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Ausgabe:

1978

Spalte:

512-513

Kategorie:

Kirchengeschichte: Mittelalter

Autor/Hrsg.:

Werner, Ernst

Titel/Untertitel:

Stadtluft macht frei 1978

Rezensent:

Haendler, Gert

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Theologische Literaturzeitung 103. Jahrgang 1978 Nr. 7

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Man sollte sich die Kritik nicht zu leicht machen. Sicher
kann man sagen, daß Postulate wie der Hinweis auf den
dritten Artikel oder das Prinzip des Vernehmens nur allgemeine
, vage Tendenzanzeigen sind, die In der praktischen
Arbeit des Exegeten bestenfalls als Mahnung zu größerer
Behutsamkeit und Vorsicht und als Erinnerung an die Existenz
der Kirche (!) sich auswirken werden (obwohl beides
schon viel bedeutete!). Stuhlmacher will ja auch gar nicht
eine neue Hermeneutik bieten, sondern er will an das reformatorische
Verständnis von Exegese erinnern, das durch die
Emanzipation des Historischen von der Kirche in den vergangenen
Jahrhunderten verschüttet zu werden droht, und
zugleich an die für jede historisch-kritische Arbeit konstitutive
Fähigkeit zur Selbstkritik und Weiterentwicklung der
eigenen Methodik anknüpfen. Problematischer scheint mir
die Frage, ob Stuhlmachers Programm sich davor retten
kann, ins Schlepptau des heute weithin wieder in Mode gekommenen
Traditionalismus zu geraten, bzw. ob es nicht
schon partiell dessen Ausdruck ist. „Vernehmen" als Gegengewicht
zu Kritik kann ja leicht zum Verstummen der Kritik
führen, wenn die Balance zwischen den Gewichten nicht
mehr stimmt. „Wirkungsgeschichte'- verstanden als Dialog
mit dem Glaubens- und Erfahrungshorizont der Kirche wird
dann zum Stabilisator, wenn der Akzent nicht auch auf die
für die Zukunft fruchtbare Differenz zwischen Textanspruch
und Wirkung, die Kritik an beidem und zugleich Erfahrungsgewinn
für die Gegenwart bedeutet, fällt. Bezogenheit
auf die Kirche kann völlig irrelevant werden, wenn nur der
„Unterschied zwischen prinzipiell revidierbarer geschichtswissenschaftlicher
Erkenntnis und der gewißmachenden
Erkenntnis des Glaubens" (53) kräftig genug betont wird.
Es scheint mir, daß sich Stuhlmacher gegen solche Gefahren
seines Entwurfs nicht kräftig genug geschützt hat und hier
noch einiges verdeutlichen müßte. Die Gefahr ist um so
größer, weil wir eben heute keinen theologischen oder philosophischen
Gesamtentwurf besitzen, der uns Koordinaten
lieferte, in denen Vergangenheit und Gegenwart konfrontiert
werden könnten. Die Gefahr, daß Hinwendung zur
Tradition absolut gesetzt wird und' zur Gegenwartsvergessenheit
führt, ist gerade in der heutigen Situation besonders
groß. Und so gilt es m. E., Stuhlmachers Programm vor dem
Traditionalismus zu schützen, indem man seine Gegenwartsbezogenheit
deutlich klarmacht. „Hermeneutik des
Einverständnisses" will, soll und kann helfen, der Tradition
Bausteine abzugewinnen, die für ein noch zu suchendes
handlungsleitendes Menschen- und Geschichtsbild, für eine
noch ausstehende integrierende Utopie der Zukunft produktiv
werden können. Von einem solchen umfassenden Entwurf
her könnte dann wiederum methodisch eine kritische
Vermittlung zwischen Tradition und Gegenwart erfolgen,
kritisch in beiden Richtungen, wie dies etwa von den großen
Entwürfen des Idealismus, des Rationalismus oder des Existentialismus
her in je verschiedener Weise möglich war.
Hermeneutik des Einverständnisses zielt also auf einen
Beitrag zu einem umfassenden Gespräch, das den Rahmen
der Kirche weit übersteigt, gerade um des Auftrags der
Kirche willen. Kurz, Stuhlmachers Ansätze scheinen mir
dann gefährlich, wenn man sie einfach geschichtslos zum
hermeneutischen Programm verabsolutiert, weil sie dann
fast unweigerlich nur konservativ sind. Sie scheinen mir
dann überaus hilfreich, wenn sie verstanden werden als
Hilfestellung, um aus gegenwärtiger Notlage heraus den
Beitrag des Neuen Testaments zur Gestaltung der Zukunft
einbringen zu können, gleichsam als Notbrücke für den Weg
in die Zukunft. Manche in diese Richtung zielende Bemerkungen
(besonders 37—40) lassen mich auch an diesem Punkt
auf Einverständnis hoffen.
Adelebsen b. Göttingen U. Luz

1 Erwägungen zur Einheit der biblischen Theologie, ZThK 67, 1970,
417 ff.

■ Programmatisch etwa In: Der Sohn Gottes, 1975.

