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Ausgabe:

1977

Spalte:

154-156

Kategorie:

Referate und Mitteilungen über theologische Dissertationen und Habilitationen in Maschinenschrift

Autor/Hrsg.:

Regner, Friedemann

Titel/Untertitel:

"Paulus und Jesus" im neunzehnten Jahrhundert 1977

Rezensent:

Regner, Friedemann

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Theologisohe Literaturzeitung 102. Jahrgang 1977 Nr. 2

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ecclesia carnalis bezeichnet (Manselli); und schließlich hat
Olivi auch keine Lehre von der Unfehlbarkeit des Papstes
vertreten (Tierney).

In der Loctura, deren Hauptthemen im zweiten Teil
der Arboit behandelt werden, schildert Olivi implizit den
Zeitgeist des späten 13. Jahrhunderts. Dio Kirche von
Rom stellt er dar als die großo Hure Babel, die einmal
die Braut Christi war, inzwischen aber mit Simonie, Hochmut
, Verschwendungs- und Eifersucht gegen die perfectio
evangelica des Franziskus verstoßen und damit ihren
Bräutigam betrogen hat. Die Philosophen der Pariser Universität
sind nach Olivi Diener des Antichristus Mysticus,
die das antichristliche Gesetz Muhammcds (durch Averroes
) und die antichristliehe Philosophie- des Aristoteles
aufrechtzuerhalten suchen. Der Antichristus Magnus wird
bald erscheinen und mit ihm der falsche Prophet, das
Abbild dos Tieres und der Pseudopapst. Ohne den regierenden
Papst mit dem Pseudopapst und dorn Alibild dos
Tieres ausdrücklich zu identifizieren, hat Olivi zweifollos
an Papst Bonifatius VIII. gedacht, als er diese apokalyptischen
Ungeheuer ausmalte.

Olivi teilt die Geschichte der Kirche in sieben Epochen
oder status ein. Er sieht sieh als einer, der am Ende des
sechsten Status lebt, d. h. in der Zeit des Franziskus von
Assisi und kurz vor dem Anfang des siebenten status und
damit des dritten Weltzeitalters. Im Frauzixkaucrordcn
hatte Gott seinen Willen für die Zukunft kuudgetan. Solche
Männer' werden Über die drehe in der kommenden Zeit
regieren. Die römische Kirche ist wegen des „Fahrplanes"
Gottes veraltet; sie muß zunächst der neuen Braut, der
neuen Kirche, der neuen heiligen Stadt, Platz inachen.
In Franz von Assisi geschah die zweite Ankunft Christi
im (!eiste; sein Orden ist der Anfang der auserwählten
Kirche. Wie die Gemeinde Christi an die Stelle der Synagoge
Israels rückte, so muß auch die Kirche Roms im
siebenten status durch die ecclesia spiritualis ersetzt werden
. Die ecclesia spiritualis wird eine johanneischo statt
einer petrinischen Kirclie sein; sie wird sieli der „intelli-
gentia spiritualis" der Schrift, der evangelischen Demokratie
und des charismatischen Gottesdienstes in der
Präsenz dos Herrn erfreuen. Die Hierarchie, dio Sakramente
, alle kirchlichen Dinge werden durch die Gnade
und die unmittelbare Gegenwart des Heiligen Geistes spiri-
tualisiert.

Olivi gelangt zu seineu theologischen Vorstellungen auf
einem dreifachen W'ejje: Kr deutet die herkömmliche augu-
stinische Auslegung der Offenbarung des .Johannes, dio
ihm durch Richard von St. Victor vermittelt worden ist,
durch die Einbeziehung der in der „Concordia novi ac
veteris tostamenti" und in der „Expositio in Apocalyp-
sim" enthaltenen Weissagungen Joachims um. Er vormischt
die Vorstellung von den sieben status ecclesiae,
wobei der sechste die Zeit dos Franziskus und des zweiten
Advents Christi ist, mit den drei Zeitaltern joachitisch-
trinitarischcr Prägung, wobei die dritte Ätas gleichzeitig
mit dem sechston und siebenten status ecclesiae zusammenläuft
. Er entfaltet aus seinem franziskanischen Christo-
zontrismus eine nahezu davon unabhängige Pneumato-
logie.

Versucht man, Olivi als Reformer zu etikettieren, gerät
man in Schwierigkeiten. Olivi ist ein vielschichtiger Denker,
der gleichzeitig Iiis loyaler und papsttreuer Katholik,
scharfsinniger und kritischer Protestant, utopischer und
charismatischer Pfingstlor, ideologisch-fanatischer Franziskaner
und hoffnungsvoller Christ angesehen werden
kann. Olivi hat seinen Entwurf für eine neue Kirche auf
der Basis des durch Franziskus wiederhergestellton Evan-
geliums aufgebaut | er will nicht nur die Moral, dio Lehre,
die Struktur und die Frömmigkeit der Kirche roformioren,
sondern auch eine neue Kirche auf dem Fundament der
Kirche des ersten Jahrhunderts aufbauen, und zwar im
kommenden dritten Zeitalter des Hl. Geistes.

