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Ausgabe:

1978

Spalte:

676-677

Kategorie:

Psychologie, Religionspsychologie

Autor/Hrsg.:

Fischer, Hermann

Titel/Untertitel:

Gespaltener christlicher Glaube 1978

Rezensent:

Jenssen, Hans-Hinrich

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Theologische Lileraturzeitung 103. Jahrgang 1978 Nr. 9

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Wiesel, Barbara B.: Frorn separatism to evangelism: a case
study of social and cultural chauge among the Franconia
Conference Mennonites (Beview of religious research 18, 1977
S. 254-263).

PSYCHOLOGIE UND
RELIGIONSPSYCHOLOGIE

Albrecht, Carl: Psychologie des mystischen Bewußtseins. Mainz:

Matthias-Grünewald-Verlag [1976]. 264 S. 8°. Lw. DM 32,-.

In diesem unveränderten Nachdruck des 1951 erschienenen
Werkes beschreibt der Bremer Arzt und Philosoph mit einem
hochdifferenzierten Begriffssystem Versenkung, Versunkenheit
und mystisches Bewußtsein.

Versenkung ist ein zweistufiger Prozeß, der zum Endzustand
der Versunkenheit führt. Versenkung ist eine Herauslösung aus
der Umwelt. Wahrnehmung und Empfindlichkeit für Sinnesreize
sind vermindert, die Schmerzempfindung herabgesetzt. Die
im Leib verwurzelten Triebkräfte sind beruhigt, die geistigen
Triebkräfte wandeln sich. Versenkung wird durch einen vorlaufenden
Willensakt eingeleitet, aber in ihr selbst fehlt jeder
aktive Wille. „Ich überlasse mich dem, was geschieht."

Versunkenheit ist „ein voll integrierter, einheitlich und einfach
gefügter, überklarer und entleerter Bewußtseinszustand,
dessen Erlebnisstrom verlangsamt ist, dessen Grundgestimmtheit
die Buhe ist und dem als einzige Funktion eines nur noch
passiv erlebenden Ichs die Innenschau zugeordnet ist". Es ist
ein fließendes Erleben. Die Gefühle bekommen Tiefendimension
. Bildhaft meditative Vergegenwärtigung wird möglich. Der
Versunkene kann sprechen. Seine Sprache ist die unmittelbare,
unreflektierte Verleiblichung des Eindrucks.

Mit dem Begriff „das Ankommende" bezeichnet Albrecht eine
als außerbewußt gedachte Ganzheit, die in der Versunkenheit
zunehmend bewußt wird. Er unterscheidet acht Formen des Ankommenden
. Es kann ein abgespaltenes Sein oder ein Teilbereich
des Selbstes sein. Das Ankommende wird als etwas
schlechthin Fremdes und ganz anderes erlebt. Es hat somit den
Charakter des Numinosen. Zugleich hat es die Erlebnisqualität
eines letztlich unerkannten Seins, „auf dessen ganzheitliche Einheit
alle vergangenen, gegenwärtigen und zukünftigen Erlebnis.-
gehalte in unerkennbarer Weise Bezug haben". Albrecht nennt
das Ankommende darum auch „das Umfassende" (nicht zu ver-
wechesnl mit dem Umgreifenden bei K. Jaspers). Dieses Umfassende
kann als apersonales oder als personales Sein erfahren
werden. Zwischen diesen beiden Polen sind alle Ubergänge
und Nuancen möglich: es kann allumfassende Buhe, das allumfassende
Nichts, die Leere sein, es kann als „das Ur", „das
All-Leben", „das Urherz", „die Urliebe", „das Urlicht" oder
„die Urschönheit" oder einfach als „EB" erfaßt werden.

Mit diesem differenzierten Kategoriensystem kann Albrecht
sämtliche Spielarten des mystischen Bewußtseins einordnen
und deuten. Mystik im engeren Sinn ist nach seiner Meinung
die Erlebnisweise, bei der die Subjekt-Objekt-Spaltung noch
vorhanden ist. Versunkenheit kann aber immer in ekstatisches
Bewußtsein übergehen. Dann ist die Subjekt-Objekt-Spaltung
aufgehoben oder eingeebnet. Ekstatisches Erleben des Umfassenden
ist Mystik im weiteren Sinn.

Das Buch von Albrecht gibt keine Anweisung zur Technik
der Versenkung, sondern ist eine phänomenologische Bestandesaufnahme
von meditativen und mystischen Erlebnisweisen und
zugleich der Versuch, Offenbarung psychologisch zu beschreiben.
Da die heutige Beligionspsychologie meistens von tiefenpsychologischen
Ansätzen her denkt, ist es ziemlich schwer, von Albrecht
aus, der nicht über die Voraussetzungen seiner Betrach-
tensweise nachdenkt, eine Brücke zu schlagen zu dem, was die
Forscher auf diesem Gebiet gegenwärtig beschäftigt.

Heinach-Basel W. Neidhart

Fischer, Hermann: Gespaltener christlicher Glaube. Eine psychoanalytisch
orientierte Beligionskritik. Hamburg—Bergstedt:
Reich 1974. 137 S. gr. 8'.

