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Ausgabe:

1978

Spalte:

209-212

Kategorie:

Religions- und Kirchensoziologie

Autor/Hrsg.:

Strohm, Theodor

Titel/Untertitel:

Theologie im Schatten politischer Romantik 1978

Rezensent:

Vogel, Traugott

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her auf die Funktionen ein, welche die Religion im Umkreis
der Gesellschaft ausübt und entwickelt.

Im 6. Kapitel werden die „Wandlungen der Religion in
der Industriegesellschaft" untersucht und die Aspekte einer
Religiosität im Übergang aufgezeigt. Faktoren dieses
Wandlungsprozesses im engeren Sinn sind u. a. die Industrialisierung
und die Verstädterung, aber auch die Kritik
der Religion nach Form oder Substanz werden genannt.
»Die Analyse der Faktoren ... führt zu folgendem Schluß:
Es gibt keine klare Richtung in der Entwicklung des Phänomens
. Viele Faktoren enthalten zahlreiche Anstöße in
verschiedenen Richtungen. Feststellen läßt sich ... die Tendenz
zur Entsakralisierung, ...welche sich heute noch in
der Entwicklungsphase befindet. Die Ergebnisse des Prozesses
sind noch sehr hypothetisch" (S. 129).

Das folgende Kapitel ist der religiösen Praxis gewidmet.
Themen wie „Kirchliche und private Religion" oder das
Gefühl der Zugehörigkeit zur Kirche werden in ihrer vielschichtigen
Problematik untersucht. Auch die neuen Rollen
in der kirchlichen Struktur, besonders der Status des
Priesters und der des Laien, sind in diesem Kapitel Gegenstand
der Überlegung.

Im letzten Kapitel macht sich Milanesi Gedanken über
die Zukunft der Religion. Er weist auf die vielfältigen Tendenzen
in der Entfaltung des religiösen Phänomens hin,
spricht von Entsakralisierung und Degradierung des Heiligen
und prognostiziert wachsende Spannungen innerhalb
der religiösen Institutionen. Dies führt nicht zuletzt zur
Entstehung außerkirchlicher religiöser Formen (z. B. Jesus
-Bewegung, östliche Religionen, Shalom-Bewegung in
Holland). „Die außerkirchlichen Formen stellen oft eine
Provisorische und wichtige Etappe in der Bildung neuer
institutionalisierter religiöser Erfahrungswirklichkeit dar"
(S. 172).

Dennoch steht auch für den Vf. fest, daß sich der Säkularismus
weiter ausbreiten wird. Anstelle eine Typologie
der verschiedenen Formen des Säkularismus zu zeichnen,
beschränkt er sich auf die atheistische Haltung und untergeht
sie einer allerdings nur kurzen Analyse. — Schließ-
nch steht es für ihn außer Frage, daß es kein totales Verschwinden
der Religion in der industriellen Gesellschaft
geben wird. „Man soll deshalb genauer vom Wandel der
heutigen Religiosität sprechen. Sie wird ihre institutionellen
Formen reduzieren, aber in latenten und manifesten,
mdividuellen und kollektiven Formen bestehen bleiben"
(S. 175).

Dieser Band zeigt einmal mehr auf, und zwar aus der
Sicht eines Italieners, wie sich Religion konkret und beobachtbar
darstellt, und er vermittelt ein hohes Maß an
Problembewußtsein.

LeiPzig Gottfried Kretzschmar

Strohm, Theodor: Theologie im Schatten politischer Romantik
. Eine wissenschafts-soziologische Anfrage an die
ineologie Friedrich Gogartens. Mit einem Vorwort von
^rnst Wolf. München: Kaiser; Mainz: Matthias-Grünewald
-Verlag [1970]. 214 S. 8° = Gesellschaft und Theologe
. Abt. Systematische Beiträge, hrsg. v. H. Baier, C. v.
oeyme, E. Feil, I. Fetscher, J.B.Metz, J. Moltmann, W.
uelmüller, K. Scholder, A. Schwan, R. Weth, 2. DM 16,—.

