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Ausgabe:

1978

Spalte:

302-303

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Ruthe, Reinhold

Titel/Untertitel:

Krankheit muss kein Schicksal sein 1978

Rezensent:

Kiesow, Ernst-Rüdiger

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Theologisehe Literaturzeitung 103. Jahrgang 1978 Nr. 4

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texte! Horst Nitschke hat hier von sehr verschiedenen
Verfassern aus der Bundesrepublik und aus der Schweiz
32 Predigten zusammengestellt, die Erzählungen sind,
Nacherzählungen, Neuerzählungen, oder jedenfalls erzählerische
Elemente verwenden. Solch ein Band kann des
Interesses vieler Leser von vornherein sicher sein. Man
hätte darum ganz gut auf die theoretischen und analytischen
Zutaten verzichten können: das zungenfertige Vorwort
des Herausgebers, in dem er sein Unternehmen gegen
mögliche Kritiker verteidigt; das Nachwort des Hannoverschen
Superintendenten Werner Dannowski, in dem einige
der vorliegenden Predigten ein wenig analysiert werden,
das aber seinen Anspruch zu hoch gesteckt hat, wenn es
dem Mangel an einer brauchbaren homiletischen Theorie
des Erzählens abhelfen will; letztlich auch die Einleitung
von Heinz-Dieter Knigge, in der redlich und einsichtig
dargelegt wird, was wir schon wissen: das die erzählende
Vermittlung in der biblischen Tradition tief begründet ist
und daß sie der heutigen Predigt eine neue Dimension und
neue Wirksamkeit geben könnte. Denn die These, wir lebten
heute in einer „post-narrativen" Kultur, halte ich für
die Erfindung und Schutzbehauptung von Theoretikern,
die zu wenig mit gewöhnlichen Zeitgenossen und ihren
Kindern umgehen.

Die Sammlung zeigt eine große Fülle verschiedener
Predigttypen; die erzählende Predigt kann in vielen Variationen
erscheinen. Der erste Teil bietet interpretierende
Nacherzählungen biblischer Geschichten, der zweite Teil
Geschichten aus unserm Alltag, die eine christliche Aussage
darbieten oder illustrieren, verdeutlichen oder kon-
ti apunktieren. Der eine erzählt symbolkräftige Parabeln,
ein anderer Erinnerungen und kleine Begebenheiten, ein
dritter den gewöhnlichen Morgen oder den gewöhnlichen
Werktag eines Zeitgenossen. Anekdoten - besonders der
Kategorie ,.Kindermund" - werden berichtet und reflek-
I iert. Oder eine Gesprächsrunde wird vorgestellt, bei der
Argument und Gegenargument zu einem Predigtthema
den verschiedenen Personen in den Mund gelegt wird. Es
gibt Predigten, die ganz und gar Erzählung sind, solche, in
denen ein Erzählsplitter als Aufhänger erscheint, und solche
, die umschweifige theologische Reflexionen am Faden
einer - oft biblischen - Erzählung aufreihen. Es werden
auch zeitgenössische Autoren zitiert oder nacherzählt oder
zu ganzen Collagen zusammengestellt: eine Keuner-Ge-
schichte von Brecht, ein Gedicht von Wiemer, eine Tagebuch
-Notiz von Max Frisch. Nicht nur die Themen für
unsre Predigt, sondern auch die Formen sind offenbar
nahezu unerschöpflich. So gesehen, bietet das Buch eine
Fülle von Anregungen und Variationsmöglichkeiten.

Trotzdem ist der Gesamteindruck eher entmutigend.
Kaum einer von diesen vielen Texten ist wirklich voll
überzeugend. In den meisten Fällen sind sie auch nicht
sehlecht; aber es packt einen nicht. Natürlich ist manches
in seinem Genre nichl sd neu : was hier als Predigt erscheint,
haben wir ähnlich schon längst kennengelernt als christliches
Laienspiel in den 50er Jahren, wo ja auch die biblischen
Gestalten vorgeführt wurden und ihre Geschichten
leicht verfremdet erzählten, oder als besinnliche Klein-
gesehichte im sonntäglichen Kirehenblatt. Natürlich fehlt
solch gedruckten Predigten zudem die viva vox; gerade
diese hier, die zum Teil für verschiedene Sprecher ge-
schrieben, ja, mit Vorschlägen für Musikeinblendungen
versehen sind, brauchen wahrscheinlich die lebendige
Stimme des Erzählers. Aber der entscheidende Grund ist
das noch nicht. Das Erzählen ist- für uns Theologen offenbar
einfach zu neu und ungewohnt. Unsre ganze Ausbildung
ist so auf Interpretation und Reflexion ausgerichtet,
daß wir kaum in der Lage sind, eine Geschichte so zu erzählen
, daß sie für sich selber spricht. Kaum ist hier etwas
erzählt, da wird es auch schon erklärt. Es gibt fast keinen
Text im ganzen Buch - ..Einer beinah wie Zachäus" ist
vielleicht die einzige wirkliche Ausnahme -, die dem Hörer
zutraut, sich seinen eigenen Reim auf das Erzählte zu

