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Ausgabe:

1978

Spalte:

589-591

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Goulder, Michael D.

Titel/Untertitel:

Midrash and lection in Matthew 1978

Rezensent:

Roloff, Jürgen

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589

Theologische Literaturzeitung 1U3. Jahrgang 1978 Nr. 8

590

GouWer, Michael D.: Midrash and Lection in Matthew. The Speakers
Lectures in Biblical Studies 1969-71. London: SPCK 1974.
XV, 528 S., 1 Taf. 8°. Lw. £ 8.50.

Es ist das Schicksal der neutestamentlichen Wissensehaft, weithin
mit nicht restlos gesicherten Voraussetzungen arbeiten zu müssen
. Sich daran stets zu erinnern, gehört zum wissenschaftlichen
Ethos des Exegeten. Die vorliegende Untersuchung kann auf alle
Fälle das Verdienst für sich verbuchen, daß sie den an einen selbstverständlichen
Umgang mit dem methodischen Instrumentarium
moderner Synoptikerkritik gewöhnten Leser zur kritischen Reflexion
über seine Voraussetzungen nötigt. Wobei freilich dieser Effekt
dadurch beeinträchtigt wird, daß das Maß an kritischer Reflexion,
das ihr Autor gegenüber seinen eigenen höchst eigenwilligen Methoden
an den Tag legt, relativ bescheiden bleibt. Goulder präsentiert
, ausgehend von einer Interpretation des Matthäus-Evangeliums
, eine Gesamtsicht des synoptischen Problems, die, wäre sie
auch nur annähernd zutreffend, die gesamte Forschung der letzten
150 Jahre aus den Angeln heben müßte. Er tut dies mit der suggestiven
Sicherheit dessen, der nun endlich den Schlüssel gefunden
hat, der die Türen zu allen synoptischen Problemen öffnet. Mit der
Widerlegung etablierter Gegenpositionen hält er sich nicht lange
auf; es genügt ihm, sie mit - zugegebenermaßen oft amüsanten -
ironischen Apercus abzufertigen.

Das Mt-Ev verhält sich zum Mk-Ev ähnlich wie die Chronikbücher
zu den Samuelis- und Königsbüchern, - das ist die erste
Hauptthese des Buches. Wie der Chronist in schöpferischer Freiheit
die älteren Geschichtswerke umschrieb, so nahm auch Mt eine
midrasch-artige Umgestaltung und Erweiterung des ihm vorliegenden
älteren Evangeliums vor. Und zwar meint Goulder, daß
Mk die einzige Quelle sei, die Mt benutzt habe; aller gemeinhin
sonst Q zugeschriebene Stoff sei vom Evangelisten ohne direkte
Quellenbenutzung geschaffen worden! Er verwirft die Zweiquellentheorie
und ersetzt sie durch eine einfachere Form der Benutzungshypothese
: Mk ist die einzige genuine synoptische Quelle; Mt hat
Mk benutzt ; Lk hat Mt umgeschrieben und dabei zugleich Mk
herangezogen.

Wie aber lassen sich die großen Einsprengungen erklären, die Mt
in den Mk-Rahmen vornimmt, wenn nicht aus der Notwendigkeit,
den Stoff einer zweiten Quelle unterbringen zu müssen? Die Antwort
auf diese Frage ist zugleich Goulder's zweite Hauptthese:
Der Evangelist ist dazu durch liturgische Notwendigkeiten veranlaßt
worden! Die Evangelien sind nach Goulders Meinung nämlich
Lektionare gewesen, die im frühchristlichen Wortgottesdienst,
der der Form des Synagogengottesdienstes verhaftet blieb, Verwendung
fanden; und zwar enthielten Mk und Mt, dem Synagogenjahr
folgend, lectiones continuae, die zur Ergänzung dervom Judenchristentum
übernommenen Iectio continua aus der Tora dienten
und auf sie bezogen waren. Mk bot eine Iectio continua, die nur die
Hälfte des jüdischen Jahres deckte und vom Neujahrsfest bis zum
Passa reichte, wobei die Täuferperikope (Mk 1,1-20) mit ihrer Ankündigung
des Kommens der Gottesherrschaft das Thema des
Neujahrsfestes anklingenließ, während die Grablegungs- und Grab-
findungsgesehichte 15,42-16,8 dem Ostertag zugeordnet war. -
Mt hat nun das markinische Lektionar so erweitert, daß eine Iectio
continua für das gesamte jüdische Jahr entstand.

