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Ausgabe:

1978

Spalte:

681-683

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Becker, Wilhard

Titel/Untertitel:

Christen nehmen Stellung, Gruppendynamik 1978

Rezensent:

Schulz, Hansjürgen

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giegeschichtliche (53ff.) und patristische Entwicklung (86ff.) sowie
„der neue ökumenische Konsensus über die Tradition"
(einschl. der orthodoxen Theologie, 70ff.) herangezogen. Dabei
zeigt sich ein Offenbarungsverständnis, das — vergröbernd beschrieben
— die Uberlieferung einschließt und ein überliefe-
rungsverständnis, das die Offenbarung einschließt, wenn von
„Offenbarungstradition" gesprochen wird. Dem „Weg der Of-
fi-nbarungstradition durch die Geschichte" ist dann auch das
Kap. IV (130ff.) gewidmet, in dem es zu interessanten Konfrontationen
mit philosophischen und theologischen Konzeptionen
der Gegenwart kommt (Betti, Bultmann, Skydsgaard, Kinder,
Gadamer, Moltmann, Pannenberg). Hier wird der Leser angeregt
, dem übergreifenden Problem von Offenbarung und Geschichte
erneut nachzudenken, teils den bekannten vorgestellten
Konzepten, teils dem durch Dei Verbum postulierten „ganzheitlichen
und dvnamischen Uberlieferungsbegriff" (156), der eher
den patristischeu und orthodoxen Ergebnissen entspricht als
„dem Problemiunizont der westeuropäischen und spezifisch
deutschen Geistesgeschichle" (ebd.). In Dei Verbum verhilft sich
ein Zug der Theologie zum Durchbruch, der die Grenze der
„Reflexionstheologie" bewußt überschreitet und Offenbarungsüberlieferung
denken kann als Wirklichkeit, als Lebensvollzug,
als „geistliche Theologie" (G. Voss); ein Zug der Theologie der
70er Jahre, der eine Wurzel in der konziüaren theologischen
Entwicklung haben mag. Die Kapitel V (Die Geschichte der
Offenbarungstradition und die Entstehung des neutestament-
lichen Kanons, 156ff.), VI (Das gegenseitige Verhältnis zwischen
Überlieferung und Heiliger Schrift, 167ff.), VII (Das Verhältnis
der Tradition und Schrift zur Kirche und ihrem Lehramt
, 189ff.) und VIII (Die Überlieferung des Glaubens und die
Einheit der Kirche, 2l8ff.) können dann altbekannte Themenstellungen
unter der Voraussetzung des entwickelten Verständnisses
von Offenbarungstradition neu verhandeln.

Das vorliegende Buch versteht sich bewußt als ökumenischer
Beilrag zum Verhältnis röm.-katholischer und evangelischer
Theologie. Dem entspricht der durchweg wohlwollende und ver-
stehensbereite Umgang mit den Konzilstexten. Vf. hat die Debatte
um das überlieferungsversländnis an ihrer Wurzel zu fassen
versucht, was vor allem die Überlegungen zur jeweiligen
geistesgesehichtlichen Verflochtenheit, Überlieferung bzw. Tradition
theologisch-denkerisch zu bewältigen, eindrucksvoll belegen
. Wie sehr die Bibel bzw. die Offenbarung selbst dabei
zum alleinigen Mittelpunkt der Auseinandersetzung wird, läßt
das reformatorische „sola scriptura" von einer völlig anderen
Seite begreifen. Das führt auch zu zwei Anfragen, die ebenso
Interesse, Anerkennung und Dank für diese Arbeit unterstreichen
wollen: 1. Entspricht dem ganzheitlich-dynainischen Traditionsbegriff
von Dei Verbum auch die Behandlung des Bibeltextes
bzw. dessen Auslegung in der Konstitution? 2. Es könnte sein,
daß unter dem Rindruck der tatsächlich vollzogenen Abwendung
von der Zweiquellenthcorie (vgl. das trideutinischc partim-
partim) in Dei Verbum gelegentliche Formulierungen der Texte
in ihrem schillernden Charakter (der zweifellos als Zugeständnis
an die „konservative Minderheit" zu werten sein mag, gegen
168; nicht ernst genug genommen wurden (als Beispiel sei
nur auf den ersten Satz Dei Verbum Nr. 24 verwiesen). — An
Druckfehlern fällt auf die falsche Schreibweise von folgenden
Namen: D. Arenhoevel (231), S. Kierkegaard (233), H. A.
Oberman (14, 166, 187, 212, 233). Im Autorenregister muß
unter dem Namen U. Kühn die Anmerkungsziffer zur S. 18 in 4
geändert werden.

Leipzig Martin I'etzoldt

PRAKTISCHE THEOLOGIE

Becker, Wilhard, Gudjons, Herbert, U. Dieter Koller: Christen
nehmen Stellung: Gruppendynamik. Eine Orientierungshilfe
in der aktuellen Auseinandersetzung. Kassel: Kühne [1974].
85 S. 8°. DM 9,80.

