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Ausgabe:

1978

Spalte:

587-588

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Minde, Hans-Jürgen van der

Titel/Untertitel:

Schrift und Tradition bei Paulus 1978

Rezensent:

Wilckens, Ulrich

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Seite 1

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Theologische Literaturzeitung 103. Jahrgang I !>7S Nr. 8

588

sprächen stecken: Denn daß die sieh hin" aussprechende eschatolo-
gische Grundgewißheit, die eine „Auffassung weiter Kreise des
Urchristentums" gewesen ist (163), zugleich typisch für die Verkündigung
gemeindlicher Propheten gewesen sei, ist doch ein etwas
vages Postulat.

Formgeschichtlich wesentlich festeren Grund betritt Müller,
wenn er sich der prophetischen Geriehtspredigt bei Paulus zuwendet
. Denn für die hier herangezogenen Texte (Köm 16,17-20;
Phil 3,17 4,1; Gal 1,6-9) lassen sieh sowohl einheitliehe Form-
elemente wie auch ein eindeutiger Sitz im Leben aufweisen. Auf die
Anklage gegen gemeindliche Irrlehrer folgt hier jeweils die Ankündigung
des Gerichts. Der formgeschichtliche Hintergrund dafür
dürfte ,,in der Gestalt der prophetischen Gerichtsrede des AT" zu
suchen sein, „die über das Judentum auch im sonstigen Urchristentum
Einfluß gehabt hat" (193). Charakteristisch für diese innergemeindliche
Gerichtsrede ist, wie Müller zu Recht gegen Käsemann
hervorhebt, daß sie nicht selbst das eschatologische Gottesrecht
vollzieht, sondern lediglich das Gericht des letzton Richters
ansagt. Die Gerichtsworte werden nicht zu magisch wirksamen
Fluchformeln, sondern überlassen den Vollzug des Gerichts „dem
letzten Richter allein" (184). IKor 5,3fif. ist unergiebig für das
Phänomen Gerichtsprophetie, weil es hier um einen extremen,
keineswegs für die Gemeindeprophetie typischen Fall charismatischen
Handelns geht (181). - Und zwar ist der Sitz im Leben der
Gerichtspredigt, wie Müller von IKor 16,22; Did 11-13 her wahrscheinlich
macht, der gemeindliche Mahlgottesdienst. Das dem
Ausschluß derer, die „den Herrn nicht lieben", dienende Anathema
konnte ausgeweitet werden zu einer prophetischen Predigt
gegen Ungehorsame und Irrlehrer.

Von hier aus ergibt sich nun eine sehr bedenkenswerte Erklärung
des scheinbaren Bruches zwischen Phil 3,1 und 2, die literarkriti-
sche Teilungshypothesen überflüssig machen würde: Der Aufruf
zur Freude in 3,1 und 4,4 spielt auf das Herrenmahl an, das sich
nach der Verlesung des Briefes anschließt. Der Zwang dieser liturgischen
Situation nötigt nun aber Paulus, „die Aufforderung zur
Freude nach 3,1 abzubrechen und ein Anathema über die Irrlehrer
auszusprechen. Es geht hier also um die Scheidung der Geister
angesichts der Nähe des Herrn" (208).

Als letzte Gruppe prophetischer Predigt führt Müller die tröstende
Heilsverkündigung an (IThess 4,13f.; IKor 15,51 f.; Rom
11,25f.). Hier ergibt sich weitgehende Übereinstimmung mit der
Form der Trostrede im Spätjudentum, vor allem in Hen 95f. und
4Esr 12,46f. aber auch mit der prophetischen Heilspredigt der
Apokalypse (Apk 2,8-11).

Dies ist zweifellos eine anregende Untersuchung, die in reichem
Maße Diskussionsstoff bietet und Möglichkeiten zukünftiger Weiterarbeit
andeutet. Ihre Ergebnisse scheinen mir jedoch zu ungleichgewichtig
, um in der gegenwärtigen Forschungssituation als
abschließendes Wort zu diesem Thema gelten zu können. Ein wirklich
überzeugendes Bild der prophetischen Predigt des Urchristentums
wird sich nur gewinnen lassen, wenn zwei Voraussetzungen
eingehender erfüllt werden, als das hier geschehen ist: Einerseits
wäre die Geschichte des Urchristentums hinsichtlich der Ausprägungen
und Funktionen der Prophetie in verschiedenen Kirchen-
gebieten und Traditionskreisen zu befragen, zum anderen aber
müßte das zur Anwendung gebrachte formgeschichtliche Instrumentarium
methodisch auf das genaueste reflektiert werden.

Erlangen Jürgen Roloff

Minde, Hans-Jürgen van der: Schrift und Tradition bei Paulus.

Ihre Bedeutung und Funktion im Römerbrief. München - Paderborn
-Wien: Schöningh 1976. 221 S. gr.8° = Paderborner Theologische
Studien, hrsg. v. R.Bäumer, J.Ernst, H.Mühlen, 3.
Kart. DM 28,-.

