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Ausgabe:

1978

Spalte:

669-670

Kategorie:

Kirchengeschichte: Neuzeit

Autor/Hrsg.:

Brakelmann, Günter

Titel/Untertitel:

Kirche, soziale Frage und Sozialismus 1978

Rezensent:

Grote, Heiner

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Seite 1

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teil Mittelgruppe konnte hier im Unterschied zu anderen Kir-
chenprovinzen nicht die Rede sein (1933 auf ca. 220 beziffert,
rechnete inan 1936 nur noch mit etwa 100 Mitte-Pfarrern in
Westfalen, da 1934 nicht nur — wie schon 1933 — Deutsche
Christen zur Bekennenden Kirche überwechselten, sondern auch
sog. Neutrale sich in die Entscheidung gedrängt sahen, zumal
„es gegenüber der ab Ende 1934 in Westfalen siegreichen BK
schwerfiel, eine neutrale Position zu halten, ohne als Sympathisant
der DC angesehen zu werden" (81).

Die Arbeit von Bernd Hey bietet in arbeitsaufwendiger Konzeption
auch ein Kapitel über die kirchlichen Vereine, Verbände
und sozialdiakouischen Einrichtungen. Der Vf. weicht
auch grundsätzlich dem Problem von Evang. Kirche und NS-
Regime nicht aus, obwohl in diesem kurzen — auf bisherige
Literatur gestützten — Abschnitten (29(f., 243ff.) kein Proprium
der Arbeit gesellen werden kann. Doch sind territorialgeschichtliche
Ausführungen über das religionspolitisch unterschiedliche
Verhalten des Oberpräsidenten Ferdinand v. Lüuinck (Münster)
und der drei Regierungspräsidenten im Kontext auch von
Maciiinationen der NS-Partei und der Gestapo wichtig. Während
die Deutschen Christen bei dem — katholischen — Ober-
präsidenlen nichts erreichten, auch NS-Gauinspckteur Hohmann
warnte vor weiterer Identifizierung der NSDAP mit ihnen im
Frühjahr 1934, sprachen sich die drei Regierungspräsidenten
durchaus noch für die Deutschen Christen aus, denen die
NSDAP nicht in den Rücken fallen dürfte. Interessante Beratungsprotokolle
, zumal für das Jahr 1934, zeigen die Zwiespältigkeit
und starken Differenzen in der Beurteilung des
Kiichenkampfes durch diese staatlichen Exponenten, so daß
sich von daher kein Anhaltspunkt gibt, zwischen staatlichem
Kurs und davon unterschiedener Linie der NS-Partei auf Pro-
viuzialebenc scharf zu trennen; zumindest zeigen sich im
staatlichen Bereich erhebliche Konzeptionsverschiedenhciten
im religionspolilischen Kalkül (249ff.).

Die theologischen Auseinandersetzungen sind nur gestreift.
Vf. begründet das damit: sie ließen sich im Rahmen einer territorial
-geschichtlichen Arbeit nicht beschreiben. Die Beschränkung
(Vf. ist Historiker, nicht Theologe) nimmt sich im Ge-
samtkontext der Arbeit positiv aus, vermeidet somit jeden
Dilettantismus und ebenso die bei tcrritorialgeschichtlichen Arbeiten
gar nicht so seltenen ermüdenden Wiederholungen auf
diesem Gebiet, die dem Kundigen nichts besagen und dem
Unkundigen wenig nützen. Ein Kapitel XVIII (Zur Quellen-
und Litern tu rlage) schlüsselt Quellen und Literatur vorbildlich
auf und bietet einige Seiten informative Quellenkunde.

Korrigendum: S. 120 muß es Reichsbruderrat heißen (nicht
altpreuß. Bruderrat). — Das Schaubild über die DC-Bewegungen
(S. 149) ist nicht ganz konzinn.

Leipzig Kurt Meier

Brakclmann, Günter: Kirche, soziale Frage und Sozialismus.
1: Kirchenleitungen und Synoden über soziale Frage und
Sozialismus 1871—1914. Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus
Gerd Mohn [1977]. 270 S. 8° = Protestantismus und Sozialismus
, hrsg. v. G. Brakclmann u. K. Peters, 3. Kart.
DM 42,-.

Die Arbeit der Forschung mündet in zwei editorische Haupt-
formen ein: in unkommentierte oder kommentierte Quellenangaben
und in synthetisch nacherzählende oder analytisch
auswertende Darstellungen. Für Darstellungen sprechen alle
Gründe der Wissensübermittlung überhaupt. Quellenausgaben
aber können sich aus drei Gründen als nötig erweisen: a) daß
Quellen sehr alt sind und dem Vergessen oder dem Verlust
entrissen werden müssen, b) daß sie selten oder gar einzig sind
und c) daß die von den Quellen berührten Fragen verworren
oder umstritten sind.