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Die Verfasser wollen in die vorurteilsreiche Auseinandersetzung
um die Anwendung der Gruppendynamik (GD) innerhalb
der kirchlichen Arbeit in der BRD durch Informationen,
Erfahrungsdarstellungen und theologische Reflexionen Klärungen
zu bringen versuchen.Die drei Teile sind durchaus unterschiedlich
— in ihrer Ausführlichkeil wie in der Argumen-
talionsstruktur.

Im ersten Teil (9—51) geht Herbert Gudjons von den vier
Versländnisrichtungen der GD aus: „als Bezeichnung von Vorgängen
in Gruppen, als wissenschaftliche Gruppenforschung,
als Bündel von Methoden zur Selbsterfahrung in Gruppen-
piozessen und als politische Ideologie". Einem kurzen Blick
in die Entstehung der GD schließt sich die Benennung ihrer
Ziele an; dabei wird von der angewandten GD (Trainingskurse
) ausgegangen: Persönlichkeitsreifung durch Selbstkon-
frontierung, Sensitivität in der Sozialwahrnehmung, Verbesserung
der Kooperationsfähigkeit im Erleben und Reflektieren
von Gruppenprozessen, partnerschaftliche Kommunikation und
Begründung von Autorität, Übertragung in den Alltag. Nach
einer schematischeu Darstellung der vielfältigen Anwendungsbereiche
— mit der grundlegenden Unterscheidung zwischen
Gruppentherapie und Gruppentraining — stellt Vf. die wichtigsten
Arbeitsprinzipien der GD dar. Alle basieren auf dem
Gruppenzugehörigkeitsgefühl als einem zentralen Merkmal der
gesunden Persönlichkeit: Erleben und Erfahren statt Belehrung
und Appell, Unterscheidung der Ebenen des manifesten
Verhaltens und der latenten Einstellung, Unmittelbarkeit
(Prinzip des „hier und jetzt"), Rückspiegelung von Verhaltensweisen
und Wahrnehmen von Gefühlen. Diese knappe übersieht
enthält auch die Abwehr von Mißverständnissen und
„Pfuscherei" in kirchlichen Kreisen. Sie läuft zu auf die Darstellung
der Konzeption und Praxis der „Seelsorge durch die
Gruppe", einem Arbeitszweig der Ruferarbeit e. V. (32—51).
Organisation, Methodenvielfalt, Probleme der Anwendung in
der kirchlichen Oemeindearbeit werden unter der Leitlinie beschrieben
, mit Hilfe der Gruppendynamik christliche Gemeinschaft
, den „Christus im Bruder" und das Wirken des Heiligen
Geistes intensiver zu entdecken. „Dabei muß . . . ein Gcgenein-
anderausspielen von ,Verkündigung' und ,Lebenshilfe' ebenso
überwunden werden wie der Verdacht eines Ausverkaufes der
Seelsorge . . ." (34).

Im zweiten Teil (52—69) stellt Dieter Koller in einem sehr
vereinfachten Überblick die „Dynamik der Neuzeit" der „Dynamik
des Glaubens" gegenüber. Die „Sturmwellen" naturwissenschaftlicher
, historischer, psychologischer und soziologischer
Forschungen sind Herausforderungen der Christenheit,
auf die diese mit „einer neuen theologischen Deutung der (im
Jesusgeschehen) human gewordenen Gottheit Gottes" zu reagieren
haue (58). Von hier aus werden Kriterien zur theologischen
Deutung der GD entwickelt: „Gute Früchte" (Mt 7,20;
Phil 4,8), ein lebendiges Gemcindeleben, ein neuer Blick für
die befreiende Wirkung Christi und die Intensivierung der
Goltesbeziehung sind gute Hilfen der GD für christliche Gemeinden
heute. Es gibt keine „christliche Gruppendynamik";
die Christen sind frei und dazu berufen, ihr Verhältnis zur
Wirklichkeit zu entdämonisieren und ihr Verhältnis zueinander
zu entstöreu (IKor 10,25 und 12,21).

Der dritte und letzte Teil (70—82) stammt von Wilhard
Becker. Hier wird das Verhältnis von „Dynamik der Gruppe"
zur „Dynamik des Heiligen Geistes" untersucht. Nicht Identifizierung
oder Alternative, nicht einfache Addition, sondern
„Integration" soll das Verhältnis bestimmen. Dabei ist „die
Dynamik des Heiligen Geistes das Primum, die Dynamik der
Gruppe als wissenschaftliche Arbeitsmethode kann dazukommen
. Es geht hier nicht um eine quantitative, sondern um eine
qualitative Unterscheidung" (73). An sechs Beispielen (durch
suggestive Fragen eingeführt) wird die „Integration" der GD
in die Seelsorge durchdacht: 1. Selbsterfahrung — ein Ersatz
für Buße und Beichte? 2. Interaktionsfähigkeit — ein Ersatz
für Gemeinde? 3. Akzeptierlsein — ein Ersatz für Erlösung?
4. Autonomie — ein Ersatz für Mündigkeit? 5. Gegenseitige
Wertschätzung und emotionale Wärme als Ersatz für Agape?

Theologische Literaturzeitung 103. Jahrgang 1978 Nr. 9