in
seinem Aufsatz „Die Ziele der scclsorgerlichcn Beratung" (in:
Praxis des Evangeliums zwischen Politik und Religion, 1974)
selber eine kritische Bestandsaufnahme moderner Scelsorge-
konzeptionen geboten hat, bleibt der Vorwurf einer „Abschwä-
chung des verbal-kcrygmatischen Elements zugunsten einer