Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

1978

Spalte:

520-523

Kategorie:

Kirchengeschichte: Reformationszeit

Autor/Hrsg.:

Biel, Gabriel

Titel/Untertitel:

Collectorium circa quattuor libros Sententiarum, Libri quarti pars secunda (dist. 15 - 22) 1978

Rezensent:

Thümmel, Hans Georg

Ansicht Scan:

Seite 1, Seite 2, Seite 3

Download Scan:

PDF

519

Theologische Literaturzeitung 10,1. Jahrgang 1970 Nr. 7

520

in der Zeit nach der Resolutionen-Herausgabe spürbar in
den Vordergrund ... mit der Zeit keimt neben der ,Jetzt-
erst-recht-Disputation!'-Linie eine assertive Linie der Anspruchsverhärtung
, und zwar proportional zum Schwinden
der Hoffnung auf Erfüllung des Disputationswunsches" (92).
Zunehmend beginnt Luther sich mit der von ihm vertretenen
Sache zu identifizieren (107 u.ö.), und entsprechend erhält
die assertio eine neue Funktion: Sie wird zum „Streitbegriff
" (109); mit ihrer Hilfe soll als der „ultima ratio"
(ebd.) die die Disputation verweigernde Gegenseite herausgefordert
und sachlich in die Enge getrieben werden. Dabei
verändert sich die Beweisführung: „... 1518 bis 1520 (beginnt)'
die Kluft zwischen menschlichen Worten und Traditionen
einerseits, dem göttlichen Wort und Willen andererseits
(sich) aufzutun" (123). Kerlen macht hier einen heiklen
Punkt aus: Im Gegensatz zur Schrift ist Gottes Wille nicht
unmittelbar und eindeutig erfaßbar; der Rekurs auf ihn ist
Rekurs auf eine alles mit letzter Autorität deckende Generalklausel
.

Kapitel drei zeigt dann, wie die Disputationsbereitschaft
„auch auf Luthers Seite zu Grabe getragen" wurde, zumal
er in der Gegenseite zunehmend den Antichristen erkannte
(133 f.), und mit dem ist kein Disputieren. Demgegenüber
ist Luther je länger je mehr von der Wahrheit des eigenen
Anspruchs unkorrigierbar durchdrungen, so daß er seinerseits
jene Einwände und Argumente nicht mehr ernst
nehmende Verhärtung an den Tag legt, die er einst mit
Recht seinen Widersachern vorwarf; in dem ihn erfüllenden
prophetischen Bewußtsein ist er zunehmend maßlos (bes.
134 ff.). Und da er von der Schriftgemäßheit seiner Aussagen
überzeugt sei, andererseits aber das von ihm neu eingeführte
Schriftprinzip gar nicht zur Diskussion stelle, könne
er nunmehr auch ohne ernsthafte Sacherörterung asserieren,
dabei immer auf „die Wesensfrage" (149) ausgerichtet. Sache,
Umstände, Persönlichkeitsstruktur sowie die nun einmal
eingetretene Entwicklung lassen den Reformator zum apodiktischen
Rechthaber werden. Außen- oder gar Selbstkritik
wird im voraus abgefangen, eigene Blößen überdecken forciertes
Auftreten und Polemik (bes. 183).

Das alles wirkt sich im Streit mit Erasmus bedenklich aus,
dessen Darstellung im vierten Kapitel zwei Fünftel der gesamten
Arbeit ausmacht. Umfassend und subtil breitet Kerlen
nach der Darstellung der Vorgeschichte des Erasmus
differenzierte Auffassung von Disputation und disputanda
gerade auch im Blick auf die Betonung von Methodenfragen,
den angesichts der Bedingungen dieses Äons unausweichlichen
Skeptizismus sowie das Abwägen des Verhältnisses
von Forum und Gegenstand aus. Scharf, wenn auch wohl
nicht unanfechtbar, wird der Gegensatz und damit dessen
Unausweichlichkeit wie Nichtvermittelbarkeit festgestellt:
„An Stelle eines Alles-Wissen-Wollens steht hier das wissende
Verwalten der Wahrheit" (244). „Wissendes Verwalten
der Wahrheit" : Hat Luther Erasmus wirklich so schlimm
mißverstanden, wie es von Kerlen dann subtil und ausführlich
dargestellt wird? Gewiß, der Reformator ist maßlos in
Auftreten und Anspruch und wird dem Gegner im Detail
herzlich wenig gerecht. Entsprechend füllt sich der terminus
„assertio" als „die subjektive Einkleidung der Wahrheit mit
der einer bestimmten Person zugehörigen und in deren Gewissen
verankerten Assertion", dadurch die Wahrheit mit
der Welt in Verbindung trete (316). Doch muß man das —
nicht wirklich überzeugend — auf Luthers unbedingtes Gewißheitsstreben
, auf seinen Dualismus, auf seine Steigerung
hinein in eine prophetische Position, auf seine Furcht vor
Ungewißheit zurückführen? Kerlen scheint nicht gemerkt
zu haben, daß „Verwalten von Wahrheit" einen Grad von
Maßlosigkeit darstellt, den Luther nie erreicht, denn es ist
dies das Non-plus-ultra an Arroganz — die Wahrheit will
den Zeugen, oder sie verkommt; ihre „Verwaltung" (wenn
schon, denn schon!) liegt bei Gott allein.

