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Ausgabe:

1977

Spalte:

152-153

Kategorie:

Referate und Mitteilungen über theologische Dissertationen und Habilitationen in Maschinenschrift

Autor/Hrsg.:

Lewis, Warren

Titel/Untertitel:

Peter John Olivi: Prophet of the year 2000 1977

Rezensent:

Lewis, Warren

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Theologische Literaturzeitung 102. Jahrgang 1977 Nr. 2

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restriktiven Selbstbindungsgedanken (5. Kap.). Dieser
zeigt seine Besonderheit darin, daß er da« Moment der
freien Selbstbindung Gottes in eine komplementäre Beziehung
zum inneren Wertmoment der Werke setzt und
so einerseits die Würdigkeit des Gnadengeschenkes als
entscheidenden Faktor zur Begründung des Verdienstes
anführt, andererseits die meritorisohe Wirksamkeit der
Gnade durch den Hinweis auf die Selbstbindung Gottes
einschränkt. Als seine bedeutendsten Vertreter wurden
Stephan Langton, Gaufrid von Poitiers, Wilhelm von
Auvergne, Odo Rigaldi und Bonaventura untersucht. Um
die Funktion des von den Franziskanein bevorzugten
Selbstbindungsgedankens noch scharfer profilieren zu
können, folgt im (!. Kap. anhand der Beispiele Wilhelm von
Auxerre, Roland von Cremona und Thomas von Aquin
eine Darstellung der überwiegend dominikanischen Gegenkonzeption
, die innerhalb der Gnadenlehre auf den Gesichtspunkt
der Selbstbindung Gottes verzichtet und an
seine Stelle oino ontologischo Argumentation setzt. Das 7.
Kap. ist wieder der Konzeption der freien Selbstbindung
Gottes gewidmet, deren restriktives und exklusives Verständnis
nun in einem historischen Ausblick als Traditionslinie
von Bonaventura über Duns Seotus, den Skotismus
und den Nominalismus bis zu Maxtin Luther verfolgt wird,
wobei das Begriffspaar potentia dei absoluta/potentia dei
ordinata in den Mittelpunkt rückt. Luthers bemerkenswertes
Verhältnis zur scholastischen Selbstbindungstradition
wird sowohl unter dem Aspekt der Kontinuität als
auch unter dem des Umbruchs gedoutet.

Aufgabe des zusammenfassenden 8. Kap. ist es einmal,
die auf die Vielfalt der behandelten Theologen und Worke
verstreuten Details, sowoit sie im Rahmen des Selbstbindungsgedankens
eine wichtige Rollo spielen, thematisch
und begrifflich zusammenzustellen und zu ordnen. Ord-
nungseinbeiten sind erstons die jeweiligen thematischen
Bezugspunkte der Selbstbindung Gottes, d. h. die göttlichen
Gaben der zeitlichen Güter, der Gnade, der Inkarnation
Christi und des ewigen Lebens, und zweitens
Leitbegriffe aus dem Wortfeld der Selbstbindungstradition
: Bezeichnungen für den Akt der freien Selbstbindung
Gottes (convontio, decretum, ordinatio, paotum/pactio,
pollicitatio, promissum/promissio, statutum), für das Gebundensein
Gottes (obligatio, debitum, necessitas. Lusti-
tia), für die Freiheit Gottes (benignitas, liberalitas, miseri-
eordia, posse, potentia absoluta, voluntas) sowie für das
theologische Verdienst (meritum, moritum do congruo,
meritum de condigno). In diesem Zusammenhang kommt
auch der Einfluß des römischen und kanonischen Rechts
auf die Terminologie der Selbstbindungstradition zur
Sprache. In einem dritten Abschnitt folgen dann Schlußüberlegungen
zur theologischen Funktion des Gedankens
der freien Selbstbindung Gottes im Mittelalter, die zu dem
Ergebnis führen: Weil die Vertreter der mittelalterliehen
Selbstbindungstradition — vorrangig Angehörige der Fran-
ziskanersehule — aufgrund ihrer mehr personalen und darum
auch mehr konkret heilsgoschichtlichen Betrachtungsweise
eine ausgeprägtere Sensibilität für die Freiheit Gottes
gegenüber dem Einflußbereich des übernatürlich Geschaffenen
, zu dem sie Gnade und Gnadenwerke rechnen, und
vermeintlich seinshaft vorgegebener unwandelbarer Verhaltensweisen
Gottes selbst entwickelt haben als andere
mehr ontologiscb argumentierende Theologen, deshalb
glauben sie, diese Freiheit mit der unumstößlichen Gültigkeit
der gegebenen Heilsordnung nur durch den Gedanken
der freien Selbstbindung Gottes in Einklang bringen zu
können, während die andere Gruppe auf den Aspekt der
Selbstbindung verzichten kann. Dieser Verschiedenheit
entspricht ein unterschiedliches Verständnis von Pelagia-
nismus und Antipelagianismus. Von diesem Resultat aus
wird ein Blick auf andere Bereiche der Schultheologie
(Gotteslehre, Soteriologie, Sakramentenlehre) geworfen, in
denen eine vergleichbare Funktion des Selhstbindungs-
gedankens festgestellt werden kann. Aus seiner Bedeutung