Es dürfte ganz überwiegend letzterer Grund sein, der die von
Brakelmann in Angriff genommene Quellenausgabe, von der
nun Band l vorliegt, rechtfertigt: „Um zu einem differenzierten

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verantwortbaren Gesamturteil kommen zu können", schreibt
der Herausgeber (und das hat Konsequenzen auch für den
Rezensenten), „müssen die Stellungnahmen und Aktivitäten der
freien Verbände des Protestantismus im zweiten Reich hinzugenommen
werden. Diese sollen in einem nächsten Band dokumentiert
werden wie in einem weiteren die theoretische und
praktische Tätigkeit einzelner Persönlichkeiten im Kirchen- wie
im Staatsdienst" (S. 8). Es gilt hier, daß evangelisches Kirchen-
tum nach seinem Selbstverständnis wesentlich nicht nur
aus Kirchenleitung und Synode besteht. Und es gilt hier, daß
Institutionen zu ihrer Fort-Bildung und Metanoia wesentlich
der Auseinandersetzung mit nicht-volleingeständeten Gliedern
und Gruppen bedürftig sind.

Die im vorliegenden Band gebotenen Quellenstücke (48) beziehen
sich fast ausschließlich auf das Gebiet der altpreußischen
Union. Für dieses Gebiet sind sie zweifellos vollständig und
durchaus repräsentativ. Aber auch die übrigen evangelischen
Kirchenleitungen im Deutschland jener Jahre haben gelegentlich
zu sozialer Frage und Sozialismus Stellung genommen. Es
sind da Stimmen laut geworden, die dem jeweiligen Kurs in
Preußen im guten wie im schlechten Sinne entgegenzusteuern
geeignet waren. Und so möchte man Herausgeber und Verlag
bitten, mit einem vierten Band die Dokumentation wirklich
abzurunden.

Brakelmann stellt den Dokumenten (etwa 200 Seiten) eine
erläuternde Einführung (etwa 40 Seiten) voran. Seine engagierten
Überlegungen und Anmerkungen führen die Fragwürdigkeit
fast aller bisherigen Denk- und Deutungsschemata — sowohl
die, die sich in den Quellen aussprechen, als auch die in
der kirchlichen und wissenschaftlichen Diskussion seither — vor
Augen. So aufgeschlüsselt werden die Quellen nicht nur zum
Paradigma für die Jahre 1871 bis 1914, sondern auch zum
Menetekel für die weitere kirchliche, sozialpolitische und staatliche
Entwicklung in Deutschland.

Der historische Abstand an sich schon vermag Äußerungen
von einst entweder zu adeln oder aber in ihrer ganzen Unzulänglichkeit
und Banalität zu enthüllen. Der Leser und Interessent
sei deshalb gewarnt, sich auf einem Stand höherer Erkenntnis
zu wähnen. Das soziale Schisma von einst — das auch ein
Glaubensschisma war und beide Seiten der Rechtgläubigkeit
verlustig gehen ließ — wirkt fort, erscheint heute nur stärker
aufgeteilt und ist jedenfalls im internationalen Verhältnis mit
Händen zu greifen. Die von Brakelmann erstellte Dokumentation
kann und sollte eine Hilfe sein zum Umdenken und Neudenken
, zum Umfühlen und Mitspüren auch hinsichtlich der
heute brennenden Sozialprobleme im Weltmaßstab.

Für die noch ausstehenden Bände sei hier der Wunsch angemeldet
, die Texte entweder buchstaben- und zeichengetreu
abzudrucken oder aber konsequent umzuschalten auf die heutige
Orthographie und Interpunktion. Quelleneditionen leben
von ihrer Akkuratesse und dürfen für künftige Benutzer keine
Zitationsschwierigkeiten mit sich bringen.

Bensheim Heiner Grote

KIRCHEN- UND KONFESSIONSKUNDE

Molland, Einar: Kriltenhetena kirker og Irossamfunn. 3. Aufl.

Oslo: Gyldendal Norsk Forlag 1976. 424 S. 8°.

Einar Molland, (1908-76), Universität Oslo, war ein hervorragender
Kirchenhistoriker, bekannt als Patristiker, aktiver
Ukumeniker (Vorsitzender der Weltkonfercnz für Glauben und
Kirchcnverfassung, Montreal 1963, lutherischer Vorsitzender für
das lutherisch/katholische Gespräch — Malta-Hnpport) und
Ehrendoktor von Strasbourg, Uppsala und Durham. E. M. war
Mitglied einer Heihe von wissenschaftlichen Gesellschaften, u. a.
der Academia Scientiarum Goltingensis. Sein Hauptwerk ist unbedingt
das Handbuch für Konfessionskunde. Die erste nor-

Theologische Literaturzeitung 103. Jahrgang 1978 Nr. 9