„Freuds I^ehre und kirchliche Lehrnieinung sind mit Sicherheit
nicht zu vereinbaren", stellt Hermann Fischer gleich auf
der ersten Seite seines Buches fest. Und so versucht er denn
als evangelischer Pastor und ausgebildeter Psychoanalytiker die
Hcligionskritik Sigmund Freuds auf ihre Berechtigung hin zu
prüfen. Abgekürzt sieht das Ergebnis dieser Prüfung so aus:
Bezüglich der Entstehung des Jahveglaubens und israelitisch-
jüdischer Religion gibt Fischer den von Freud in „Totem und
Tabu" (1921) entwickelten Grundanschauungen recht und versucht
durch eine Exegese von Genesis 2, 3 und 4 deutlich zu
machen, daß in diesen jahvislischen Erzählungen „uraltes Quellenmaterial
" enthalten sei, in dem noch die Erinnerung an den
Vatermord der Urhorde durchschimmere. Das Passahmahl wird
als ursprüngliche Totemfeicr interpretiert. Obwohl es — jedenfalls
grundsätzlich gesehen — problematisch ist, psychologisch-
genetische Frage und Geltungsfrage miteinander zu verquicken,
meint Fischer: „Der Jahwe-Glauben wird mit dem Wissen um
seine Entstehungsgeschichte als Offenbarung Gottes radikal in
Frage gestellt''. Dies obwohl Fischer sehr klar darlegt, daß sich
auf der von ihm beschriebenen psychologischen Basis in der
israch tischen Religion ein wirksames Gewissen entwickeln
konnte und der jüdische Gottesglaube in der Welt einmalig dastehe
. Die Kritik von Fischer an Freud setzt dort ein, wo Freud
auch noch Jesus im Rahmen der Religionsgeschichte des To-
temismus interpretiert. Hier sei Freud „ein schwerwiegender
Fehler" unterlaufen. Unter Berufung auf Emanuel Hirschs
„Frühgeschichte des Evangeliums" legt Fischer dar, daß den
historische Jesus sich gerade nicht in einer Schuldgemeinschaft
mit seinem Volk gewußt habe, vielmehr nicht zuletzt durch seinen
freiwilligen Opfertod „sein Volk aus der Knechtschaft eines
mächtigen Glaubens lösen wollte, der durch einen Mord in der
Urzeit eine so tyrannische Macht über die Menschen gewonnen
hatte" (S. 31). Jesus hat den Glauben seiner Väter hinter sich
gelassen, wollte sein Volk von Jahve, dem archaischen Vatergott
befreien. Zwar behielt er den Vaternamen für Gott bei,
aber im Sinne eines partnerschaftlichen Gottes, der seine Kinder
in mündige Freiheit entläßt. Der Kreuzestod Jesu macht
deutlich, daß „der Glaube an einen Gott, vor dem ein Mensch
etwas gilt,. . . ein Wunschtraum der Menschheit" bleibt, „der
sich als Illusion erweist" (S. 36). Der „urmenschliche Wunsch
nach göttlichem Schutz" ist „ein für allemal erledigt". „Strafendes
oder hilfreiches Eingreifen einer höheren Macht würde
zwar unsere Schuldenlast verringern, aber unser Kapital hätten
wir dann auch verspielt" (S. 133). Schon in den Evangelien ist
der historische Jesus, für den das Gleichnis von den verlorenen
Söhnen, die Perikope vom Durchzug durch Samaria usw. charakteristisch
sind, durch jüdische Einflüsse übermalt. Vor allem
aber hat Paulus dann „dem Geist Jahwes im christlichen Glauben
Geltung verschafft" (S. 38). Paulus wird, ebenso wie anschließend
Luther, recht ausführlich analysiert. Er war infolge
mißglückter Verdrängung starker Triebkräfte, wahrscheinlich
homosexueller Natur, neurotisch erkrankt. Das Wesen seiner
Bekehrung ist das Umschlagen eines religiös verkappten Sadismus
in einen religiösen Masochismus, der sich in seiner Leidenstheologie
und -frömmigkeit niederschlägt, die in starkem
Anschluß an Albert Schweitzers Mystik des Apostels Paulus
dargelegt wird. Die Frage, ob solche Paulusinterpretation die
Glaubwürdigkeit der christlichen Botschaft antasten könne, erhält
die Antwort: „Das könnte nur der Fall sein, wenn der
christliche Glaube unlösbar mit paulinischer Theologie verbunden
bliebe" (S. 75). Die Ambivalenz, die Luther beherrschte,
wird in Anlehnung an Erik Eriksons bekanntes Buch über den
jungen Mann Luther dargelegt. Sein Glaubenslebcn war „von
unvereinbaren Gegensätzen gekennzeichnet" (S. 106). Leider
blieb ihm „die archaische Vatergottheit" „eine unumstößliche
Bealität, unantastbar bezeugt durch die Urkunden des Alten
und Neuen Testaments, bestätigt aber auch durch seine Erfahrungen
im Kampf gegen eine brutale väterliche Autorität"
(S. 107). Zwar verbindet Paulus und Luther, daß beide unter