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Ausgabe:

1978

Spalte:

423-426

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Schillebeeckx, Edward

Titel/Untertitel:

Jesus 1978

Rezensent:

Slenczka, Reinhard

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Seite 1, Seite 2

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Theologische Literaturzeitung 103. Jahrgang 1978 Nr. 6

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ein sich als authentische jüdische Philosophie verstehender
handfester Traditionalismus Raum hat.

Halle (Saale) Wolfgang Wiefel

I Dieser Teil entspricht dem Beitrag des Verfassers zu Samuel K. Mirsky
Memorial Volume: Studies in Jewish Law, Philosophy and Litcraturc, 1970,
New York.

- Die rabbinische Grundlage hat H. J. Schoeps aufgewiesen,- vgl. Von der
imitatio dei zur Nachfolge Christi, in: Aus frühchristlicher Zeit, 1U50, S. 286 bis
301.

:i Eine vom Vf. übersehene Beziehung ergibt sich aus der Darstellung von
Scholem, Die jüdische Mystik in ihren Hauptströmungen, 1957 (S. 136ff.): In
die zeitliche und geographische Nachbarschaft zum Verfasser des Hinnuk gehört
der Begründer der sog. prophetischen Kabbala, Abraham ben Samuel Abulafia,
der 1240 in Saragossa geboren wurde und zeitweise in Barcelona gelebt hat.

NEUES TESTAMENT

Schillebeeckx, Edward: Jesus. Die Geschichte von einem Lebenden
. Aus dein Niederländischen von H. Zulauf. Freiburg -
Basel - Wien: Herder [1975]. 670 S. gr. 8°. Lw. DM 84,-.

Während die Rezension noch zur ersten Auflage geschrieben
wird, ist bereits seit März 1976 die dritte Auflage der deutschen
Übersetzung auf dem Markt. Die holländische Ausgabe
brachte es in einem halben Jahr nach dem Erscheinen 1974 auf
12 000 Exemplare. Dabei hat das Buch einen grofjen Umfang,
einen hohen Preis, und es ist, obwohl für „jeden Interessierten
" geschrieben, keineswegs eine leichte Lektüre. Die Subtili-
täten der unüberschaubaren Forschung zur ncutcstamcntlichcn
Christologic werden verarbeitet, zugleich wird die dogmatische
Diskussion um eine Neuinterpretation altkirchlicher Christo-
logie fortgeführt, und trotzdem wurde das Ganze „so komponiert
, daß man sozusagen das Werden des christlichen - auch
des eigenen - begründeten Glaubens darin mitvollziehen
kann". Neben der Berühmtheit des Autors dürfte diese Vielseitigkeit
der exegetischen, dogmatischen und praktischen Hinsichten
ein Grund für die Breite des Interesses an diesem Buch
sein. Denn damit wird eine Vermittlung der weithin unver-
bunden nebeneinander und oft gegeneinander arbeitenden
theologischen Fachrichtungen erreicht, und es wird versucht,
die Ergebnisse einer wissenschaftlichen Theologie der Glaubenserfahrung
zu erschließen.

Der Untertitel ist ein Hinweis auf die Methode: „Die Geschichte
von einem Lebenden" - „het verhaal van cen levende".
Geschichte ist in diesem Sinn der Vorgang erzählender Weitergabe
: „narrative Theologie" - „nachkritische, erzählende
Geschichte" - „erzählender Glaube". Das Buch beginnt daher
mit der »Geschichte von einem Krüppel" aus Apg i, die in das
Grundbekenntnis von Apg 4,10.12 einmündet: „Dieses petrinische
(?) Glaubensbekenntnis, von 'den Zwölfen' aus eigenen
Glaubenserfahrungen - wenn auch genausowenig ohne anfängliche
Zweifel (die Schrift betont dies ausdrücklich) - schließlich
solidarisch bejaht, hat in Wirklichkeit Geschichte gemacht
." Und das Buch schließt mit einem Beispiel erzählter
Geschichte aus Bubers Erzählungen der Chassidim: „So muß
man Geschichten erzählen", daß Lahme davon wieder tanzen
und springen können.

Ein Geschichtsverständnis, das auf bloße Rekonstruktion von
Gewesenem oder kritische Verifikation von Geglaubtem zielt,
wird so in den umfassenden Rahmen einer Geschichte des
Glaubens eingeordnet, der fortlaufend von Jesus her gewirkt
und bezeugt wird in einem unauflösbaren Ineinander von
„Wirklichkeitsangebot" in Jesus und „bejahender Glaubensantwort
" durch die Gemeinde. Dieses Geschehen in der Begegnung
von Subjekt und Objekt des Glaubens bezeichnet Vf.
mit dem psychologischen Begriff der „disclosure-Erfahrung"
oder, wie es in verschiedenen Übersetzungsversuchen heißt:
„Kontingcnzerfahrungcn", „Unrcduzierbarkeit" (besser wäre
wohl: „Unableitbarkeit"), „Qucllenerfahrung". Vielleicht könnte
man in genauerer Wiedergabe des englischen Wortes von
einem „Schlüsselerlebnis" sprechen, das die Überlieferung

