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Ausgabe:

1978

Spalte:

455-457

Kategorie:

Referate und Mitteilungen über theologische Dissertationen und Habilitationen in Maschinenschrift

Autor/Hrsg.:

Gaede, Käte

Titel/Untertitel:

Das Schriftverständnis Lev Tolstojs und Fragen seines gesellschaftlichen Bezuges 1978

Rezensent:

Gaede, Käte

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455

Theologische Literaturzeitung 103. Jahrgang 1978 Nr. 6

45«

Remmert, Günter: Schreiben angesichts des Sterbenmüssens.
Ein Literaturbericht (I. Teil) (Bibel und Kirche 32, 1977 S. 14
bis 23).

Schott, Christian-Erdmann: Diaspora als Herausforderung an
die Praktische Theologie (Die evang. Diaspora 48, 1978
S. 74-99).

Zapf, Josef: Gotteserfahrung, Christuserfahrung, Gebetserfah
rung. Ist die Frage nach religiöser Erfahrung eine Mode
welle? (Wort und Antwort 18, 1977 S. 105-112).

-: Was ist Meditation? (Wort und Antwort 18, 1977 S. 33-39).

Zasche, Gregor: Bemerkungen zum Verhältnis von religiöser
Erfahrung und religiöser Sprache (ZKTh 99, 1977 S. 183-194).

REFERATE ÜBER THEOLOGISCHE DISSERTATIONEN IN MASCHINENSCHRIFT

Gacde, Käte: Das Schriftverständnis Lev Tolstojs und Fragen
seines gesellschaftlichen Be7.uges. Diss. Berlin/DDR 1974.
399 S., 5 S. Thesen.

Die Tatsache, daß sich der große russische Schriftsteller als
nahezu Fünfzigjähriger intensiv mit der Bibel beschäftigt und
mit Fragen des Glaubens auseinandergesetzt hat, erfuhr in jeder
bisher über ihn erschienenen Literatur in irgendeiner Weise
eine Einschätzung. Dabei stützte man sich auf die in deutscher
Sprache vorliegenden Werke Tolstois aus jener Zeit, „Meine
Beichte", „Kritik der dogmatischen Theologie", „Worin besteht
mein Glaube?" oder zog noch die „Kurze Darlegung des Evangeliums
" heran. Keine Berücksichtigung oder nur unzureichende
Kommentierung hat bisher das 1880-1884 entstandene
und nur in russischer Sprache vorliegende Werk „Vereinigung
und Übersetzung der vier Evangelien" (Soedincnie i perevod
cetyrech Evangelij) gefunden.

Die Dissertation hat sich darum in ihrem ersten Teil ausschließlich
diesem Werk gewidmet und analysiert den Versuch
Tolstois, die Grundzüge des Evangeliums in einer Evangelienharmonie
zusammenzufassen. Vfn. geht auf die exegetischen Bemühungen
Tolstois im einzelnen ein und wertet sie unter Berücksichtigung
bisher erfolgter Kritik. Da Vfn. keine Gesamtübersetzung
der Evangelienharmonic Tolstois bieten konnte
(die Schrift Tolstois umfaßt 798 Seiten), gibt sie eingangs einen
Überblick über die gesamte Textauswahl und -Zusammenstellung
Tolstois, bietet dann zentrale Texte vollständig (Johannes-
Prolog, Versuchung Jesu, Nikodemus-Gespräch, Rcich-Gottes-
Gleichnisse, Bergpredigt) und faßt die Aussagetendenzen der
übrigen Passagen zusammen. Auf die jeweilige Spezifik der
tolstoischen Evangelien-Übersetzung hinweisend, die sich aus
seiner Gegenüberstellung von Synodaltext und eigener Fassung
ergibt, werden die Ergebnisse von Tolstois Schriftinterpretation
herausgearbeitet, um aus ihnen im 2. Teil der Arbeit das
Schriftverständnis herauszukristallisieren.

Da bisherige Einschätzungen der exegetischen Arbeit Tolstois
häufig im vorschnellen Rückgriff auf seine - auch in der
„Kurzen Darlegung des Evangeliums" vorhandenen - Absichtsäußerungen
entstanden sind, hat Vfn. den Nachdruck auf die
Ergebnisse ihrer unmittelbaren Textanalysc gelegt und grenzt
sich in ihren Ergebnissen sowohl von jenen Absichtsäußerungen
Tolstois als auch von den auf ihnen basierenden Einschätzungen
ab: Tolstois expressis verbis geäußerte Ablehnung des
Alten Testaments stellt keine radikale Kanonkritik dar; ebenso
ist Tolstois Rückgriff auf die Evangelien nicht als prinzipieller
Verzicht auf alle anderen neutestamentlichen Schriften zu deuten
. Tolstois Beschränkung auf die Evangelien ist als Hinweis
auf die Mitte des Neuen Testaments zu verstehen. Die Weglassung
von Evangelientexten (Wundererzählungen und Auf-
erstchungsberichten) hat bei Tolstoi ihren Grund in der mythologischen
Vorstelhmgen verhafteten Auslegung des Offenbarungsgeschehens
von Seiten der Tradenten. Tolstois Evangelienübersetzung
geschieht in der Lösung von den Voraussetzungen
der Schriftinterpretation seitens der orthodoxen Kirche. Gegenüber
der notwendig durch die Überlieferung angeleiteten Auslegung
der Heiligen Schrift betont Tolstoi die alleinige Autorität
der Schrift als Quelle der Glaubenslehre und begründet ihre
Autorität mit dem verkündigten und gelebten Glauben Jesu
Christi. Die von Tolstoi geforderte Aktualisierung der Botschaft
des Neuen Testaments vollzieht er selbst, indem er z. B. d'"
Polemik Jesu gegen die Pharisäer auf die Russische Orthodoxe