1 Historische Kritik und theologische Schriftauslegung, 59-127; Das
Neue Testament und Hermeneutik - Versuch einer Bestandsaufnahme
, 9-49 (= ZThK 68, 1971, 121-161).

' Vgl. die ausführliche Auseinandersetzung mit G. Maier, Das Ende
der historisch-kritischen Methode, 1904, bei Stuhlmacher 103-108.

Amato, Angelo: II Gesü storico: problemi e interpretazioni

(Salesianum 39, 1977 S. 293-317).
Dieckmann, Bernhard: Eine neue Bultmann-Interpretation?

(ThGl 66, 1976 S. 426-437).
Englezakis, B.: Rom 5,12—15 and the Pauline Teaching on

the Lord's Death (Bibl 58, 1977 S. 231-236).
Ernst, Josef: Sterben, Tod und Ewigkeit in der Sicht des

Neuen Testamentes (ThGl 66, 1976 S. 382-399).
Eulenstein, Rolf: „Und wer ist mein Nächster?" Lk 10,25—37

in der Sicht eines klassischen Philologen (ThGl 67, 1977

S. 127-145).

Feuillet, A.: Le martyrs de l'humanite et l'Agneau egorge.

Une interpretation nouvelle de la priere des egorges en

Ap 6,9-11 (NRTh 99, 1977 S. 189-207).
Giesen, Heinz: Osterglaube und historischer Jesus (Wort

und Antwort 18, 1977 S. 40-47).
Hahn, Ferdinand: Probleme historischer Kritik (ZdZ 1977

S. 361-370).

Stuhlmacher, Peter: Thesen zur Methodologie gegenwärtiger
Exegese (ZdZ 1977 S. 371-376).

Kähler, Christoph: Die Redaktionsgeschichte ist tot, es lebe
die Formgeschichte. Zum Gespräch mit Gottfried Schille
(ZdZ 1977 S. 291-295).

Krämer, Michael: Ihr seid das Salz der Erde ... Ihr seid das
Licht der Welt (MThZ 28, 1977 S. 133-157).

Loss, Nicolö Maria: Amore d'amicizia nel Nuovo Testamen
to: contributo ad uno studio lessicologico e religioso
sull'uso neotestamentario di filos, fileö e loro derivati, e
dei loro composti (Salesianum 39, 1977 S. 3—55).

Mänek, Jindrich: ... und brachte Frucht. Die Gleichnisse
Jesu, übers, von J. und U. Dachsei. Berlin: Evang. Verlagsanstalt
[1977]. 118 S. gr. 8° = Arbeitsbücher für die Aus-
und Weiterbildung kirchl. Mitarbeiter, hrsg. im Auftrag
des Sekretariats des Bundes der Evang. Kirchen in der
DDR.

(s. Bespr. in ThLZ 98, 1973 Sp. 588).

Moloney, Francis: The Johannine Son of God (Salesianum
38, 1976 S. 71-86).

Münchow, Christoph: Das Buch mit sieben Siegeln. Theologische
Erwägungen zur Interpretation der Offenbarung
des Johannes (ZdZ 1977 S. 376-383).

Penna, R.: San Paolo (1 Cor 7, 29b-31a) e Diogene il Cinio
(Bibl 58, 1977 S. 237-245).

Reuss, J.: Ein unbekannter Kommentar zum 1. Kapitel des
Lukas-Evangeliums (Bibl 58, 1977 S. 224-230).

Riesenfeld, Harald: Zur Frage nach der Einheit des Neuen
Testaments (Erbe und Auftrag 53, 1977 S. 32-45).

Schweizer, Eduard: Das Evangelium nach Matthäus, übers,
und erklärt. Berlin: Evang. Verlagsanstalt (Lizenzausgabe
des Verlages Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen)
[1977]. IV, 370 S. gr. 8° = Das Neue Testament Deutsch.
Neues Göttinger Bibelwerk, hrsg. von G. Friedrich, 2.
(s. Bespr. in ThLZ 101, 1976 Sp. 183).

Vanni, Ugo: homoiöma in Paolo (Rm 1,23; 5,14; 6,5; 8,3:
Fil 2, 7) (Gregorianum 58, 1977 S. 321-345).

KIRCHENGESCHICHTE: MITTELALTER

Werner, Ernst: Stadtluft macht frei. Frühscholastik und
bürgerliche Emanzipation in der ersten Hälfte des 12. Jahrhunderts
. Berlin: Akademie-Verlag 1976. 96 S. 8" = Sitzungsberichte
der Sächsischen Akademie der Wissenschaften
, phil.-hist. Klasse, Bd. 118, Heft 5. M 8,-.

Die Untersuchung des Leipziger Historikers stellt zwei
Vorgänge vor Augen: Die wirtschaftliche Aufwärtsentwicklung
in den Städten im 11. 12. Jh. sowie die neuen Methoden
in der Theologie. Kap. 1 geht auf Anselm von Canter-
bury ein, der „die entscheidende Wende in der Durchdringung
dogmatischen Lehrgutes mit Methoden der Dialektik"
vollzog (9). Anselms Leistung hängt mit dem „ökonomischen
Boom" jener Epoche zusammen (11). Die Methoden Abä-