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Ausgabe:

1978

Spalte:

435-437

Kategorie:

Kirchengeschichte: Mittelalter

Autor/Hrsg.:

Gründel, Johannes

Titel/Untertitel:

Die Lehre des Radulfus Ardens von den Verstandestugenden auf dem Hintergrund seiner Seelenlehre 1978

Rezensent:

Kandler, Karl-Hermann

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435

Theologische Literaturzeitung 103. Jahrgang 1978 Nr. 6

kommt auch die geistliche Sittenpredigt in den Blick (S. 133 ff.).
Eine Verstärkung der rhetorischen Elemente im 11. Jh. wird
im Zusammenhang mit einer allgemeinen Steigerung religiöser
Gefühle gesehen (S. 136). Den historischen Zusammenhang umreißt
F. mit den Sätzen: „Der römische Staat hatte die Rhetorik
gepflegt, und die christlichen Väter hatten auf sie nicht verzichtet
; so findet sich ihr Erbgut auch in den Urkunden des
mittelalterlichen Imperators. . ." (139). Am Schluß werden „Beispiele
für den Gebrauch von Figuren und Tropen" geboten, die
in einem Index rhetorischer Fachausdrücke enden. Aufsatz 8
„Zu den Urkundenfälschungen Pilgrims von Passau" führt zu
dem Ergebnis, daß dieser Bischof vermutlich in den Jahren
973/74 seine Fälschungsaktion mit eigenhändig geschriebenen
Urkunden betrieben hat; bisher nahm man einen anonymen
Schreiber an und datierte die Fälschungen in das Jahr 977.
Trotz dieses scheinbar nur geringfügigen Ergebnisses liest man
diese gründliche Untersuchung über eine viel verhandelte
Materie mit Gewinn; der Zusammenhang mit der Vita Severini
des 5. Jhs. kommt mehrfach mit in den Blick. Abschließend
fragt F., ob man nicht auch in anderen Fällen die Bischöfe
selbst als Verfasser von Urkunden annehmen sollte, wo man
bisher besondere Schreiber voraussetzte (178). Speziell österreichische
Territorialgcschichte betreffen die Aufsätze „Probleme
des Klosterneuburger Traditionsbuches" (180-93) und
„Zur Überlieferung des Privilegium minus von 1156" (194 bis
211). Aufsatz 11 untersucht „Die Kanzlei der letzten Babenberger
" (212-57). In der Kanzlei arbeiteten Pfarrer nieder-
österreichischer Landgemeinden, die nur die Einkünfte ihrer
Pfarrei bezogen und primär im Dienst der Herrscher standen.
Freilich konnte 1229 der zuständige Bischof von Passau an die
bestehende Residenzpflicht der Pfarrer erinnern (225). Mit
dem Beginn der Habsburger hatte die Kanzlei der Babenberger
ihr Ende gefunden. Ein Register sowie ein Verzeichnis der
Arbeiten Fichtenaus (von 1937-75) beschließen den Band.

Man möchte hoffen, daß die Reihe so anregender Arbeiten
noch fortgesetzt wird. Im Vorwort jedenfalls spricht F. von der
erfreulichen Möglichkeit, daß diesem 2. Band noch ein 3. Band
folgen könne.

Rostock Gert Hacndler

Gründel, Johannes: Die Lehre des Radulfus Ardens von den
Verstandestugenden auf dem Hintergrund seiner Seelenlehrc.
München - Paderborn - Wien: Schöningh 1976, XXXII, 382S„
gr. 8" = Münchner Universitäts-Schriften. Fachbereich katholische
Theologie. Veröffentlichungen des Grabmann-Institu-
tes zur Erforschung der mittelalterl. Theologie u. Philosophie
, hrsg. M. Schmaus, W. Dettloff, R. Heinzmann, N. F.
27. Kart. DM 68,-.

Vorliegende Untersuchung - eine Münchner röm.-kath.
Habil.-Schrift von 1966 - will einen Beitrag liefern für einen
geschichtlichen Aufriß der Moraltheologie des Mittelalters. Ihr
liegt zugrunde das Speculum Universale des Radulfus Ardens,
das Vf. den „größten ethischen Entwurf des 12. Jahrhunderts"
nennt. Es ist bisher noch nicht im Druck zugänglich. Seine
kritische Edition, die Vf. besorgt, wird noch die Arbeit einiger
Jahre erfordern.

Lange Zeit unbeachtet (auf jeden Fall war das Werk schon
im 13. Jh. in Vergessenheit geraten), haben B. Geyer und
M. Grabmann1 vor bald 70 Jahren auf diese „umfangreichste
und beste Darstellung der Ethik im 12. Jahrhundert" (Geyer)
hingewiesen und damit den Anstoß zu weiteren Studien gegeben
.

Wir müssen damit rechnen, daß die Maßstäbe, die wir an
die theologischen Lehrer des Mittelalters zu setzen gewohnt
sind, geändert werden müssen. Es ist damit zu rechnen, daß
bedeutende Werke verlorengegangen sind oder noch entdeckt
werden oder daß erst nach ihrer Edition erkennbar wird,
welche Bedeutung sie haben. Es könnte sich zeigen, daß sie den
heute bekannten nicht nachstehen. Für das Sp.U. dürfte dies

zutreffen. Vf. läßt uns mit seiner - der Edition vorgreifenden -
Studie erkennen, wie eigenständig, kritisch und wie umfassend
diese ethische Summe ist, die gerade umgekehrt zu manchen
anderen Summen (bis ins 20. Jh. hinein, vgl. Barth und Tillich)
die Dogmatik in die Ethik hincinnimmt (vgl. 375).