Den entscheidenden Anhaltspunkt für diese Lektionarshypo-
these findet Goulder im alten Einteilungssystem der Codd. Alexan-
drinus (A) und Ephraemi (C), nach dem Mk in 49, Mt aber in 69
xeiiinhaia aufgeteilt ist (vgl. Nestle-Aland NT Graece, S.29). Und
zwar setzte seiner Meinung nach der jährliche Zyklus am zweiten
Sabbat nach Ostern ein mit Mt 1. Dem Pfingstfest, an dem man in
der Synagoge Ex 19-20,23 las und der'Gesetzgebung am Sinai ge-
dachte,"war als Evangelienperikope dic'Bergpredigt'zugeordnet als
das'neue Gesetz Jesu Christi. Auch für die extreme Länge dieser
Perikope weiß Vf. eine Erklärung: Zur traditionellen Pfingstfest-
liturgie'habe Ps 119 gehört, und dessen 22 Strophen seien, aufgeteilt
in 8 Abschnitte, über den Festtag hinweg in 3stündigen Intervallen
gesungen worden. Ebenso'sei aber die Bergpredigt in acht
Oktaven gegliedert, die, über den Tag verteilt, in mehrstündigen
Intervallen verlesen wurden; jede der 8 Seligpreisungen sei die
Überschrift zu einer solchen „Oktav" (186). -'Die Lektion für das
Fasten am 9. Ab ist Mt 9,9-17 (Berufung dos Matthäus und Worte

vom Fasten), zum Neujahrsfest gehört Mt 11,2-12,8 (u. a. Worte
über den Täufer und Zitat aus der Neujahrslesung Jes 35), zum
Versöhnungstag, 12,38-13,2 (12,40 als Anspielung auf das in der
Synagoge an diesem Tag verlesene Jonabuch!), zum Laubhütten-
fest das Gleichniskapitel 13 mit seiner Erntethematik, zum Tempelweihfest
17,1-13 (Verklärimg!), zum Purimfest 22,1-14 (das
königliche Hochzeitsfest als Anspielung an die Gastmahlsszenen
des Estherbuchs!). - Mit Kap.23 beginnt der Passionszyklus, wobei
für die Woche vor dem Passa Lektionen für tägliche Gottesdienste
vorgesehen waren, während in der Passanacht nicht weniger
als fünf Lektionen (26,17-27,56) ihren Platz hatten. Am Sabbat
nach dem Passa las man die Ostergeschichte (27,57-28,20); sie
wurde eine Woche später nochmals wiederholt .