Regner, Friedemanns „Paulus iiiul Jesus" im neunzehnte]! Jahrhundert
. Beiträge zur Geschichte des Themas ..Paulus und

Jesus" in der neutestamentlichen Theologie von der Aufklärung
bis zur Religionsgesohiohtliohen Schule. JDisa. Tübingen
1974. V, 332 S.

Albert Schweitzer feierte 190ü die Leistung der Leben-
Jesu-Forschung „Von Reimarus zu Wrede", um wenig
später eine unmutige Bilanz der „Geschichte der Paulinisehen
Forschung" (1"11) zu ziehen. Dieselbe Theologie,
dio am Thema „Jesus" angeblich Größtos vollbracht
hatte, sollte am Thema „Paulus" unerklärlich versagt
haben. Schweitzer konnte die Diskrepanz nicht vorstehen.
Er hatte das Wechselspiel der beiden Themen außer acht
gelassen: Wor die Geschichte der protestantischen pauli-
nischen Forschung in Deutschland von der Aufklärung
bis zur Religionsgeschichtlichen Schule schreiben will, muß
in Wahrheit übor die Geschichte des Themas „Paulus und
Jesus" schreiben (§1).

Die vorliegende Untersuchung geht dieser Geschichte
in zwei Schritten nach. Zunächst wird dio „Vorgeschichte
des Themas .Paulus und Jesus'" skizziert (1. Hauptteil).
Darauf folgen Beobachtungen „Zur Geschichte des Thomas
.Paulus und Jesus' von der Aufklärung bis zur Religions-
gesehiohtliohen Schule" (2. Haupttoil), und zwar wieder
in zwei Abschnitten; zunächst handelt es sich um „Das
Thema .Paulus und Jesus' in der Zeit seiner Vernachlässigung
(Von der Aufklärung zur zweiten freien Theologie
)" (A), dann um „Das Thema ,Paulus und Jesus' in
der Zeit, seiner Beachtung (Von Lagardes Antipaulinismus
zur Religionsgesohiohtlichen Schule)" (B).

Was die Vorgeschichte betrifft (1. Hauptteil), so entstand
das Thema „Paulus und Jesus" vor allem daraus,
daß sich das Urteil über die Bibel veränderte (§ 2). Erst
als die orthodoxe Auffassung von der Einheit der Schrift
erschüttert war, konnten Jesus und Paulus überhaupt je
für sich,in den Blick kommen. Damit hing es aufs engste
zusammen, daß nunmehr allmählich der historische „Jesus"
der beginnenden Loben-Jesu-Forschung und der verkündigte
„Christus", etwa des Paulus, auseinanderrückten
(§ 3). Gleichzeitig veränderte sich die Wertschätzung von
„Theologie" und „Religion" — die Verkündigung von dem
Christus Jesus drohte nach und nach zur bloßen Theologie
abgewertet zu worden, der dio authentische Religion Jesu
(als vernünftige Religion) weit überzuordnen sei (§4).
Das alles ereignete sich in der zweiten Hälfte des achtzehnten
Jahrhunderts; dio Auswirkungen im Hinblick auf
„Paulus und Jesus" deuteten sich gerade erst von ferne
an (§5).

Die Geschichte des Themas „Paulus und Jesus" (2.
Hauptteil) setzte dennoch schon in der Aufklärungstheologie
ein, so sehr die Thematik für lange Zeit vernachlässigt
wurde (A). Die Erbin der Orthodoxie, die konservative
Theologie des neunzehnten Jahrhundorts, hielt es noch
für ausgemacht, daß das Neue Testament ein einziges
Zeugnis der mit sich identischen Offenbarung sei: Demgemäß
arbeitete sie auch die völlige Übereinstimmung
zwischen Jesus und Paulus heraus (§6). Die Aufklärungstheologie
dagegen unterschied zwischen Jesus und Paulus
sehr wohl und wollte alles durchaus orst prüfen (§ 7). Zwar
entdeckte auch sie bei ihrem Vergleich Übereinstimmung
zwischen Jesus und Paulus, doch sie mußte schon vieles
an Paulus übergehen, um dieses Ergebnis zu erreichen. Als
dann im neuen Jahrhundert der erstarkte Konservatismus
dem Rationalismus den „ganzen" Paulus vorhielt, wußte
sich die rationalistische Exegese kaum zu helfen. Fast
schien es, als sei Paulus eine unüberwindliche Verlegenheit
der kritischen neutestamentlichen Theologie.

Erst der freien Theologie Ferdinand Christian Baurs
gelang es, eine historisch-kritische Theologie zu entwerfen
dio das „ganze" Christentum in Beschlag nehmen konnte