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Ausgabe:

1978

Spalte:

746-748

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Lindemann, Andreas

Titel/Untertitel:

Die Aufhebung der Zeit 1978

Rezensent:

Fischer, Karl-Martin

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Theologische Litoraturzeitung 103. Jahrgang 1978 Nr. 10

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gründe in einem elitären Selbstverständnis, das sieh aus
der Anthropologie ergebe (2,2): Für die Gegner umfasse
die Heilsbedeutung Christi nicht die ganze Welt, sondern
sei auf ihren exklusiven Kreis beschränkt, der sich seihst
für sündlos gehalten und bei der Heilsbedeutung Jesu
daher nicht an die Sühne für die Sünden gedacht habe
(S. 58 und A. 138). Sie hätten die sozialen Bezüge wohl als
völlig gleichgültig angesehen. Eine solche Sicht habe keine
Änderung der gewohnten Praxis verlangt, da sie für
theologisch irrelevant angesehen worden sei. Bei den
Gegnern sei mit Menschen zu rechnen, die sich um ihre
materielle Sicherung keine Sorgen zu machen brauchten,
anscheinend ihren Lebensunterhalt hatten (3,17) und
daher wohl nicht aus den unteren Schichten stammten
(S. 59, vgl. S. 78). Zur Begründung dieser soziologischen
Einordnung beruft sich W. auf Irenaus (haer. 1,4,3), die
komplizierten theologischen Gedankengobäude in der
Gnosis überhaupt und speziell die Metaphern im gnosti-
schen Evangelium veritatis mit den Anforderungen an
eine hohe Allgemeinbildung (A.140). Theologiegeschichtlich
ordnet W. die Gegner auf einer Linie ein, die vom
Traditionskreis des Joh.-Evangeliums aus über Kerinth
in die christliche Gnosis führe. Der Vf. des ] Joh wehre sich
gegen eine Position, die das Joh.-Evangelium für sich
reklamiere (S. 61).

Im zweiten Teil, in dem W. die Entgegnung des Vfs.
des Uoh darzustellen sucht, arbeitet er das Bekenntnis
und die Bruderliebe als die den Gegnern entgegengesetzten
Hauptthemerl heraus. Im Bekenntnis behaupte der Vf. die
Identität von Jesus als dem Sohn Gottes und Jesus als dem
Christus. Zwar sei Jesus als Sohn Gottes bereits Inhalt des
Taufbekenntnisses, aber hier erhalte das Taufbekenntnis
mit der Behauptung der Identität von irdischem Jesus
und himmlischem Gottessohn einen neuen Akzent und
mache also diese Identität zum Kriterium von Rechtgläubigkeit
und Ketzerei (S. 64). Die Rechtgläubigkeit
weise sich durch ihre Traditionalität aus: Das von Anfang
an Gehörte sei das Richtige. Für die Richtigkeit des von
Anfang an Gehörten träten die ursprünglichen Zeugen ein,
denen sich der Vf. zurechne. Das ,,Wir" in 1,1 — 4 und
4,6.14 nieine nicht das „Wir" der Glaubenden überhaupt,
sondern bezeichne den von den Lesern deutlich abgehobenen
Kreis der ursprünglichen Zeugen, die als solche die
Garanten der Tradition seien (S. 65). Das Bekenntnis
gehöre eng mit der Bruderliebe zusammen, denn erstercs
halte für eine bestimmte Situation die die Liebe begründende
Tat Gottes fest (S. 74). Das Bekenntnis sei wahres
Bekenntnis nur in seiner Verwirklichung durch die Br uderliebe
(S. 75).

Die besondere Art der Pseudonymität des Uoh sei
in der Situation begründet. Der Brief beanspruohe, von
demselben Vf. wie das Joh.-Evangelium geschrieben zu
sein, um ilie Autorität des Evangeliums, die auch von den
Gegnern anerkannt sei, gegen diese selbst zu wenden
(A.149). W. vergleicht den Uoh am Schluß auch mit anderen
spätneutestamentlichen Schrift en und kommt zu
flem Ergebnis, daß der Vf. mit Jesus die Zeit nicht ans
Endo gekommen sehe, sondern die zwischen sich und
Jesus liegende Zeit als die christliche Ceschichto begreife,
deren Kpochencharakter sieh in der Wendung „bis jetzt"
(heoos arti) zeige: Während Conzelmann den Uoh einen
johanneisohen Pastoralbrief nannte, in dem der Frühkatholizismus
einen ersten Triumph feiere, hält W. diese
Charakterisierung für falsch, da der Vf. vielmehr die unauflösliche
Einheit zwischen Indikativ und Imperativ beschreibe
. Der Vf. habe es verstanden, die aus der Tradition
überkommenen Themen in der Herausforderung seiner
Zeit neu zu bedenken und in einer Weise zur Sprache zu
bringen, die den Vergleich mit der Vergangenheit durchaus
Aushalten könne (S. 79).