Vf. gibt mehr, als der Titel verspricht, der eigentlich nur für
das letzte Kapitel zutrifft. Im I. Teil gibt er eine „Litcrar-
kritische Analyse des Speculum Universale des Radulfus
Ardens" (7-99). Er informiert über Persönlichkeit und Werke
von R.A., auch über seine Predigten und seine Seelsorge. Dazu
gehört, wie hart R.A. die gesetzmäßige Einführung des Zölibats
ablehnt: „Heu quantam dedit prohibitio illa stragem anima
rum" (21). Dann wird Aufbau und Gliederung des Sp.U. vorgestellt
, wobei Vf. davon überzeugt ist, daß es unvollständig
geblieben ist, nicht nur hinsichtlich des ausgelassenen Buches VI
über das Gebet, sondern auch hinsichtlich des Schlusses, da das
Werk abrupt abbricht. Vf. vermutet, daß ein Buch XV der
sittlichen Bedeutung des Tuns gewidmet sein sollte. Die benutzten
Quellen werden vorgestellt und dann ausführlich die
bekannt gewordenen Handschriften beurteilt.

Der Teil II behandelt „Die Lehre von den Vcrstandcslugcn
den auf dem Hintergrund der Seelenlehre" (101-378), in Kap. 2
„Die Lehre von der Seele und ihren Kräften", in Kap. 3 „Die
Lehre vom sittlich Guten und von der Tugend im allgemeinen"
und erst in Kap. 4 „Die Verstandestugenden" Glaube, Klugheit,
Gerechtigkeit, Starkmut (fortitudo) und das rechte Maß (tem-
perantia). An den Schluß stellt G. eine „Abschließende Zusammenfassung
", der leider nur noch ein Namensregister folgt.

R.A. fügt den Traktat über die Seele - eigenständig im Vergleich
zu seinen Zeitgenossen - in ein theologisches Werk ein.
Das ist symptomatisch. R.A. handelt nicht nur theoretisch über
die Seele, ihm geht es vornehmlich „um das sittliche Unter-
scheidungsvermögen und um die Bedeutung der Seelenkräfte
für das verantwortliche Tun des Menschen" (112). Sie ist fähig,
„zwischen Gut und Böse zu unterscheiden, das höchste Gut zu
erkennen, das Erkannte zu lieben, das Geliebte durch gute
Werke zu suchen, das Gesuchte endlich zu erlangen, das Erreichte
zu genießen und im Genießen sich ewig zu freuen"
(111). Er kann die Affekte grundsätzlich positiv werten (127f.);
für R.A. ist nicht jedes Begehren und Streben sündhaft, aber
der Vernunft ist die Herrschaft darüber aufgetragen (134). Nur
Gott kommt potentia zu, die potestas peccandi stammt nicht
von Gott, sondern ist zuletzt impotentia (145, vgl. 148). Hier
wird, wie an anderen Stellen, Augustins Einfluß erkennbar.
Für R.A. besitzt die Intention „eine entscheidende Bedeutung
für die Sittlichkeit der Handlung" (180), deren Urheber Gott
ist, der aber durch seine menschlichen ministri handelt (185).
Für ihn „gibt es einfach keine Tugend, die nicht auf Gott bezogen
ist" (251). Das Endziel alles Handelns aber ist Christus
(G. hebt die christozentrische Ausrichtung dieser Ethik hervor,
184).

Interessant ist, was R.A. über die Willensfreiheit und deren
Beeinträchtigung durch die Sünde ausführt. Die Kraft zum
Guten kommt allein von Gott, das Sündigenkönnen hat aber
der Mensch nicht von ihm erhalten, sondern besitzt es aus sich
selbst. Gut und verdienstlich ist sein Handeln nur aufgrund
göttlicher Gnade (196). Aufgrund der Erbsünde sei der Mensch
den Versuchungen ausgesetzt, müsse aber nicht der Todsünde
verfallen. Christus habe den durch die Sünde verderbten freien
Willen durch seine Gnade im Menschen wiederhergestellt (197).
„Eigenmächtig sind wir frei. Böses zu verüben, durch die
Gnade sind wir 'befreit', Gutes zu tun" (199). Nicht erst
K. Rahner, sondern schon die Porretanerschule (und in ihr
R.A.), wußte von der befreiten Freiheit der Kinder Gottes zu
reden (207).

Treffend hat oftmals R.A. definiert. Zwei Beispiele seien
- in der Übersetzung von G. - zitiert: „Klugheit ist die
Tugend, die das Gute vom Bösen, das Bessere vom Guten und
das geringere Übel vom größeren zu unterscheiden und zu
wählen vermag" (313). Dagegen heißt es sehr allgemein: „Gerechtigkeit
ist der Wille, sich gegenüber einem jeden richtig zu
verhalten", doch ist für R.A. die Gerechtigkeit eine „spezifisch
christliche, vom Glauben geprägte 'virtus' (338f.).