Dieses Buch zeigt die Verschlingungen von Gogartens
eologie in von diesem gewählte oder an ihn herangetra-
S ne soziale Positionen und ideologische Strömungen; und
'st selbst durch seine Entstehungsgeschichte ein Stück
eit in die Wirkung und Erforschung dieser Theologie hin-
mverschlungen. 1961 als soziologische Diplomarbeit ge-
nrieben und als philosophische Dissertation von der
reten Universität Berlin (West) angeommen, blieb es zürnst
wenig bekannt. Klaus Scholder entwickelte zwei
re sPäter unabhängig davon parallele Thesen1. Erst in

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der anschließenden Diskussion konnte er zustimmend auf
die Arbeit von Strohm hinweisen2. In dieser Diskussion
wurde auch deutlich, wie schwierig es war, Gogartens
Frühwerk unter weitgespannten sozialphilosophischen Gesichtspunkten
zu erörtern, bevor es im engeren Sinne in
seiner theologischen Logik aufgearbeitet worden war. Seitdem
ist in dieser Hinsicht viel geschehen, wozu ohne Zweifel
die provozierenden Thesen von Strohm und Scholder
beigetragen haben. In der leicht überarbeiteten Druckfassung
nimmt Strohm in einem besonderen Abschnitt (192
bis 201) auf die Literatur bis 1967 Bezug.

Der Vf. stellt sich die Aufgabe, am Beispiel Gogartens
die Notwendigkeit einer Integration der ideologiekritischen
Fragestellung in die Theologie überhaupt unter Beweis
zu stellen. Kritische Wissenschaftssoziologie, wie er
sie im Anschluß an die Frankfurter Schule handhabt, will
sich nicht naiv thetisch dem Kritisierten gegenüberstellen,
sondern dialektisch beim Widerspruch von Anspruch und
Wirklichkeit einsetzen. Das muß angesichts einer theologischen
Konzeption natürlich in die Diskussion theologischer
Sachfragen umschlagen. Strohm ist sich dieses Zusammenhanges
bewußt, er will ihn aber für seine Arbeit
nicht voll realisieren. Es soll „die Frage nach der theologischen
Richtigkeit und Legitimation der Aussagen Friedrich
Gogartens aus der soziologischen Analyse der sozialen
Funktion und Verwirklichung nur gestellt und präzisiert
werden, die Beantwortung dieser Frage muß jedoch theologischen
Untersuchungen und Kritiken vorbehalten bleiben
" (19). Die Einschränkung ist schwierig und letztlich
unhaltbar. Es entsteht der Schein, als könne Theologie
doktrinär entscheiden, was ihr eine rein instrumental verstandene
Ideologiekritik an Fragen zuträgt. Dabei würde
auch die soziologische Analyse ihren Anhalt am Gegenstand
verlieren und ihren spezifischen Wahrheitsanspruch
einbüßen. Sehr viel genauer umreißt der Autor seine Absichten
, wenn er für die Zusammenfassung die folgenden
beiden Leitfragen formuliert: „1. Läßt sich die politische
Option Gogartens für das totalitäre System Hitlers als vorübergehende
Untreue gegenüber den eigenen theologischen
Intentionen begreifen, oder entsprang sie mit einer gewissen
Zwangsläufigkeit aus einem weiteren Traditionszusammenhang
und den selbst gewählten theologischen Prämissen
? 2. Lassen sich, falls sich eine solche Zwangsläufigkeit
herstellt, dennoch typische Unterschiede gegenüber
der politischen Ideologie des Nationalsozialismus aufzeigen
, die dieser Theologie ein eigenes, von der politischen
Dezision unabhängiges und sie überdauerndes Profil verleihen
?" (161).

Strohm skizziert zunächst „Konservativismus und politische
Romantik im Horizont des modernen Protestantismus
" (23—60), indem er die damals vorliegenden Untersuchungen
auswertet und zusammenfaßt. Glänzend bestätigt
sich dabei Paul Tillichs Analyse der politischen Romantik
(niedergelegt 1933 in ,Die sozialistische Entscheidung
') als kategoriales Gerüst. Der traditionelle Konservativismus
ändert seine Struktur, wo er die soziale Basis verliert
und zur aktiven Selbstverteidigung genötigt ist. Er
verstrickt sich in den widersprüchlichen (insofern „romantischen
") Versuch, die Rationalität des bürgerlichen Lebens
mit (scheinbar) rationalen Mitteln zu bekämpfen. Er
wird zur politischen Romantik. Während der Nationalsozialismus
als deren revolutionäre Form seine Machtansprüche
mit den Theorien von Blut, Boden und Rasse
abdeckt, dominieren in der konservativen Form die
„Volksidee" und das Verlangen nach einer ständischen Gesellschaftsordnung
und einer autoritären Staatsführung.
Sie ist „weitgehend eine akademische, professorale Angelegenheit
" (49 ff.). In der Gesamtsituation des konservativen
Denkens ist auch der Zug zum Dezisionismus begründet
. Wer letzte Bindungen behaupten will, ohne sie rational
begründen zu können, muß der Entscheidung als solcher
einen Höchstwert zumessen.

Im II. Teil geht der Vf. der Entwicklung Gogartens bis

Theologische Literaturzeitung 103. Jahrgang 1978 Nr. 3