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Ausgabe:

1978

Spalte:

509-511

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Stuhlmacher, Peter

Titel/Untertitel:

Schriftauslegung auf dem Wege zur biblischen Theologie 1978

Rezensent:

Luz, Ulrich

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Theologische Literaturzeitung 103. Jahrgang 1978 Nr. 7

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problematisch ist, hängt nun übrigens wiederum zusammen
mit der Faszination, die ein ganz bestimmtes Gedanken-
und Vorstellungsmuster auf T. ausübt, die ihn dieses Muster
überall wiederfinden läßt bzw. ihn vorwiegend da zu suchen
nötigt, wo es tatsächlich zu finden ist; ich meine den Sachverhalt
der Ambivalenz einer Gestalt oder einer Sache, die,
im labilen Gleichgewicht zwischen zwei entgegengesetzten
Polen ruhend und diese Gegensätze in sich umfassend, von
sich selbst verschieden und doch mit sich selbst identisch ist
Das Buch weist eine relativ hohe Quote von Druckfehlern
auf.

Berlin Hans-Martin Schenke

Stuhlmacher, Peter: Schriftauslegung auf dem Wege zur
biblischen Theologie. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht
[1975]. 187 S. gr. 8°. DM 17,80.

Der hier anzuzeigende Aufsatzband, der vor allem unter
Theologiestudenten bereits große Verbreitung gefunden hat,
unterscheidet sich von andern Vertretern dieser Gattung. Er
ist ganz bewußt nicht als eine Sammlung bewährter Früchte
langjähriger Forschung konzipiert, sondern versucht, Bilanz
zu ziehen über die Situation neutestamentlicher Exegese
heute, Rechenschaft abzulegen über Mitte und Sinn neu-
testamentlicher Botschaft überhaupt, die Richtung anzuzeigen
, in die neutestamentliche Wissenschaft gehen muß.
Man könnte sagen: Der Band ist eine Sammlung noch weithin
uneingelöster, aber gewichtiger Versprechen, ein Ruf
zur Sache in Gestalt von Skizzen, ein Stück Programmlite-
ratur, das Ganze des Neuen Testaments betreffend. Daß
Stuhl macher in einer Zeit der Detailanalysen und Textmikroskopie
es riskiert hat, eine solche Schrift mit grundlegenden
und oft noch im Rohzustand sich befindlichen
Ideen vorzulegen, ist eine Tat, für die man ihm dankbar
sein muß.

Die fünf abgedruckten Aufsätze — darunter zwei Erstveröffentlichungen
— haben zwei thematische Schwerpunkte
: Hermeneutik und biblische Theologie.

Mit dem Problem der biblischen Theologie beschäftigt sich
schwerpunktmäßig der Aufsatz über das „Bekenntnis zur
Auferweckung Jesu von den Toten" (128—166). Stuhlmacher
versucht hier, in engem Anschluß an Erwägungen zum alt-
testamentlichen Kanon von H. Gese1 und die Neuentdek-
kung der konstitutiven Funktion der jüdischen Tradition
für die Formulierung des christlichen Glaubens vor allem
durch M. Hengel2 eine zum Alten Testament hin offene neu-
testamentliche Theologie zu entwerfen, in deren Mitte das
Auferstehungsbekenntnis als eine — um die vielleicht
schärfste und problematischste Formulierung zu wählen —
..christologische Präzisierung des ... israelitischen Gottesbekenntnisses
" (151) steht. Eine ausführlichere Würdigung
dieses Ansatzes, der dringend weiterer Präzisierung und
exegetischer Verifikation an den sehr verschiedenen Typen
„alttestamentlicher" Theologie im Neuen Testament selbst
bedürfte, ist in diesem Zusammenhang noch nicht möglich;
es wäre sehr zu hoffen, daß Stuhlmacher selber zu diesem
Thema sich noch einmal ausführlicher äußerte.

In der gegenwärtigen Situation fast noch wichtiger sind
Stuhlmachers Thesen zur hermeneutischen Problematik. In
seinen beiden grundlegenden Aufsätzen zu diesem Thema3
geht er aus von einer Analyse der gegenwärtigen Lage. Sie
ist nach ihm durch drei Momente wesentlich gekennzeichnet:
1. Wir besitzen heute keinen allgemein anerkannten ge-
schichtsphilosophischen oder hermeneutischen Entwurf
mehr, der vergangene Texte in die Gegenwart zu integrieren
vermöchte. Insbesondere ist die integrierende Kraft des
Bultmannschen hermeneutischen Entwurfs, den Stuhlmacher
begrüßenswert differenziert würdigt (S. 24 ff. 90 ff.),
heute weitgehend erschöpft und vermag sich erneut andrängende
Fragen, etwa nach der Universalgeschichte oder der
Erfahrung des Leidens, nicht mehr zu bewältigen. 2. Die

