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Ausgabe:

1978

Spalte:

444-445

Kategorie:

Kirchengeschichte: Neuzeit

Autor/Hrsg.:

Brack, Rudolf

Titel/Untertitel:

Deutscher Episkopat und Gewerkschaftsstreit 1978

Rezensent:

Gabriel, Hans-Jürgen

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Theologische Literaturzeitung 103. Jahrgang 1978 Nr. 6

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nal-konservativen „Libertins" ergreifen ließ; der Biograph
deutet zurückhaltend die für eine gerechtere Gesamtwertung
des Werkes Calvins erforderlichen Korrekturen der B.schen
Sicht an.

Die entscheidenden Anregungen, die ihm Ranke für seine
Darstellung der Gegenreformation vermittelt hat,
schmälern nicht die Selbständigkeit B.s, der noch vor W. Maurenbrechers
Studien seine eigenakzentuierte, an Einsichten und
geschliffenen Formulierungen reiche Gesamtdeutung vorgetragen
(aber nicht publiziert) hatte; die politischen Machtverhältnisse
in Europa und die religiösen Kräfte werden konturenreich
charakterisiert. (Bei der Darstellung der Geschichte des
dreißigjährigen Krieges versucht B. „sein Ohr offen zu halten
für die Stimmen derer, die unter die Räder gekommen sind"
[S. 179].) Für B.s Gesamtkonzeption tragend wird die das Zeitalter
sprengende Idee der konfessionellen Parität und Toleranz
.

Der erst im 20. Jh. als scharfsichtiger Zeitdiagnostiker
und -kritiker anerkannte Basler Gelehrte- beobachtete
seit den 60er Jahren des 19. Jhs. eine Steigerung des Militarismus
, „alle Wolken des Himmels über halb Europa hängen
dick voll künftiger Gewalttat" (S. 468), er sieht sich in eine
unvertraute Welt der Abgründe und Abstürze versetzt, Deutschland
als Ganzes steht nun bei B. in einem fahlen, erloschenen
Licht: die Einigung Deutschlands im Stil der Bismarckschcn
Parole von „Blut und Eisen" erscheint als „Eroberung Deutschlands
durch Preußen" (S. 459). B., der mit seinen Schweizer
Landsleutcn einig war in der Ablehnung des preußischen Mili-
lärstaatcs (des „Soldatenpreußendeutschland" (S. 469)) und des
preußischen Machtstrebens, rechnete seit 1866 mit einem europäischen
Krieg.

In dem deutsch-französischen Krieg erblickte B. den Beginn
einer „Ära von Kriegen" (S. 479) und beobachtete mit Entsetzen
und Besorgnis die den Imperialismus kennzeichnende, in der
Kriegsrüstung und dem Flottenbau sich manifestierende Tendenz
der schrankenlosen Machtausübung und Machtbchaup-
tung; seine Reaktion auf die Meldung über die Kaiserproklamation
in Versailles: „Das ist der Untergang Deutschlands"
(S. 481) brachte zum Ausdruck, daß er eine tiefgehende Zäsur
in der deutschen Geschichte konstatierte: Er sah damals das
Deutschland Goethes und J. P. Hebels, das er sein Leben lang
geliebt und das die Welt bewundert hatte, untergehen. Schon
zwei Jahre nach dem Sieg über Frankreich stellte B. eine „Abnahme
der geistigen Spontaneität in Deutschland" fest (S. 507).
Obwohl B. unbeirrt auf eine Erneuerung aus dem Geistigen
und Religiösen hoffte, schätzte er Schopenhauer als den Philosophen
, der „sagt, was überhaupt alles zum Reich der Täuschungen
gehört und wie man den eiteln Hoffnungen zu
rechter Zeit entsagen könne" (S. 515); das „Selbstgefühl so
vieler Standesgenossen" (ebd.) und der zeitgenössische Wissenschaftsbetrieb
blieben ihm fremd. - Auf seine Sicht der gesellschaftlichen
Veränderungen in den europäischen Staaten
kann hier nicht eingegangen werden. - Vom Grundgefühl, im
Abendrot einer Epoche - senescens saeculum - zu stehen, sind
auch die ihn bedrängenden Zukunftsbilder bestimmt. Zur
Prophetie' B.s bemerkt der Vf.: „... Der Prophet ist ... ein
Mann, der aus tieferem Wissen heraus den Sinn des gegenwärtigen
Geschehens durchschaut und unabhängig von Bindungen
... die Wahrheit zu reden wagt, im Gefühl eines höheren
Auftrags". (S. 616) „Gewiß hat man zuweilen den Eindruck,
er habe nur die schwarzen Gewitter gesehen, die seiner Welt
bevorstanden, und sein Blick sei nicht über die Schwelle von
1945 hinaus in die Zukunft gedrungen... Daß nach dem Abrollen
der Katastrophen etwas Neues und Besseres kommen
müsse, stand B. zu allen Zeiten fest. . . . Mit großer Bestimmtheit
sprach er von den Pflichten des geistigen Menschen für
den jeweiligen Tag." (S. 640)

