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Ausgabe:

1978

Spalte:

581-584

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Marin, Louis

Titel/Untertitel:

Semiotik der Passionsgeschichte 1978

Rezensent:

Wiefel, Wolfgang

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581

Theologische Literaturzeitung 103. Jahrgang 1978 Nr. 8

582

Clevenot, Michel: Approches materialistes de la Bible. Paris: Les
Editions du Cerf 1976. 174 S. 8° = Collection „Attention",
ffr. 29.-.

Marin, Louis: Semiotik der Passionsgeschichte. Die Zeichensprache
der Ortsangaben und Personennamen. Aus dem Französischen
v. S.Virgils, wissenschaftlich bearb. u. mit einem Nachwort
v. E. Güttgemanns. München: Kaiser 1976. VIII, 202 S.
8° = Beiträge zur evang. Theologie, hrsg. v. E. Jüngel u. R.
Smend, 70. DM 32,-.

Von „wilden Exegesen" spricht man seit einiger Zeit, um Versuche
zu kennzeichnen, ohne Berücksichtigung der professionellen
Forschung, aber auch jenseits der Tradition erbaulich-meditativer
Schriftlesung, Auslegung der Bibel zu betreiben. Es waren vor
allem Stimmen aus dem Umkreis der Psychoanalyse (Freud, Jung)
und der Philosophie (Emst Bloch), die sich auf diesem Gebiet Gehör
verschafften. Mancher glaubte im Schein von Lichtern, die von
Zunftfremden aufgesteckt wurden, Zusammenhänge zu erkennen,
die theologische Betriebsblindheit bislang übersehen hatte. Viele
aber argwöhnen, daß der Verzicht auf bewährte Zugangswege den
Eindruck größerer Unbefangenheit nur vortäuscht, tatsächlich jedoch
der getrübte Blick überall die Gebilde der eigenen Imagination
vorzufinden meint. Die beiden hier vorzustellenden, aus Frankreich
stammenden Werke zeigen, daß dort eine neue Spielart
„wilder Exegesen" Verbreitung gewinnt: die vom Strukturalismus
angeregten. Sie repräsentieren zugleich zwei Richtungen dieser
geistigen Strömung, die mehr soziologisch (Clevenot) und die
linguistisch orientierte (Marin).

Clevenots Schrift ist die popularisierende Weiterführung des in
linkskatholischen Zirkeln Frankreichs stark beachteten Buches
seines Freundes und Lehrmeisters Fernando Belo, Lecture mate-
rialiste de l'evangile de Marc (1974), in dem (erstmalig) die Hermeneutik
des struktualistischen Marxinterpreten Louis Althusser
(Pour Marx, 1965; Lire le Capital, 1969) auf einen zentralen biblischen
Text angewendet wurde. Obwohl der stoffliche Schwerpunkt
durch die Anknüpfung an Belo gesetzt ist, versucht ein einleitender
Teil in 6 Kapiteln (S. 13-68) eine weitausgreifende methodische
Orientierung zu geben, die vor allem für aus dem katholischen
französischen Milieu kommende Leser unentbehrlich erscheint.
Hier sind die Grunderkenntnisse historisch-kritischer Forschung
viel weniger verbreitet als im deutschen Sprachgebiet, so daß es
notwendig erscheint, programmatisch den Charakter der Bibel als
eines literarischen Werkes (la Bible oomme ecriture) am Exempel
der Pentateuchquellen und ihrer historischen Einordnung zu verdeutlichen
. Einen besonderen Akzent erhält die Darbietung durch
die sich wiederholende schematische Aufgliederung mit Hilfe der
Trias economie, politique, ideologie, die dann auch das Übergangskapitel
La Iutte de classes en Palestine au premier siecle (S. 58-68)
bestimmt.

Da der Vf. davon ausgeht, daß Mk kurz nach 70 in Rom entstanden
sei, setzt der Hauptteil mit einem analog aufgebauten Abschnitt
über das zeitgenössische Rom und die dortige Christengemeinde
ein (S.69-81). Er versteht das Evangelium als einen Bericht
(recit nicht discours) von einer Praxis, wobei der Text als ein
Produkt erscheint, dessen Zeichensystem den Bedingungen des
„ideologischen Tausches mit Hilfe von Schrift" (also der von Althusser
entwickelten Theorie genügt). Was zur „Entschlüsselung
des verwendeten Codes" dargeboten wird, soll dazu anleiten, Mk
als „subversiven Bericht einer subversiven Praxis" zu lesen und
damit der idealistischen Faszination auszuweichen. Wie sieht das
in der Durchführung aus? Die These, daß Mk in einen mythologischen
Rahmen eingespannt ist, der von der eschatologisch gedeuteten
Erscheinung des Täufers bis zur Parusie (S. 89-93) reicht,
mag noch hingehen. Die Signalfunktion, die hier den problematischsten
und variabelsten Elementen der Tradition, der Topographie
und den topographischen Verknüpfungen zuerkannt wird,
dürfte außerhalb des Zirkels der Adepten nicht leicht einsehbar
sein. Für die Willkür, die dem Leser zugemutet wird, nur ein, das
krasseste Beispiel. Als Leitwort der „subversiven Lektüre" wird
das Stichwort zerreißen genannt (S.96ff.). Daß es in 2,21; 14,63;
15,38 in je verschiedenem Zusammenhang'hegegnet, mag als Einwand
des gerade zurecht gewiesenen naiven Lesers erscheinen.
Daß dabei ganz verschiedene griechische Worte («inen', iiao^aaeif,

