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Ausgabe:

1978

Spalte:

439-441

Kategorie:

Kirchengeschichte: Reformationszeit

Autor/Hrsg.:

Schoeps, Hans-Joachim

Titel/Untertitel:

Deutsche Geistesgeschichte der Neuzeit, Ein Abriß in fünf Bänden, I: Das Zeitalter der Reformation 1978

Rezensent:

Wendelborn, Gert

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Theologische Literaturzeitung 103. Jahrgang 1978 Nr. 6

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Schoeps, Hans-Joachim: Deutsche Geistesgeschichte der Neuzeit.

Ein Abriß in fünf Bänden. Ii Das Zeitalter der Reformation.
Mainz: v. Hase & Koehler Verlag (1977]. 379 S. 8°. Lw.
DM 48,-.

Dieses Buch ist der erste Band einer fünfbändigen deutschen
Geistesgeschichte, die von Renaissance, Humanismus und Reformation
bis zur Gegenwart führt. Das Werk ist aus einer
Vorlesungsreihe erwachsen, die Schoeps mehrmals als Professor
für Religions- und Geistesgeschichte in Erlangen seit
1948 gehalten hat. Wie schon aus dem Titel ersichtlich, liegt
das Schwergewicht der Darstellung auf der Erfassung geistiger
und ideengeschichtlicher Entwicklungslinicn, doch werden
diese, soweit es einem bürgerlichen Autor möglich ist, auf dem
Hintergrund der Wandlungsprozesse an der „Basis" verständlich
gemacht. Vf. stellt sich das Ziel, das Typische des jeweiligen
Zeitgeistes in seinem Für und Wider sauber zu eruieren
und das Proprium jeder geistigen Strömung erkennbar werden
zu lassen. Naturgemäß könnte man manche seiner Feststellungen
kritisch hinterfragen, was hier aus Raumgründen leider
nicht möglich ist. Aufs ganze gesehen aber darf man urteilen,
daß es Schoeps durchweg vorzüglich gelungen ist, die einzelnen
Richtungen in ihrer Eigenart zu erfassen. Seine Urteile sind
durch wenige, aber sorgfältig ausgewählte Qucllcnbelege abgesichert
; sie können, obgleich gelegentlich die konservative
Grundeinstellung des Vfs. hervortritt, im allgemeinen als sachlich
und überzeugend gelten. Ich möchte die Fairncss und die
ungemein wohltuende noble Gesinnung, die in der Betrachtungsweise
des Vfs. zutage tritt, besonders hervorheben.
Schoeps scheut sich nicht, andere Wissenschaftler mit längeren
Zitaten direkt zu Wort kommen zu lassen. Verständlicherweise
stützt er sich weithin auf ältere Literatur, ohne daß seine Ausführungen
dadurch antiquiert wh'kten. Er erstrebt eine Einführung
und einen allgemeinen Überblick, die natürlich im
Detail der Auffüllung bedürfen.

Für Schoeps beginnt mit Renaissance, Humanismus und Rc
formation die Neuzeit, deren Vielgestaltigkcit er sehr wohl
kennt, in der er aber als gemeinsamen bestimmenden Grundimpuls
die allseitige Ablösung von der sakral bestimmten
Kultur des Mittelalters zugunsten der Autonomie der Vernunft,
des Eigenwertes des Irdischen und des Erlebens der eigenen
Individualität wahrnimmt. So werden schon die geistigen
Strömungen der Reformationszeit als Anbahnung bzw. Vollzug
eines beispiellosen Traditionsbruches verständlich, was ein
Vergleich mit dem Geist des Mittelalters unter Aufnahme der
instruktiven symbolgeschichtlichen Untersuchungen Percy
Ernst Schramms und Eduard Eichmanns eindrücklich untermauert
. Auch in den folgenden Kapiteln gelingt es dem Vf.
immer wieder, in den verschiedensten Bereichen der Wirklich
keit diese Wandlungen zu verdeutlichen. So weist er bei der
Behandlung der Renaissance auf den neuen Realismus, den
Willen zu eigenverantwortlichem Gestalten der Verhältnisse,
das Ideal des uomo universale, die sich ausbreitende kühl berechnende
Denkart des Kaufmanns, die Wertschätzung des
Geldes, das neuartige Zeitbewußtscin mit seiner Steigerung des
Lebenstempos und dem Geist unruhiger Betriebsamkeit, aber
auch auf den Willen zum Genießen des irdischen Lebens hin.
Er konkretisiert diese Feststellungen an Biographie und Selbstverständnis
von im einzelnen so unterschiedlichen „Menschen
des Übergangs" wie Agrippa von Nettesheim, Paracelsus,
Machiavelli und Montaigne, wobei ihm einprägsame Lebensbilder
gelingen.