durchzieht und von ihr immer wieder ausgelöst wird. Inhaltlich
betrifft dies die Tatsache, daß auf verschiedene Weise und
zu verschiedenen Zeiten „Heil in Jesus" erfahren wurde. Diese
Hcilserfahrung ist „die Matrix aller Überlieferungen von
Jesus". So bildet das Schlüsselerlebnis den Indifferenzpunkl
für Geschichte und Glauben, für das irdische Leben Jesu und
die lebendige Gegenwart des Verherrlichten, und vor allem
wird so versucht, die notorische Spannung von Historismus
und Idealismus in der Christologic im Kontinuum der Glaubenserfahrung
zu vermitteln. Dogmatisch wäre dabei von einer
pneumatologischen Kategorie zu sprechen, die zugleich eine
starke ckklesiologischc Komponente hat, indem die Gemeinde
als Träger der Tradition berücksichtigt wird. Dieser Überlieferungsvorgang
ist eine von der Heilserfahrung bestimmte
„christologische Jesusinterpretation'' und „zugleich eine kritische
Aufnahme und ein Reagieren auf vorausgegangene
Jesusinterpretation anderer christlicher Gemeinden". Die geläufige
Unterscheidung von „kerygmatischer Tradition" und
„Jesustradition" wird ebenso abgelehnt wie der sogenannte
Bruch zwischen dem historischen Jesus und dem kerygma
tischen Christus. Vf. sieht darin vielmehr Spannungen innerhalb
der nachösterlichen christlichen Jesusinterpretationen, und
mithin geht es hier nicht um ein historisches, sondern um ein
dogmatisches Problem.

Dieser im ersten Teil entwickelte methodische Ansatz bc
stimmt die folgenden drei Teile des Buches. Unter dem Ober
thema „Evangelium Jesu Christi" wird in Teil II historisch
kritisch untersucht, „was in Jesus wirklich zur Sprache gekom
men ist". Teil III behandelt „christliche Interpretation des
auferstandenen Gekreuzigten" in dem „konjunkturellen Erfa'i
rungshorizont", in dem „bestimmte Juden, später auch Heiden,
positiv auf das 'historische Phänomen' Jesus von Nazaret
reagiert haben". Teil IV steht unter der Messiasfrage: „Für
wen halten wir ihn?"

Die beiden mittleren Teile des Buches nehmen in großer
Breite den internationalen Ertrag neutestamentlicher Forschung
aus den letzten Jahren auf, und dabei werden formgeschicht
liehe und strukturalistische Verfahren miteinander verbunden.
Allerdings werden die Forschungsergebnisse in ein klares
systematisches Grundschema eingeordnet. Denn regelmäßig
geht es um die Erhellung von dem, was Jesus gesagt und getan
hat. Orthodoxie und Orthopraxis werden betont nebencin
ander gestellt. Und dann geht es um das Verhallen von Men
sehen zu diesen Reden und Tun Jesu. Diese Dialektik oder
Wechselbeziehung setzt sich über den Tod Jesu hinaus in die
nachösterliche Zeit fort als eine Geschichte von Ablehnung und
Zustimmung. Sie kann auch als eine Geschichte von Bekehrun
gen aufgefaßt werden. An drei Punkten wird in einer Fülle
von Material dieser historisch feststellbare, nicht aber ein
deutig beweisbare Vorgang festgemacht: an der 'Abba-Erfah-
rung' Jesu, die selbst Ausdruck eines Schlüsselcrlebnisses im
Verhalten Jesu ist und den Hörer vor die Entscheidung zwischen
Illusion und Wirklichkeit stellt; dann der Tod Jesu, verstanden
als „das letzte prophetische Zeichen Jesu: sein Tod als
von anderen zu interpretieren"; ferner die „Ostererfahrung:
sich auf die Initiative Jesu zu Jesus als dein Christus bekehren
lassen, entscheidendes Heil in Jesus zu finden".

Ein wesentliches Moment bei der Darstellung der christlichen
Interpretation in Teil III ist der Nachweis von vier christolo-
gischen Grundtypen oder Glaubensperspektiven i Parusic-
Christologic, Theios-Aner-Christologie, Wcisheits-Christologicn
und Pascha-Christologicn. Sic stimmen in der „gleichen Grundinspiration
" und einer „identischen Pcrsonidentifizierung"
übercin. Damit soll auch gezeigt' werden, daß es neben dem
nachnizänischen, von der johanncischen Christologie bestimm'
ten Modell der Inkarnationslehrc, in den synoptischen Evangelien
andere Modelle gibt, die mit ihrer „Christologie von
unten" zu neuen Quellenerfahrungen führen können. In diesem
Sinne wird der Schlußteil als ein Prolcgomenon verstanden
aus neuen und für neue Qucllencrfahrungen in der Gegenwart.

Dieser sehr konzentrierte Teil IV enthält wesentlich mehr,
als es auf den ersten Blick scheinen mag. Gegenüber der heutigen
theologischen und kirchlichen Situation wird versucht,