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1978

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Neues Testament

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Neuerscheinungen

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ist, wie sie sich dem Unglauben enthüllt, so ist er nichts anderes
als die Gerechtigkeit eines vom Menschen gemachten Gottes
, eines Gottes, der nicht Gott ist. ,Gott des Zornes' ist in
Wirklichkeit der ,Herr dieser Welt', ,der Geist, der in der Luft
herrscht', das krampfhafte und sinnlose Toben der Elemente,
jener Herr, jener Geist, jenes zerstörerische Walten, das der
Mensch in seinem finsteren Entsetzen, in seinen wirren Hoff-
nungsträumen, in seinem Mangel an Liebe, in der Blindheit
seines Herzens für allmächtig hält, (weil er es) nicht im Licht
der Wahrheit (sieht). Das Widerspiel eines solchen Gottes, der
nicht Gott ist, ist der Gott-Vater, den Paulus kennt; der Gott
des Erbarmens, der keine Zorngefühle hegt; der Gott der Vergebung
, der von Sünde erlöst; der Gott der Liebe, der den
Sünder hebt; der allmächtige Gott, der rettet und erbaut."
(I 227).

Das Wesen des Zorn übenden Nicht- oder Gegengottes enthüllt
sich im Verhalten zu seiner Welt — der Welt, in der der
Mensch lebt. „Wahrhaftig! ein seilsamer Gott ist dieser Gotl!
Er ist allmächtig, hätte also eine vollkommene Welt schaffen
können. Aber er hat sie unvollkommen erschaffen. Er hätte das
Herz des Menschen unwandelbar gut machen können. Aber er
hat es böse gemacht oder doch zugelassen, daß es böse wurde.
Er könnte — auch heute noch — die Welt und das Herz des
Menschen verwandeln. Aber er will nicht und verschiebt die
Erlösung oder Neuschöpfung auf das Ende der Zeiten. Indem
er die Erlösung verschiebt, verschiebt er zugleich die herrliche
Offenbarung seiner Güte und Macht, ja sogar (den Tag) seiner
Ereude. Er zieht es vor, seine Schöpfung unvollkommen und
unglücklich zu lassen und sich über ihre Unvollkommcnheit zu
erzürnen, indem er jeden Augenblick, der verstreicht, seinen
Zorn neu entflammt. Sein Werk reut ihn dauernd — gleichwohl
bleibt er unerschüttert hartnäckig, es nicht vervollkommnen zu
wollen — es sei denn, am jüngsten Tage. Ein seltsamer Gott!
Er hat die Macht eines Gottes, aber das verstockte Herz eines
Menschen. Paulus erkannte, wie gesagt, genau das als den Grundirrtum
der Juden, daß sie in all ihrem Eifern um Gott ihm
ihre Gerechtigkeit beilegten, die Gerechtigkeit gnadenloser Menschen
, nicht die liebevolle, grenzen- und vorbehaltlose Gerechtigkeit
, die allein die Seine ist und sein kann." (I 260). Es gibt
für M. kein treffenderes Urteil über die von diesem Gott geschaffene
Welt als das des Predigers: „Es ist alles ganz eitel."

Die Frage: „Ein Marcion redivivus?" drängt sich unabweisbar
auf. Fraglos entspringen so outrierte Formulierungen einer religiösen
Haltung und Stimmung, die der Tiefe des religiösen Erlebens
entsprechen, wie es Harnack, selbst leidenschaftlich davon
ergriffen, in seinem Marcion-Buch aufleben läßt. Das wird erst
recht deutlich, wenn man das positive Widerfahrnis der Begegnung
mit dem paulinischen Evangelium bei Marcion und Mad-
dalena vergleicht. Was Marcion in die Worte von dem „Wunder
über Wunder, Verzückung, Macht und Staunen" über das unausdenkbare
, unaussprechliche, unvergleichbare Evangelium kleidet
, äußert sich bei Maddalena in dem unablässigen, oft Seite
für Seite wiederholten Preis des paulinischen Vangelo del Figlio
di Dio crocefisso e risorto. Hier verwandelt sich Schmerz in
Jubel, das Kreuz in die Erfahrung von Gottes Liebe, die ver-
gtngliche Existenz in wahres Leben.

Erstaunlich ist, daß Maddalena selbst diesen Bezug nirgends
herstellt. Geschieht es deshalb, weil seine Konsequenzen
denen Marcions gänzlich entgegengesetzt sind? Denn in der Tat
trennt Maddalena nicht den inferioren, bösartigen, in bezug
auf Wissen, Einsichten und Macht beschränkten, „gererhten"
und zugleich moralisch suspekten, aus seiner Schöpfung bekannten
und ihr doch zürnenden Schöpfergott des Alten Testaments
von dem „fremden", unsichtbaren, im dritten Himmel
lebenden, sich allein in Christus Jesus offenbarenden guten Gott,
dem Erlöser der ganzen Menschheit. Vielmehr unterscheidet er
zwischen dem nlttestnmentlich-jüdischen Glauben an Gott als
den fernen, unbekannten, zürnenden, erst am Ende aller Tage
lieh zu welterlösendem Handeln herablassenden und dem
G1 a u b e n an den nichts als Liebe und Erbarmen an Welt
und Menschen übenden, in Christus ins Fleisch, in die Niedrigkeit
, in den Schmerz und die Not des Menschen herabgestiege-