Selbst wenn man Goulder's in jeder Hinsicht unwahrscheinliche
liturgiegeschichtliche Prämissen (u. a. daß das Judenchristentum
den jüdischen Synagogengottesdienst mit seinen Lesungen übernommen
hätte und daß die Kerf dran der Codices aus dem 5. Jh. alte
Tradition darstellten) übernehmen würde, blieben seine Folgerungen
im Blick auf Mt meiner Meinung nach völlig inakzeptabel. Um
nur einige wenige kritische Punkte anzudeuten: Wenn Mt sein
Buch als Lektionar komponiert hätte, so wäre zu erwarten, daß
die Perikopenanfänge auch jeweils deutliche Cäsuren markierten.
Gerade das ist jedoch nicht der Fall; viele von ihnen stehen unvermittelt
in übergreifenden kontextualen Zusammenhängen (z. B.
9,18; 9,27; 9,32; 11,2). - Die Zuordnung der Perikopen zu einzelnen
Festtagen bleibt in den meisten Fällen ohne Überzeugungskraft.
So ist das Achtersystem, nach dem Vf. die Bergpredigt aufgliedert
(269), um acht Lektionen für das Pfingstfest zu gewinnen, letztlich
nichts weiter als eine phantasievolle Spekulation. Allenfalls lassen
sich die Seligpreisung der Friedenstifter mit Mt 5,21-26 und die
der im Herzen Reinen mit 5,27-37 in Verbindung bringen; aber
was hat der Makarismus der nach Gerechtigkeit Hungernden und
Dürstenden mit 6,5-18 zu tun, was schließlich die erste Seligpreisung
mit 7,7-12? - Solche Einwände müssen sich gegenüber solchen
Perikopen verstärken, die Mt nach Goulder's Meinung ganz
frei aus verstreuten Traditionselementen als Kontrapunkt zur jeweiligen
AT-Lesung komponiert haben soll. So ist schlechterdings
nicht einzusehen, daß 22,1-14 ein Midrasch zu Esther 7 (Hinrichtung
Hamans während des Festmahls = Ausstoßung des Gastes
ohne hochzeitliches Kleid!) sein sollte (416f.), zumal sprachliche
Anklänge praktisch nicht vorhanden sind.

Aber kommen wir endlich zur Hauptsache: Ist die Entstehung
des Mt-Ev ohne eine Quelle von Jesus-Logien überhaupt denkbar?
Hinweise auf die schriftstellerische Potenz und Originalität des
Evangelisten, wie sie Vf. in Teil I gibt, genügen noch nicht für eine
positive Antwort; die von Goulder reichlich mit Spott bedachte
redaktionsgeschichtliche Forschung hat ja bekanntlich schon längst
zu einer positiven Würdigung des Schriftstellers Mt gefunden, ohne
seine Bindung an die Tradition in Frage zu stellen. Eine solche
Traditionsbindung leugnet nun freilich auch Goulder nicht ganz;
nur denkt es nicht an Jesustradition, sondern - und das ist wieder
eine wahrhaft atemberaubende überraschende Wendung - an pau-
linische Lehrtradition! Matthäus sei zwar Judenchrist, doch sei er
„a Jewish Christ ian under influence of Pauline words and Pauline
fheology" (153). So habe Mt in den von ihm geschaffenen ,, Jesus-
logien" auf paulinische Aussagen zurückgegriffen; z. B. beruhe Mt
24,3 auf IThess 5,2; Mt 18,17.20 auf IKor 5,3-5 und in Mt 10,9ff.
sei IKor 9,14 aufgenommen. Mit anderen Worten: Die herkömmliche
Auffassung, wonach die genannten Pls-Stellen Anklänge an
Jesustradition aus Q bieten, sei praktisch auf den Kopf zu stellen.
Auch paulinische Christologie, Ethik und Ekklesiologie will Goulder
bei Mt entdecken: so verweisen Mt 18,20 und 28,20 auf das
paulinische i» bzw. tn>y XQiorr?, Mt 5,36 auf 2Kor 1,17; Mt 16,18 auf
IKor 3,9-17 und Mt 23 auf Rom 2f. Ja, sogar die pln Rechtferti-
gungslehre sei, wenn auch in abgemilderter Form, durch Mt rezipiert
worden (so in 20,lff. und 21,23f.). Gewisse Differenzen in der
Gesetzesfrago fielen demgegenüber letztlich nicht ins Gewicht, zumal
Mt ohnehin, wenn er Paulus bei seiner abrogatio legis die Gefolgschaft
versage, die theologische Vernunft auf seiner Seite habe
(,,. . . we can not reproach him wifh not normally giving Paul the
highest seat" [158]). Im übrigen sei es die natürlichste Sache von
der Welt, daß Mt die pln Tradition gekannt habe, denn diese sei ja
Gemeingut der gesamten Kirche gewesen (170). Man kann diesen