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Ausgabe:

1978

Spalte:

201-203

Kategorie:

Kirchengeschichte: Neuzeit

Autor/Hrsg.:

Bryner, Erich

Titel/Untertitel:

N. M. Karamzin: eine kirchen- und frömmigkeitsgeschichtliche Studie 1978

Rezensent:

Onasch, Konrad

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201

Theologische Literaturzeitung 103. Jahrgang 1978 Nr. 3

202

Phase zuwenden müssen, die kirchenpolitisch durch die
Aktivitäten des Reichskirchenministers Kerrl gekennzeichnet
ist, zugleich aber auch Konzeptionen und Praktiken
der in sich durchaus nicht einheitlichen weltanschaulichen
Distanzierungskräfte ins Blickfeld rücken dürften, die
eigene ideologische Leitbilder durchzusetzen versuchten,
kann man mit Interesse entgegensehen.

Leipzig Kurt Meier

KIRCHEN- UND KONFESSIONSKUNDE

Bryner, Erich: N. M. Karamzin, eine kirchen- und frömmigkeitsgeschichtliche
Studie. Erlangen: Lehrstuhl für
Geschichte und Theologie des christlichen Ostens an der
Universität Erlangen 1974. 289 S. 8° = OIKONOMIA.
Quellen und Studien zur orthodoxen Theologie, 3.

Die vorliegende Untersuchung beschäftigt sich mit einer
Persönlichkeit und einer durch sie in besonderer Weise geprägten
Epoche, die die geistigen Voraussetzungen für das
19. Jahrhundert in Rußland schufen. Das Denken und
Dichten bedeutender Männer dieses Säkulums, wie Bje-
ünski, Dostojewski, Tolstoi, Turgenjew, Leskov u. v. a.
sind ohne Kenntnis Karamzins, seiner Entwicklung und
seiner Werke kaum zu verstehen. Der Vf. dieses Buches
bringt nicht nur ein gründliches Wissen über Karamzin
und seine Zeitgenossen und Ereignisse mit, er arbeitet auch
methodisch sicher und jeweils sachentsprechend. Seine
Analysen des poetischen Werkes Karamzins z.B. basieren
auf literaturwissenschaftlichen Untersuchungen, die, wie
etwa die Arbeiten Ju. Lotmans, zugleich den Zugang zur
Weltanschauung Karamzins eröffnen. Nach einer Einleitung
, in der neben dem „zeitgeschichtlichen Hintergrund"
in einem wichtigen Kapitel auf die innere und äußere Situation
der russisch-orthodoxen Kirche im 18. Jahrhundert
eingegangen wird, zeigt Vf. im 1. Teil „Karamzin als
Schüler der Moskauer Rosenkreuzer 1785—1789", ein Abschnitt
, den zahlreiche Fachkollegen über seinen unmittelbaren
Anlaß hinaus zu schätzen wissen werden, weil wir in
deutscher Sprache nur sehr wenige Untersuchungen über
das russische „masonstvo", die russische Freimaurerei und
die russischen Rosenkreuzer besitzen. Vf. zeigt, wie Karamzin
ganz bestimmte Themen des „masonstvo" aufnahm, gedanklich
und dichterisch verarbeitete, aber zugleich gerade
dadurch, und nicht zuletzt durch seine große Auslandsreise
noch bestärkt, sich von ihm abwandte. Diese,
wie auch die weiteren Phasen der Entwicklung Karamzins
Werden immer, wie bereits gesagt, durch detaillierte Analysen
der Werke des bedeutenden Dichters, Philosophen
und Historikers unterbaut und dargestellt.

!m 2. Teil „Karamzin als Dichter und Herausgeber Literarischer
Zeitschriften 1791—1803" steht im Mittelpunkt
der Untersuchungen der Komplex der Reisebriefe im
»Moskovskij Zurnal" von 1791-1792 und ihre, nach dem
Pruch mit den Rosenkreuzern, aber ohne deren Gedankengut
kaum vorstellbare Religiosität der .Nächstenliebe,
Toleranz, Kosmopolitismus", der „Mitmenschlichkeit und
All Verbrüderung". In entsprechenden Analysen arbeitet
Vf. schließlich im 3. Teil „Karamzin als Kaiserlicher Hof-
historiograph 1803—1826" das gerade in seinem nicht unmittelbar
dichterischen Großwerk der „Geschichte des
Russischen Reiches" zum Ausdruck kommende entkonfes-
sionalisierte Christentum und die Religion überhaupt als
»heiliges Gefühl" heraus, um zu folgendem Ergebnis zu
kommen: „Die Offenbarung, die Heilige Schrift, die kirchliche
Dogmatik finden in Karamzins Denken keinen Raum
und sind ihm unwichtig. Karamzins religiöse Gedanken-
Welt, Gott, Tugend und Unsterblichkeit, ist in sich geschlossen
, eine natürliche Theologie. Für die Lehre von der
Offenbarung Gottes in Jesus Christus ist kein Platz. Die