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nen und eben da und eben jetzt Freude, Friede, Erlösung bringenden
und durch die Gabe des Heiligen Geistes dem glaubenden
Menschen mitteilenden Gott. Er ist und bleibt der eine
Gott, mißverstanden, verkannt oder nur dunkel erahnt von
Griechen und Juden, erfaßt, ergriffen, ja in Besitz genommen
durch den Glauben an seinen Sohn, den gekreuzigten und auferstandenen
Uomo-Dio Jesus Christus. Freilich: „Die Schöpfung
wäre . . . Werk . . . eines bösen Gottes, eines unvollkommenen
Gottes, wäre sie nicht... der Erlösung unterworfen, also vom
Erlöser-Gott in die Glorie des Sohnes hineingenommen, in dem
der Vater sich offenbart und ist" (II 23). Daher „rühmt sich
der Christ nicht nur der Erlösung, sondern auch der in sie einbezogenen
Schöpfung" (ebd.). Als wahrer Schöpfer, Schöpfer
einer liebenswerten Welt, offenbart sich nur der Vater, der einen
Menschen als Sohn neu schafft, eben in dieser Neuschöpfung
(II 170). Immer wieder scheint der Trend in die Marcionitische
Ketzerei unaufhaltsam zu sein, wie in dem Satz: „Der Gott, der
in Christus gekreuzigt ist, ist nicht ,der Herr der Heerscharen';
der, der seinen Söhnen keinerlei weltlichen Besitz verleiht, sondern
den himmlischen Frieden, die innere Erlösung, die zeitlose
, ewige Freude schenkt, ist nicht der ,Herr der Welten'
(II 181)". Aber mit grimmiger Entschlossenheit interpretiert M.
Texte, die in den jüdischen Abgrund zur Linken oder den
marcionilischen zur Beeilten zu führen scheinen, so lange, bis
sie sich bruchlos seiner Konzeption einfügen (vgl. II llOf. zu
Rom 7,14).

Es versteht sich, daß ein solches Werk dem kritischen Ex-
e<rcten sowohl wie dem korrekten Dogmaliker immer und immer
wieder offene Flanken bietet, an denen es — wohl gar tödlich —
verwundbar wäre. Und der Rezensent hätte nun erst zu beginnen
, von der kritischen Aufmerksamkeit bei seiner Lektüre des
Buches in seitenlanger Detailkritik Zeugnis abzulegen. Jedoch
konnte die Entscheidung für den hier gewählten Versuch, dem
Leser die in diesem Buch sich bezeugende Wirkung des paulinischen
Evangeliums auf ein bedeutendes Ingenium unserer
Tage zu vermitteln, nicht zweifelhaft sein.

Rostock K. Weiß

Berger, K.: Neues Material zur Gerechtigkeit Gottes (ZNW 68,

1977 S. 266-275).
Brown, J. P.: The Son of Man: „This Fellow" (Bibl 58, 1977

S. 361-387).

Campenhausen. H. Frhr. v.: Zur Perikope von der Ehebrecherin

(Joh 7,53-8,11) (ZNW 68, 1977 S. 164-175).
Comber, J. A.: The Composition and Literary Characteristics of

Matt 11:20-24 (CBQ 39, 1977 S. 497-504).
Howard, V.: Did Jesus Speak about His Own Death? (CBQ 39,

1977 S. 515-527).
Kilpatrick, 0. D.: The Historie Present in the Gospel and Acts

(ZNW 68, 1977 S. 258-262).
-: Diatheke in Hebrews (ZNW 68, 1977 S. 263-265).
Köherl, B.: Syr meskene meuassaiyä Aussätzige (Bibl. 58, 1977

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Lohse, E.: Emuna und Pistis — Jüdisches und urchristliches

Verständnis des Glaubens (ZNW 68, 1977 S. 147-163).
McEleney, N. J.: 153 Great Fishes (John 21,11) - Gcmatriaeal

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Menken, M. J. J.: Oti en 1 Tim 6,7 (Bibl 58, 1977 S. 532-541).
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schichtliehe Beobachtungen zu 1. Kor l,7b-9 (ZNW 68, 1977

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Paulsen. H.: Zur Wissenschaft von Urchristentum und der alten
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(Bibl 58, 1977 S. 500-524).
Ramarson, L.: Une lecture de Ephesiens 1,15—2,10 (Bibl 58,

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Sandelin, Karl-Gustav: Zwei kurze Studien zum alexandrini-

schen Judentum (StTh 3), 1977 S. 147-152).

Theologische Literaturzeitung 103. Jahrgang 1978 Nr. 9