mac hen. Die Erzähler mißtrauen offenbar noch ihren Erzählungen
, und sie liefern darum die richtige Anwendung
immer gleich mit, das Stück Katechismus, das hier gemeint
war, den theologischen locus, das Stück erhebbare
Erkenntnis. Damit hängt wohl auch die stilistische Unsicherheit
zusammen. Es gibt kaum unbefangenes Erzäh-
. len. Entweder sind die Erzählungen literarisch anspruchsvoll
und für den normalen Zeitungsleser und Predigthörer
schwer nachvollziehbar. Oder sie sind gedanklich überladen
, und den Leuten fallen beim Zähneputzen oder im
Büro Dinge ein, die in Wirklichkeit nur einem Theologen
in dieser Form einfallen. Oder aber es wird kindertümlich
erzählt und dann oft mit einer Naivität, die unnatürlich
und aufgesetzt wirkt - und da macht noch nicht einmal
der Dichter Kurt Mart i eine Ausnahme, der Jesu Schwester
„Ätsch!" sagen und Jesu Mutter für ihn die Daumen
drücken läßt -.

Neue Möglichkeiten werden offenbar auf zweierlei Arten
gewonnen: Entweder bietet einer das durchschlagende
Beispiel, und die andern folgen seiner Spur und erweitern
die Schneise. Oder aber es liegt plötzlich die Vermutung in
der Luft, in dieser oder jener Richtung sei Neuland zu gewinnen
, und in mühsamer Kleinarbeit, Schritt für Schritt,
versuchen viele, sich dorthin vorzuarbeiten. Bei der erzählenden
Predigt sind wir offenbar im letzteren Fall. Das
große, überzeugende Beispiel gibt es hier noch nicht. Der .
vorliegende Band bietet erste Schritte in der richtigen
Richtung. Wir sollten die Zuversicht nicht verlieren, daß
wir auch auf diesem Wege zum Ziel kommen.

Jena Kluus-Peter Hertzach

Ruthe, Reinhold: Krankheit muß kein Schicksal sein. Leib--Seele-
Problem in der beratenden Seelsorge. Wuppertal: Blockhaus
[1975]. 160 S. 8° = ABCteam.

Typisch für dieses Buch ist die Verbindung von evange-
likal orientierter Seclsorgc und teils psychosomatisch, teils
psychoanalytisch begründeter Beratung. Insofern kann
auch der Fachmann hier interessante Einblicke bekommen
, obwohl er sonst wenig Neues erfährt. Der Verfasser
stellt sich nicht vor; man kann nur vermuten, daß er
Theologe ist, und kann aus den etwa zehn bis zwölf, z. T.
ausführlichen Falldarstellungen auf seine seelsorgerliche
Praxis schließen. Als theoretische Grundlage für seine
Deutung der psychosozialen Situationen und Konflikte
dient ihm vielfach die Individualpsychologie Alfred Adlers.
Verbatim-Beispiele lassen Übung in der „indirekten" Gesprächsführung
erkennen, die bei Rut he allerdings in recht
„dircktive" Hinweise und „Zeugnisse" im evangelistischen
Sinne übergehen kann. Die meisten medizinischen und
psychologischen Kenntnisse, die hier verwendet werden,
scheinen aus zweiter Hand zu stammen. Weithin ergibt
sieh der Eindruck einer Kompilation, weil Vf. viel zitiert
und sich oft auf Gewährsleute beruft (die im Literaturverzeichnis
nach Herkunft und Qualität bunt gemischt
erscheinen).

Das Buch wendet sich wohl in erster Linie an Laien oder
auch an Seelsorger, die bisher mit psychotherapeutischen
Methoden wenig vertraut sind und im Dienste eines diakonisch
-missionarischen Anliegens für sie gewonnen werden
sollen. Es bietet durch übersichtliche Anlage, konkrete
Informationen, eindringliche Sprache und anschauliche
Beispiele dem Leser leichten Zugang zu den Person- und
Sachfragen der ßeratungspraxis in leib-seelischer und
geistlicher Hinsieht. Mit den zahlreichen Kurzformeln
oder Sehlagworten, mit den psychagogischen Faustregeln
und Rezepten gehen freilich auch manche Vereinfachungen
oder Vergröberungen psychologischer und theologischer
Probleme einher, die bedenklich sind. Die allzu
laienhafte Darstellung psychosomatischer Sachverhalte
wirkt gelegentlich nicht zuverlässig (z.B. vgl. S.31 zum