Insgesamt ist die Untersuchung ein geschlossener Entwurf
, dessen Thesen durch Heranziehung aller verwendbaren
Quellen und Berücksichtigung aller wichtigen neueren

und älteren Literatur und Fragestellungen zu sichern versucht
wird. Der Haupttext liest sich flüssig, während die
Auseinandersetzung mit der Fachliteratur in den insgesamt
192 Anmerkungen geführ t wird. Die Untersuchung
läßt mit Spannung nun auch auf den angekündigten
Kommentar warten. Man hätte sich nur auch schon hiev
einige wenige Andeutungen darüber gewünscht, wie W.
sich innerhalb der vorausgesetzten historischen Situation
nun die Stellung des 2. und 3. Johannesbriefes denkt.

Berlin Joachim Rohde

Lilldeiliunn, Andreas: Die Aufhebung der Zeit. Geschichtsverständnis
und Eschatologie im Epheserbrief. Gütersloh:
Gütersloher Verlagshaus Gord Mohn [1975]. 288 S. 8° = Studien
zum Neuen Testament, hrsg. v. G. Klein, W. Marxsen,
W. Schräge, 12. Kart. DM 52. —.

Diese Göttinger Dissertation präzisiert und verschärft
eine schon von Hans Conzelmann anvisierte These"
dahin, daß der Epheserbrief allo Zeitkategorien aufgehoben
habe und daß an ihre Stolle Raumbegriffe getreten
seien. L. will aufzeigen, „daß sich für den Verfasser des
Briefes Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zeitlieh zu
einer Einheit verbinden . . . Thema dieser Theologie ist
unter dem Gesichtspunkt der Zeit ausschließlich die
Gegenwart der Christen" (237). „Es geht dem Brief um
den Entwurf einer Ekklesiologie, verstanden als Ontologie
einer zeitlosen Kirche" (248).

Die Brisanz dieses kühnen und mit Scharfsinn fundierten
Entwurfes wird noch deutlicher, wenn man sich die
gegenwärtige Diskussion um den Epheserbrief verdeutlicht.
Weitgehend ist man der Auffassung, daß Eph das durchschnittliche
lirchristliche Geschichtsverständnis vertritt,
während Ernst Käsemann im Epheserbrief eine ausgeführte
Theologie der Heilsgesehichte sieht und Eph so in der
geistigen Nachbarschaft mit Lukas sieht. L. dagegen sieht
Eph in geistiger Nachbarschaft zu Johannes, den Eph aber
noch überholt, weil zwar beide die Apokalyptikeliminieren,
Johannes aber dennoch an der Erwartung der Zukunft
festhält. „Der Epheserbrief begreift — geradezu im Gegensatz
zum Johannesevangelium — die Existenz der Christen
von der Aufhebung der Zeit her. So wie der Kampf der'
Kirche gegen die Mächte im Himmel entschieden ist, so ist
auch das Loben der Christen bereits an sein Ziel gekommen,
die Christen sind schon ,in Christus' im Himmel" (259).
Heide weisen auch darin Ähnlichkeit auf, daß sie gnostisches
Denken In ihre Theologie übernommen haben. „Johannes
hat die mythologischen Aussagen auf die Erscheinung
Jesu als des Offenbarers in der Welt bezogen, sie also
geschichtlich gedeutet. Der Autor des Epheserbriefes
dagegen hat weniger die Mythologie selbst als vielmehr'
die mit ihr verbundene Eliminierung der Zeit übernommen
und jede Bezugnahme auf die Geschichtlichkeit des Heilsgeschehens
vermieden" (259).

Kür diese neue theologische Ortsbestimmung des Eph,
der sich für L. durch sein Zeitverständnis fundamental von
Paulus abhebt, kann sich L. auf eine Reihe nicht zu
leugnender Textbefunde stützen. Die Art und Weise, wie
im Aorist von der Auferwookung der Christon und ihrer
schon erfolgton Versetzung in die Himmel gesprochen wird,
zeigt unzweifelhaft ein fundamental arideres Zeitverständnis
als das des Paulus, weil der eschatologische Vorbehalt
aufgegeben ist. L. zieht daraus die Konsequenz, „daß die
Christen mit einer .eschatologischen' Entwicklung, einem
,Ziel der Geschichte', nicht mehr zu rechnen haben. Eine
Parusie, eine allgemeine Totenerweckung wird es nicht
geben — es kann sie gar nicht geben, denn ,uns, dio wir
tot waren, hat Gott in Christus lebendig gemacht'" (132f.).
Freilich scheint mir L. in der letzten Ausführung den
Bogen zu überspannen, aber der Ausgangspunkt ist ein-