Diese Bochumer Dissertation geht von der Beobachtung aus,
daß zwar in allen Paulusbriefen sowohl die Schrift als auch gemein-
urchristliehe Traditionen von grundlegender Bedeutung für die
jeweilige paulinische Argumentation sind, daß sich aber einzig im

Hömerbrief eine offenbar gezielte Verbindung dieser beiden Elemente
urkirchlicher Theologie zeigt : Das geschieht, wie Vf. in
einem I.Teil zeigt, bereits programmatisch im Präskript (1,1-4);
ferner in 3,10-18, einem vorpaulinischem Florilegium, das Paulus
zur Autorisierung des Urteils über die Sünde aller (3,22b-23) anführt
und Zugleich als negative Voraussetzung der christliehen Aus-
sago 3,25 gebraucht. Ausführlieh arbeitel VI . sodann die hermeneu-
tische Schlüsselfunktion der christologischen Tradition in 4,24f.
für den Sehriftgebrauch in 4,1-25 heraus. Schließlich sieht er ein
ähnliches Verhältnis in 9,30-10,13. In einem II. Teil setzt er dagegen
die Unverbundenheit von Schrift und Tradition im Galator-
und l.Korintherbrief (Gal 3,1-18.29; IKor 11,23-25; 15,3 5), um
im III. Schlußtoil das Ergebnis zur Diskussion zu stellen, daß die
Verbindung von Schrift und Tradition im Römerbrief offenbar
durch dessen aktuellen Anlaß bedingt ist : „um aufgrund des gemeinsamen
Besitzes der Schrift, der Kenntnis der Tradition auch
auf der römischen Seite an die gemeinsame urchristliche Verkündigung
anknüpfen zu können" (S. 197).

Wer sich von der ungemein hölzernen Darstellungsart nicht abschrecken
läßt, findet in diesem Buch neben ausgebreiteter Reproduktion
von Bekanntem einige anregende, wenn auch kaum
akzeptable Vorschläge: Vf. scheidet z. B. aus der Formel Rom 3,25,
von einer These H. Zimmermanns ausgehend, nicht nur JVä nUnems
als paulinische Hinzufügung aus, sondern auch das entscheidende
Glied tls ffitsttiv tfjs$tXttioaivrt itvroi1 sowie iTQoyeyovozmv (S.58
bis 60). Die Tradition habe von der Heilsbedeutung des Sühnetods
Christi als Sündenvergebung durch die Kraft der .Geduld' Gottes
gesprochen; Paulus interpretiere diese Aussage im Sinne seines
Kontext-Skopos als Erweis der Gerechtigkeit Gottes und stelle
zugleich das Kreuz sowohl „als Endpunkt einer Unheilszeit" heraus
, „sofern Gott die in dieser Zeit begangenen Sünden nachläßt
und damit seine Gerechtigkeit erwiesen hat", als auch als „Ausgangspunkt
einer Heilszeit, insofern Gott gerecht ist und gerechtspricht
aufgrund der jeweils aktuellen Evangeliumsverkündigung
und des Glaubens daran und damit jetzt seine Gerechtigkeit erweist
" (S.62f). Aber abgesehen davon, daß von einer Abziehung
mit iv im vtf xntQtf auf die gegenwärtige Verkündigung in V26
keine Rede ist, ist die Ausscheidung von bis MeiSir tfy <ftxaioaii>ris
ctvToC ebenso willkürlich wie unbegründet: Daß das Verständnis
des Sühnetodes Christi als Rechtfertigung der Sünder vorpauli-
nisch-traditionell war, zeigen Stellen wie IKor 1,30 und besonders
2Kor 5,21. Vf. benimmt sich durch seine Analyse die Möglichkeit,
gerade auch das Herzstück der Theologie des Römerbriefes, die
Verbindung von Christologie und Rechtfertigungslehre, als durch
gemeinchristliche Überlieferung begründet zu erweisen. Im übrigen
ist auch schwerlich glaubhaft, daß der Tradition eine generelle und
der paulinischen Redakt ion sekundär eine auf die Vorzeit begrenzte
Kraft der Sündenvergebung zuzusprechen sein sollte. In Rom 4
will Vf. eine Vorlage abheben, die aus V3.ll (ohne rij« tixnuxriyris
und ohne nciTutn rtdvzmy x. x. ?..).12.13 (wiederum ohne thxawcsvvr[().
16.17a.18c bestehe; während hier der Skopos die Abrahamkindschaft
auch der Heidenchristen gewesen sei, ziele Paulus bei der
Bearbeitung des ihm vorgegebenen Midrasch auf den Rechtfertigungsglauben
(S. 78-86). Auch wenn dabei die Möglichkeit für
Günter Klein und den Rez. herausspringen soll, daß jeder von beiden
Richtiges zur Geltung gebracht habe: der letztere die vorpauli-
nische Tradition, der erstere den paulinischen Skopos (!-S. 85 Anm.
51), wird die TextanalyBe wegen ihrer m. E. völligen Willkür keineswegs
annehmbar sein.

Vf. hat gleichwohl auf einen Aspekt der paulinischen Theologie
hingewiesen, der zwar nicht unbekannt, aber doch wohl zu wenig
beachtet worden ist. Ob freilich Schrift und Tradition nur im
Römerbrief gezielt aufeinander bezogen sind, ist sehr zu fragen.
Vf. scheint der Bedeutung von xarh räc yoaq>d( in der Formel IKor
15,3f. für den Schriftgebrauch'in der V12ff. folgenden Argumentation
und umgekehrt der Wirksamkeit von traditionellen Elementen
in Gal 3 zu wenig Beachtung geschenkt zu haben. So könnte
seine Anregung über die allzu einseitige Begrenzung auf den Römerbrief
hinaus für die Interpretation der paulinischen Theologie
im ganzen sehr fruchtbar sein.

Hamburg Ulrich Wilckens