Das hätte er, wenn schon nicht von Christus, den Aposteln
und Propheten oder auch Luthe'r, so doch von dem Ironiker
Sokrates (der nicht wie Cicero floh), dem Naturwissenschaftler
Galilei oder auch von dem Skeptiker Lessing wissen können
, und so bekommt er den Gegensatz zwischen Luther und
Erasmus als solchen nicht recht zu fassen, sondern bleibt im
Detail gefangen, folgerichtig freilich aus der angenommenen
Position, die man als eine gut akademische billigerweise
nicht tadeln kann.

Desungeachtet verbleiben Bedenken. So im Blick auf die
Methode: Daß man von der Erfassung der Form her, weil
beide unauflöslich zusammengehören, die Sache tatsächlich
zu erfassen vermöchte (bes. 347), ist Ergebnis eines — verbreiteten
— Denkfehlers; wäre dem so, Epistemologie könnte
weithin durch Methodologie ersetzt werden, wie heute freilich
in Aversion gegen „Metaphysik" weithin üblich. Man
muß sich schon auf die Sache tiefer einlassen, um die Form
allererst analysieren zu können. — Zu wenig beachtet ist,
daß historische und insbesondere psychologische Argumente
zwar Genese und Zusammenhänge aufhellen; doch im Blick
auf die Sache ist mit ihnen gar nichts ausgemacht. — „Sed
summa", es bleibt die Frage, ob die „Vernunftfreudigkeit",
mit der Kerlen das Interesse — auch das eigene — an Erasmus
erklärt und begründet (2 ff.), zur Wahrheitsfrage in ein
angemessenes Verhältnis kommen, sie überhaupt stellen
kann (eine Frage, die man paradigmatisch an dem Rationalisten
Piaton aufhellen kann, der gewiß nicht von ungefähr
auf Mythen zurückgriff). Am Ende liegt in Luthers Weg eine
von Kerlen vernachlässigte Sachnotwendigkeit, insofern
Wahrheit nicht der Disputation, sondern der assertio, nicht
dem Gespräch, sondern der Entscheidung, nicht dem analysierenden
Abwägen, sondern dem persönlichen Einsatz allererst
und allein sich erschließt? Gewiß, mit dieser Frage wird
hier gegen Kerlen eine Position zur Geltung gebracht; nur
angesichts des von ihm nachgezeichneten Weges Luthers
hätte Kerlen sie sich — und sich ihr — wohl stellen sollen,
nicht zuletzt auch um der ihm wesentlichen Gerechtigkeit
nach beiden Seiten willen.

Der Arbeit ist eine Bibliographie beigegeben, die allerdings
karg ausfiel; doch angesichts dieser aus profundem
Quellenstudium erwachsenen Arbeit wäre die ausdrückliche
Bezeichnung der Lücken Beckmesserei.

An Druckfehlern entdeckte ich: S. 71, Z. 11 v. o.: 1. soviel
- S. 91, Z. 8 v. o.: 1. zu Recht - S. 296, Anm. 596, Z. 2: 1. vo-
luntate"): - S. 336, Z. 10 v.o.: 1. Erkenntnis.

Göttingen Klaus Srhwarzwällcr

Biel, Gabriel: Collectorium circa quattuor libros Sententia-
rum, Auspiciis H. Rückert, collaborantibus M. Elze et
R.Steiger ediderunt W. Werbeck et U. Hofmann. I: Pro-
logus et Liber primus, XL, 787 S., IV 1: Libri quarti pars
prima (dist. 1-14), XI, 502 S., IV 2: Libri quarti pars se-
cunda (dist. 15-22), XX. 624 S., Tübingen: Mohr. 1973.1975
und 1977.

Gabriel Biel ist lutherischer Forschung immer wieder als
derjenige wichtig, dessen Werk den jungen Luther theologisch
prägte. Die Disputatio contra scholasticam theologiam
vom 4. 9. 1517 kann im wesentlichen als eine Disputatio
contra Gabrielem verstanden werden, sie zieht den Schlußstrich
unter eine Abkehr. Die Frage nach der Theologie des
späten 15. Jhs. als der der Reformation vorgegebenen Situation
, die Frage, wie Luthers Anschauungen sich aus dieser
Lehre herausentwickelten und wogegen er schließlich opponierte
, aber auch die Frage, was auch dem Reformator noch
von dieser Theologie verblieb, fordern zur Beantwortung
kritische Textausgaben. So ist es zu begrüßen, daß, nachdem
bereits Oberman und Courtenay 1963—1967 die Canonis
Missae Expositio herausgebracht haben, nun das theologi1
sehe Hauptwerk Biels, der Kommentar zu den Sentenzen des
Petrus Lombardus, in einer Neuausgabe erscheint.

Das Unternehmen hat eine Tübinger Editorengruppe unter
Leitung des inzwischen verewigten Hanns Rückert in
Angriff genommen. Die Vorarbeiten begannen 1956. Bisher
liegen der Prologus und die Bücher I und IV vor. Prologus