Bibelkritik hat in der kirchlichen Öffentlichkeit „zu einem
enormen christlichen Substanzverlust" (168) geführt. Die
Exegese entzieht sich der Verantwortung dafür faktisch so,
daß sie ihre „dogmatische Pflicht" (171) weithin nicht mehr
ernst nimmt, die Freiheit von dogmatischer Gebundenheit,
die sie in vergangenen Jahrhunderten erkämpft hat, so de-
praviert, daß sie sich ihrer Mitverantwortung für das kirchliche
Bekenntnis oft entschlägt und sich dem Dialog mit der
kirchlichen Tradition entzieht. 3. Hand in Hand damit geht
eine Hypothesenfreudigkeit, die um so mehr an die „Neukreation
auch baren Unsinns" (53, vgl. die bitteren Ausführungen
107 ff.) zu grenzen droht, je weniger die exegetischen
Historiker Verantwortung für die Folgen ihres Tuns in der
Kirche zu übernehmen bereit sind. In der Kirche breitet sich
denn auch Unsicherheit und unter der Pfarrerschaft, die die
Sprünge der Fachexegeten weder mitzuspringen fachlich in
der Lage noch im Blick auf ihre Aufgaben in der Gemeinde
dazu bereit ist, Resignation aus (168). Sich ausbreitende
neopietistische Ablehnung historisch-kritischer Methode ist
die nicht unverdiente Quittung für solches Tun4.

Ich halte diese holzschnittartige Analyse der gegenwärtigen
Situation, die ja an die Adresse der Neutestamentier
eine kräftige Gardinenpredigt enthält, für so gewichtig und
richtig, daß der Versuch, sie in Einzelheiten zurechtzurük-
ken, ein Vorbeireden an der Hauptsache wäre. So interessieren
vor allem die Folgerungen, die Stuhlmacher aus dieser
Situation zieht. Er fordert eine „Hermeneutik des Einverständnisses
" (120), in der die bewährten Prinzipien
historischer Rekonstruktion, das der Kritik, der Analogie
und der Korrelation durch das Prinzip des „Vernehmens",
das „notwendige Pendant zum historischen Zweifel" (36),
zu ergänzen sind. Dieses Prinzip ist ein Gegengewicht zu
den distanzierenden, sich der Vergangenheit bemächtigenden
und sie damit von vornherein wertenden und auch abblockenden
drei klassischen Prinzipien, die Troeltsch in
seinem bekannten Aufsatz über die historische Methode in
der Theologie formuliert hat und die deswegen heute nicht
mehr einfach verabsolutiert werden können, weil zwar die
Geschichtswissenschaft methodisch nach wie vor der ratio
verpflichtet ist, der Rationalismus als geschichtsphilosophi-
sches Grundprinzip, so wie Troeltsch ihm verpflichtet war
(16 f. 83 ff.), aber der Vergangenheit angehört. Ein zweites
für Stuhlmacher grundlegendes Moment ist ein „wirkungsgeschichtliches
Bewußtsein" (35 f. 123 f.), eine im Anschluß
an Gadamer aufgestellte Forderung. Im Hintergrund steht
das Wissen darum, daß ein Übersehen der Wirkungsge-
schichte eines biblischen Textes einen verhängnisvollen
Verlust geschichtlicher Wirklichkeit bedeutet: Wir sind
durch die biblischen Texte immer schon geprägt, mittelbar
und unmittelbar „in unsern Gedanken, Erfahrungen und
Ängsten bestimmt" (36) und können gar nicht einfach „unmittelbar
" nach dem ursprünglichen Gehalt der Schrift
fragen. Das dritte, für Stuhlmacher grundlegende Moment
ist die These, daß sachgemäße historische Kritik „nur möglich
(ist) im Rahmen einer Theologie des dritten Glaubensartikels
" (52). Mit dieser Forderung knüpft er an Luther,
Calvin und Karl Barth an, die nicht umsonst in unserem
Band ausführlich zu Worte kommen. Gemeint ist nicht einfach
eine Flucht in „pneumatische Exegese", sondern die
gebührende Unterscheidung „zwischen prinzipiell revidierbarer
geschichtswissenschaftlicher Erkenntnis und der gewißmachenden
Erkenntnis des Glaubens" (53), der Exegese
dienen will; gemeint ist also der dienende Charakter der
exegetischen Erforschung des Wortsinnes biblischer Texte
gegenüber dem geistgetragenen Verkündigungswort der
Kirche (73 f.). Letztlich geht es darum, daß Exegese als theologisches
Unterfangen nur bestehen kann, wenn sie auf die
Kirche bezogen ist und ihr dient. Kurz, es geht Stuhlmacher
um eine Hermeneutik, die erstens offen macht für die
„Selbstmächtigkeit des Schriftwortes", zweitens für den
„Glaubens- und Erfahrungshorizont der Kirche" und drittens
„für die Begegnung mit der uns aus der Transzendenz
heraus zukommenden Wahrheit Gottes" (125).