Jesusmystik, wie sie in den Kreisen der Moskauer Rosenkreuzer
eine Rolle spielte, hat Karamzin offensichtlich
nicht berührt. Auf die Gedanken aus Klopstocks ,Messias',
den er in .Poezija' in höchsten Tönen gerühmt hat, kommt
er nicht zu sprechen". Wie bereits erwähnt, gründet Bryner
seine theologischen Urteile auf literaturwissenschaftlich
methodisch abgesicherte Werkanalysen, die er mit
einer umfassend orientierten Kenntnis der russischen und
nichtrussischen Geistesepoche zu verbinden versteht. Nicht
zuletzt gelingt ihm diese abgerundete und sichere Darstellung
auch deshalb, weil er ein ebenso kritisches wie zugleich
positiv wertendes Verhältnis zur Tätigkeit Feofan
Prokopovic's findet. Über den unmittelbaren Anlaß seiner
Untersuchungen hinaus, und das darf hier ergänzend erwähnt
werden, haben sie wertvolles Material geliefert für
die Rezeption und Weiterentwicklung einer anthropozentrisch
orientierten Religiosität, wie sie von den „Laientheologen
" des 19. Jahrhunderts betrieben worden ist,
Freilich darf auch eine bestimmte Schwäche der Arbeit
nicht übersehen werden. Vf. hat ohne Zweifel eine methodisch
sichere und unsere Kenntnis der von ihm behandelten
Epoche wesentlich bereichernde Darstellung geliefert,
jedenfalls, was die Religiosität und die Geistesgeschichte
anbetrifft. Allerdings bleiben eine Reihe von Fragen offen.
So z. B.: warum zeigt Karamzin im Gegensatz zu Radiäcevs
Reisebriefen so wenig Interesse an der sozialen Frage, die
bestimmte frondierende Kreise des russischen Adels unter
den verschiedensten Aspekten damals stark bewegte? Bestehen
zwischen dem fiktiven Charakter von Karamzins
Reisebriefen (im Gegensatz zu Radisöevs Schilderung unmittelbar
erlebter Situationen) und der inneren und z. T.
äußeren Zurückgezogenheit seiner Religiosität des „heiligen
Gefühls" eine Verbindung? Ist diese Religiosität Ausdruck
einer tiefen, nach der Europareise angesichts der
russischen gesellschaftlichen Zustände immer stärker werdenden
Resignation? Rezensent ist sich mit Vf. darin einig,
in RadiSöev keinen Atheisten zu sehen. Aber es ist ein
nicht zu übersehender Mangel seiner Darstellung, daß die
Spezifik Karamzinscher Frömmigkeit durch eine gewiß
lohnende Gegenüberstellung zu der Radiscev's von ihm
nicht noch stärker herausgearbeitet worden ist. Klaus
Städtkes Arbeit „Studien zum russischen Realismus des
19. Jahrhunderts", Berlin 1973, mit seinen Ausführungen
über Karamzin dürfte Bryner während seiner Arbeit nicht
mehr erreicht haben. Leider hat er aber den Aufsatz von

H. Graßhoff „Zur Rolle des Sentimentalismus in der historischen
Entwicklung der russischen und westeuropäischen
Literatur", in: Zeitschr. f. Slawistik VIII, 1963, 558-570,
ebenso A. Ja. Kucerov, „Sentimental'naja povest' i literatura
putesestvij", in: Istorija russkoj literatury, 5. Bd., Moskau/
Leningrad 1941, 106—120 (wie auch die anderen hier Karamzin
behandelnden Abschnitte) nicht zur Kenntnis genommen.
(Wenn ich nichts übersehen habe, fehlen auch die Arbeiten

I. Plotnikovs und N.Balaevs zum Problem des Sentimentalismus
in der „Armen Lisa"). Auch unter Beachtung der neueren
Untersuchungen zu Sprache und Stil Karamzins (darunter
die Untersuchungen von Grot, von denen er lediglich
den „Ocerk" zitiert, s. jetzt auch Boeck, Fleckenstein, Freydank
, „Geschichte der russischen Literatursprache", Leipzig
1974, 101—108) wäre es Bryner angesichts seiner methodischen
und sonstigen Fähigkeiten ohne Zweifel gelungen,
Persönlichkeit und Frömmigkeit Karamzins aus einer von
ihm, dem Vf., nicht ungefährlichen hermeneutischen Isolierung
herauszuholen und gerade die Eigenart seiner Religiosität
durch die Dialektik gesellschaftsgeschichtlicher
Zusammenhänge mitzuinterpretieren. Dabei würde sich
wahrscheinlich herausstellen, daß Karamzins sentimentale
Religiosität aus ihrer Position zwischen Verstandes- und
mehr oder weniger weltschmerzlicher Gefühlsreligion alleine
nicht zu verstehen ist. Sie weist vielmehr darüber
hinaus auf einen, für die damalige nonkonformistische
Adelsklasse bezeichnenden, ein bestimmtes Unvermögen
signalisierenden gesellschaftlichen Zustand, den Martin