Werner Kaegi gebührt der Dank für ein Werk, das sich durch
hohe kompositorische Meisterschaft auszeichnet und auch damit
Maßstäbe setzt: Die vom Autor rekonstruierte Geschichte der
modernen Welt (begriffen und dargestellt als B.s Konzeption,
geprägt von seiner Forscherpcrsönlichkcit und Ausdruck seiner
Biographic) bleibt die bestimmende Mitte des Ganzen, wo

nötig und nützlich wird die Anschauung des Betrachters zur
Einsicht vertieft, ohne daß über der gelehrten Kommentierung
die Lebendigkeit der Darstellung verlorenginge. Der weiter
Forschende wird für die kundige Kommentierung danken, die
den Einblick in den Schaffensprozeß B.s und dessen Verflochtenheit
mit der Geschichte der Zeit wesentlich vertieft und vor
allem auch die Kenntnis der Geschichte der Historiographie bereichert
; der Reichtum der Beziehungen und Belege kann hier
nicht angedeutet werden.

In der Unbestechlichkeit seines Urteils, in seinem Durchblick
und Weitblick begegnet der Univcrsalhistoriker und der
Mensch B.; auch für den in diesem Band erfaßten Zeitraum
stellt sich die (am europäischen Humanismus gebildete)
humanitas B.s als die tragende Kraft des Lebenswerkes dar;
in kongenialer geistiger Nähe und zugleich in einer den Leser
ergreifenden Zurückhaltung hat der Biograph am Schaffen,
Forschen und Gestalten B.s selbst diese Grundhaltung anschaubar
werden lassen.

Auch wenn man B. nicht als Geschichtsphilosoph, sondern
als „denkenden Darsteller der Geschichte" (S. 14) begreift,
wird man seine - bei aller Standortgebundenheit dss Historikers
- in hohem Maße ethischen Maßstäben verpflichtete histo
rischc Reflexion doch als gleichwertig mit seinem künstlerischen
Sinn und seiner stilistischen Meisterschaft bewerten.

Als einer unter vielen, die in der Wirkungsgeschichte der
Geistigkeit B.s gestanden haben, sei Hermann Hesse (1877 bis
1962) erwähnt, der zu den prägenden Bildungsmächten seines
Lebens - neben dem völlig unnationalistischcn Geist des Elternhauses
und den Lehren der großen Chinesen - den Einfluß
des - wie er feststellte - „einzigen Historikers, dem ich je mit
Vertrauen, Ehrfurcht und dankbarer Jüngerschaft zugetan war:
Jacob Burckhardt", zählte. (Ges. Schriften, Bd. VII, Frankfurt/
Main 1957, S. 422; vgl. E. Middell, H. Hesse, Leipzig 1972,
S. 281).

Jena Eberhard H. Pältz

1 Dazu auch die Darstellung und Kritik von E. W. Zceden, Reformation und
Gegenreformation in J.B.s historischen Fragmenten. HJ 74, 195.r>. 747-758;
außerdem: E. W. Kohls, Das Bild der Reformation in der Geisteswissenschaft
des 19. Jhs. (G. W. F. Hegel, L. v. Ranke, J. Burkhardt) NZSTh 9, 1967.
229-346] H. Bornkamm, Luther im Spiegel der deutschen Gcistesgeschichtc,
Göttingen 19702.

- Auf J. Wenzel, J. B. in der Krise seiner Zeit, Berlin 1967, sei hier erneut
hingewiesen.

Brack, Rudolf: Deutscher Episkopat und Gewerkschaltastreit
1900-1914. Köln-Wien: Böhlau 1976. XXII, 448 S. gr. 8°
Bonner Beiträge zur Kirchcngeschichte, hrsg. v. E. Dassmann,
E. Hegel, B. Stasiewski, 9. Lw. DM 86,-.

Der sog. Gewerkschaftsstreit, der von der Jahrhundertwende
bis zum Ausbruch des I. Weltkrieges den deutschen Katholizis
mus erregte, drehte sich um die Frage, welche Form der Orga
nisation katholischer Arbeiter sich als geeigneter erweisen
würde, dem wachsenden Einfluß der Sozialdemokratischen
Partei Deutschlands und der ihr nahestehenden freien Gewerkschaften
entgegenzuwirken. Während die vor allem UB
rheinisch-westfälischen Industriegebiet beheimatete Mönchcn-
Gladbacher oder Kölner Richtung angesichts der dort bestehenden
Verhältnisse dieses Ziel mittels konfessionell gc
mischter christlicher Gewerkschaften anstrebte, trat die an
Nord- und Ostdeutschland orientierte Berliner Richtung tttX
rein katholische Arbeiterorganisationen ein.

Vorliegender Arbeit, die die überarbeitete Fassung einer an
der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Bonn
eingereichten Dissertation darstellt, gebührt das Verdienst, die
Erforschung dieser Auseinandersetzungen vor allem durch Erschließung
von Qucllenmaterial aus Archiven der BRD vorangetrieben
zu haben. Dabei richtet sich die Aufmerksamkeit des
Vfs. besonders auf die Rolle des deutschen Episkopats und der
Kurie in diesem Streit. Deutlich wird aus Bracks Darstellung.