ayMiv) erscheinen, beunruhigt offenbar nicht, diese Art „Exegese
" arbeitet ja nur mit der französischen Übersetzung und diese
gibt sie an allen drei Stellen mit „deohirer" wieder. So stünde denn
die Praxis Jesu im Zeichen des „Zerreißens". Wenn im Schlußteil
dann im verwirrenden Kaleidoskop die Signalworte Hände, Füße,
Augen und Ohren nicht nur der Trias economie, politique, ideologie
, sondern auch der Dreiheit der theologischen Tugenden Caritas,
spes und fides zugeordnet werden, hat auch der um Aufgeschlossenheit
bemühte Leser längst aufgegeben. Er vermag hier nur das
persönliche Problem des Vfs. zu erkennen, Strukturalismus, Marxismus
und Katholizismus zu versöhnen. Die „materialistische"
Markuslektüre ist hier nur Mittel zum Zweck.

Louis Marin, Nichttheologe, Literaturwissenschaftler aus dem
Umkreis der strukturalen Erzählforschung, von Erhardt Güttgemanns
im deutschen Sprachgebiet eingeführt und von einem seiner
Mitarbeiter übersetzt, erscheint auf den ersten Blick ungleich anspruchsvoller
. Er setzt beim Leser Vertrautheit mit den Methoden
der Linguistik und der Gedankenwelt des Strukturalismus voraus.
Eine vom Herausgeber angefügte Lesehilfe (S. 188-196) und eine
mehr als 270 termini technici umfassende Liste (mit Verweisen auf
die jeweils erläuterte erstmalige Einführung) soll auch dem Uneingeweihten
die Lektüre ermöglichen. Das Werk, das sich als
„Metadiskurs" über die Passionsgeschichte versteht, der dem Modus
der Sinnvermittlung, der Erzähllogik nachspüren will, besteht
aus zwei Abhandlungen, die durch Problemstellung xmd Methoden
eng miteinander verbunden sind. Die erste, mehr grundlegende,
gilt den Ortsangaben der Passionserzählung (S. 15-81), die zweite
der Person des Verräters Judas, dessen Figur in der hier vorgelegten
Konstruktion eine einmalige Signifikanz besitzt (S. 82-108).

Daß es nach Marin die Orts- und Personangaben sind, deren
Zeichensprache gleichsam als Rückseite den Sinn des Textes erschließt
, wird durchaus als Bruch mit der neueren exegetischen
und historischen Tradition verstanden. Dieser stellt Marin die von
ihm übernommene Betrachtungsweise von Levi-Strauß entgegen,
nach der „die Eigennamen im Gebäude einer spezifischen Sprache
den Rand des Bruchs markieren, der die Sprache von der Welt der
Dinge trennt" (S.8). Eine These, gewonnen aus der Erforschung
des pensee sauvage, des prärationalen Denkens der Primitivkulturen
, soll in der hier vorgelegten Anwendung auf die Passionsgeschichte
„zu einer intellektuellen Herausforderung sowohl für
den Forscher wie für den gebildeten Laien" (Güttgemanns im
Nachwort S. 188) werden. Er wird sich freilich die Mühe machen
müssen, die Geheimsprache der Forschungsrichtung zu erlernen.
Lohnt es sich wirklich?

Er soll, Literarkritik und Formgeschichte vergessend, die Passionsgeschichte
als „Geschichte des Weges des Helden bei seinen
Wanderungen von einem Ort zum anderen" (S.21) begreifen lernen
. Er muß sich bei der „Konstruktion des toponymischen Netzes
" daran gewöhnen, die Berichte aus allen vier Evangelien in
einer verwirrenden Evangelienharmonie herangezogen zu sehen
(zu diesem Verfahren vgl. S. 171, Anm.30). Er findet sich einer
Dominanz dessen, was er bisher den Rahmen nannte, gegenüber,
wo die Ortsangaben und die überleitenden Wendungen ihren Platz
haben. Er versucht (vergeblich) das mit den Stichworten „Beseitigung
der Toponyme" und „Auferstehung der Namen" Bezeichnete
zu verstehen. Die ihn fremdartig berührende Parallele zwischen
dem, was sich um den Ort Tempel (Mk 11-14) und den Ort Abendmahlssaal
(Mk 14,1-42) gruppiert, als „enthüllende Transformation
eines paradigmatischen Sinngehalts" dargeboten, erinnert ihn
in der Durchführung partienweise an die meditative Sprache der
Andachtsbücher. Wem der „lange Atem des Mitdenkens", den das
Buch nach dem Zeugnis des Herausgebers (S.189) dem Leser abverlangt
, nicht eigen ist, wird bei der ersten Lektüre nur Umrisse
erfassen.

Ihm wird eine Lesehilfe anderer Art zuteil. Er merkt auf bei
Stichworten, Einheiten, Abschnitten, die als ganze oder in einem
Teilaspekt in'den Vordergrund gerückt erscheinen, obwohl ihre
Beziehung zum eigentlichen Untersuchungsgegenstand nur vermittelt
faßbar wird. Da wird der ungestillte Hunger in der Feigenbaumgeschichte
(Mk ll,l2ff.) dem Weg an den Ort, wo das wahre
Mahl eingenommen wird (S.46) gegenübergestellt. Da erfährt das
Gleichnis von den bösen Weingärtnern Mk 12,1-12 eine Zuordnung
zum Gleichnis vom Hochzeitsmahl Mt 22,1-14 unter der Klammer