Auch der Humanismus wird in seiner Eigenart wie in seiner
Komplexität vorgestellt und als Bildungsbewegung erfaßt,
wobei Vf. auf die eruditio als Kultivierung aller seelischen
Fähigkeiten und das Ideal der Vertu als Sclbstkraft besonders
hinweist. Trefflich ist das von Schoeps in Anlehnung an
Huizinga und Bainton entworfene Erasmus-Bild. Als dessen
eigentliches Ziel wird die Umformung der Kirche in eine philosophisch
-pädagogische Bildungsanstalt auf Christus hin beschrieben
und er selbst als Repräsentant des bewußt kosmopolitischen
Flügels des Humanismus, der vom betont nationalen
Humanismus Huttens abgehoben wird, gewürdigt. Viel

Raum gewährt Vf. der Analyse des „Lobes der Torheit", wobei
er den spezifisch neuzeitlichen Charakter dieses Werkes gerade
in seiner Hintergründigkeit und Zwielichtigkeit plastisch her
vorhebt, ohne daß er den Abstand des Erasmus von der Aufklärung
des 18. Jhs. übersähe. Eindrucksvoll verdeutlicht
Schoeps auch den Gegensatz von Erasmus und Luther. Während
Erasmus der Mann der sorgfältig abwägenden Mitte war und
deshalb unter Umgehung klarer Entscheidungen zwecks Erhaltung
der vollen Unabhängigkeit möglichst Zuschauer im dramatischen
Ringen seiner Zeit bleiben wollte, stürzte sich Luther
in den Kampf, da Nachfolge für ihn etwas essentiell anderes
als ein bloßer Bildungsvorgang war, und stellte aufgrund
seines tiefen Einblicks in die Sündhaftigkeit der menschlichen
Natur dem Genie den „Madensack" Mensch entgegen.

Dies zeigt an, daß Schoeps sehr wohl um den fundamentalen
Gegensatz zwischen Humanismus und reformatorischer Theo
logie weiß. Das läßt die Frage nach dem Verhältnis der Refor
mation zum Mittelalter wie zur Neuzeit aufkommen. Luther
hielt nach Schoeps zwar subjektiv an der Zielsetzung fest, die
gesamte Wirklichkeit direkt oder indirekt aus der Verantwortung
des Glaubens zu gestalten. In ihren faktischen Auswirkungen
aber trug die Reformation mehr als andere Gcistcs-
bewegungen dazu bei, die Neuzeit vorzubereiten bzw. cin7,u-
leiten. Vf. macht in diesem Zusammenhang auf die Freigabe
des innerweltlichcn Bereichs für den Gebrauch der eigenverantwortlichen
, schöpferischen Vernunft aufmerksam, ebenso
aber auch darauf, daß das stark subjektiv geprägte Glaubensverständnis
Luthers wie schon seine psychologische Sclbstzer
gliederung im Kloster Ausdruck eines neuzeitlichen Selbstvcr-
ständnisses waren. Die Gründung der Gottesbeziehung auf die
Glaubensgewißheit statt auf die kirchcnrcchtlich und sakra'
mental abgesicherte, in der sichtbaren Kirche verankerte Heils-
Ordnung wird als Folge des Traditionsbruches erkennbar. Gewiß
wollte Luther wirklich revolutionäre Folgerungen aus
diesem Grundansatz zumindest seit seiner Antithese zu den
„Schwärmern" umgehen, aber Schoeps ist darin zuzustimmen,
daß letztere z.T. nur von Luther aus weiterdachten.

Wie Schoeps die Eigenart der Theologie Melanchthons in
ihrer fruchtbaren Spannung von reformatorischem und humanistischem
Wollen treffend herausarbeitet, so läßt er auch das
reformatorische Werk Zwingiis und Calvins in ihrer Unter-
schiedenheit von Luther ersichtlich werden. Zwingli gilt ihm
als Archetyp des politischen Christen, der ebenso sehr Politiker
wie Reformator war und von Anfang an die Reform nicht nur
der Kirche, sondern des gesamten öffentlichen Lebens erstrebte.
Für Calvin, der aus Genf eine halbklösterlichc Bürgcrgesell-
schaft gemacht habe, hätten Staat und Kirche als gleichberechtigte
Größen im Dienst des Gottesreiches gestanden. Ausführ
lieh beschäftigt sich Schoeps auch mit der seit Max Weber nicht
wieder zur Ruhe gekommenen Frage nach den Zusammen
hängen von Calvinismus und Kapitalismus. Er nimmt Webers
Anliegen auf, dringt aber mit Recht darauf, die nicht systematisch
ausgearbeitete Sozialethik Calvins vom Ethos des Purita-
nismus zu unterscheiden.

Eindrucksvoll weiß Schoeps schließlich auch den linken
Flügel der Reformation vorzustellen, wobei er Müntzer, die
Täufer und die Spiritualisten voneinander abhebt. Vf. bekennt
seine persönliche Sympathie für das gewaltlosc Täufertum;
dem Münsteraner Täuferrcich kann er dagegen nichts Positives
abgewinnen. Das Täufertum deutet er richtig als Originalgewächs
auf dem Bodcri des 16. Jhs., wenn es auch mit auf das
spätmittelalterliche Konvcntikeltum zurückgehe. Schoeps ist
nicht blind gegenüber spezifischen Gefahren des Täufcrtums,
die er besonders im Hang zur Gesetzlichkeit wahrnimmt; doch
sieht er in den Täufergemeinden vorrangig den geglücktesten
Versuch der gesamten Kirchengeschichte, makellose Gemeinden
aufzubauen. Instruktiv sind die großenteils auf eigener Forschungsarbeit
beruhenden Darlegungen des Vfs. über die
Christologie und Sakramentslehrc der Täufer und Spriritua
listen, wobei Männer wie Schwenckfcld, Melchior Hofmann
und Menno Simons im Mittelpunkt stehen. Sehr erhellend sind
vor allem die Ausführungen über die in diesen Kreisen ver-