Kirche seiner Zeit überträgt. Mit der Kritik an der Russischen
Orthodoxen Kirche verbindet er untrennbar die Kritik an den
gesellschaftlichen Zuständen seiner Zeit. Trotz der kritischen
Position gegenüber der orthodoxen Kirche bleibt Tolstoi wesentlichen
systematisch-theologischen Positionen der orthodoxen
Kirche verhaftet.

Auf die Frage von Diskontinuität oder Kontinuität im Schaffen
Tolstois in bezug auf seine verstärkte Hinwendung zum
Evangelium geht Vfn. in einem weiteren Abschnitt ihrer Arbeit
ein. Die Evangelienharmonic Tolstois wird nicht als Wendepunkt
in seinem Schaffen, sondern als dessen Höhepunk!
charakterisiert und die Entwicklung skizziert, die sich bei
Tolstoi in den Fragen von Glaube, Kirche und Gesellschaft aufzeigen
läßt: Tolstoi hat in der Heiligen Schrift die Antwort auf
die Frage nach dem Sinn des menschlichen Lebens erhalten
und von diesem den Sinn seines eigenen Lebens abgeleitet. Von
hier aus fragt er nach dem evangeliumsgemäßen Auftrag der
Kirche, greift gesellschaftliche Probleme seiner Zeit auf und
versucht sie zu beantworten. Tolstois öffentliche Wirksamkeit
könne deshalb nicht unabhängig von dieser Verflochtenheit mit
der Glaubensfrage gesehen werden.

Vfn. sieht also „das Schriftverständnis Lew Tolstois und
Fragen seines gesellschaftlichen Bezuges" dialektisch aufeinander
bezogen.

Von dort aus wird - in einem Exkurs, unter Hinzuziehung
neuerer sowjetischer Literatur - die Reaktion der Russischen
Orthodoxen Kirche auf Tolstois Wirken bestimmt. Anhand
ausführlicher Belege tritt die negative Rolle des seinerzeitigen
Oberprokurors der Russischen Orthodoxen Kirche, Pobedenos-
cev, hervor, und die vom Synod 1901 ausgesprochene Exkommunikation
Tolstois wird als ein den Interessen der Staatsmacht
dienender politischer Akt bestimmt.

Ein weiterer Exkurs ist den Einschätzungen Tolstois in Arbeiten
deutschsprachiger protestantischer Theologen gewidmet.
Charakteristische Linien, die sich in der jeweiligen Beurteilung
Tolstois abzeichnen, werden bestimmt und als von historischen
Ereignissen und gesellschaftlichen Bedingungen sowie
jeweils vorherrschenden theologischen Fragestellungen abhängig
charakterisiert.

Da Vfn. Tolstois theologischen Standort als vom orthodoxen
Denken nicht zu lösenden herausgestellt hat, weist sie alle Versuche
, Tolstois kirchen- und dogmenkritischen oder auch exegetischen
Standpunkt vom protestantischen Denken und Forschungsergebnissen
abhängig zu sehen, zurück. Sie wendet sich
dagegen, Tolstois Eigenständigkeit zu vernachlässigen und
so die Eigenart der orthodoxen Glaubenswclt außer acht zu
lassen. Außerdem verweist sie auf die Gefahr, bei „Vcrcinnah-
mung" Tolstois für den protestantischen Bereich die von ihm
angeschnittenen theologischen und gesellschaftlichen Probleme
in ihrer Bezogenheit auf seine Situation zu übersehen.

Die Arbeit schließt mit der Fragestellung ab, welche Impuls''
Tolstoi für Theologie und Kirche heute geben könne. Hierzu
wird als bleibendes Verdienst Tolstois hervorgehoben, daß er
nachdrücklich darauf hingewiesen habe, daß für die Kirche und
den einzelnen Gläubigen die Verkündigung des Evangeliums
- in Wort und Tat - die eigentliche Aufgabe ist und alle
Theologie allein auf diese bezogen sein muß und gesellschaftliche
Verantwortung der Kirche und des einzelnen dazugehören.
Davon ausgehend habe Tolstoi seinerzeit zu notwendige''
metnnoia aufgerufen.