als eine die gesamte Theologie bestimmende Konzeption
ergeben sich wichtige Konsequenzen für das Verständnis

des Nominalismus. Abschließend wird gezeigt, inwiefern
Augustin auf den verschiedenen theologischen Gebieten
als Wegbereiter des mittelalterlichen Selbstbindungsgedan-
kens und damit einer bestimmten theologischen Richtung,
die über Bonaventura, Duns Seotus, Ookham und Biel
zu Luther führt, verstanden werden darf. Die vorliegende
Arbeit dient somit dem Nachweis, daß die Selbstbindungskonzeption
des Nominalismus, seine grundlegende Unterscheidung
/.wischen potentia dei absoluta und potentia dei
ordinata, sein Interesse .in den pacta dei, einerseits durch
die Theologie Augustina sowie der Früh- und Hoohscho-
lastik in sehr wesentlicher Weise vorbereitet wird, andererseits
in das Reformationszeitalter ausstrahlt.

Lewis, W ai reii: Peter .lohn Olivi, O.Ol. Prophet ol tht Yrnr
:!1I0. Ecclesiology and Esehatology in the Lectura super Apo-
ealipsim. Dias. Tübingen 1!I75. VITT. 4!)2 B.

Diese Arbeil basiert auf dein vom Verfasser erstmalig

nach den Sandschriften kritisch edierton Text der Lectura
super Apoealipsim (1027) von Petrus [ohannis Olivi,
O.F.M. (1248—1208). Im ersten Teil untersucht der Vf.
das Lehen Olivis anhand biographischer Daten und darüber
hinaus auf der Grundlage seiner Schriften, die großenteils
noch locht kritisch herausgegeben wurden. Er kommt zu
dein Ergebnis, daß Olivi seit der Zeit seines Theologie-
Studiums in Paris Kkklesiologic und Esehatologie als eng
aufeinander bezogen versteht. Von Bonaventura beeinflußt
, bekämpft- Olivi die Verteidiger des in Paris gepflegten
lateinischen Averroismus. Von der perfeetio evan-
gelioa, die nach Olivi von Gott aufs Neue durch Lehen
und Lehre des Franziskus von Assisi offenbart worden ist,
durchdrungen, widersetzt er sich im Namen des rigoristisch
v erstandenen usus pauper der laxen Lebensweise in Orden
und Kirche. Aufgrund der Vision eines bald anbrechenden

(bitten Zeitalters der Welt im Sinne der Offenbarungen des
kalabrischen Abtes und Propheten Joachim von Fiore sehnt
sich Olivi nach der Vollendung der ecolesia Bpiritualis der
Auserw&hHen. Diese wird die ecolesia oarnalis der babylonischen
Hure von Rom nach der Vernich! ung des Anti-
christus Mysticus, des Antichristus Magnus (Olivi kennt
zwei Antichristi) und anderer apokalyptischer Gestallen
einschließlich der römischen Kirche ersetzen.

In zwei darauffolgenden Exkursen wird das Schicksal
von Olivis Lectura zunächst unmittelbar nach seinem 'Ted
und anschließend in den verschiedenen Richtungen der
Olivi-Forschung im 19. und 20. Jahrhundert untersucht.
Dabei ergibt sieh, daß die Olivi-Forschung in drei Sprachräumen
zu ganz verschiedenen Auffassungen kam. hu
deutschsprachigen Raum sieht man Olivi an als scharfsinnigen
, radikalen, apokalyptischen Reformer der Kirche;
im französisch-italienischen Sprachraum dagegen als einen
treuen Katholiken, einen schöpferischen Philosophen und
als einen kaum von irgendeinem joachitischen eschatolo-
gisohen Impuls bewegten Scholastiker. Werden letztere
mit Olivis eschatologischen Vorstellungen konfrontiert,
stellt man die Diagnose, Olivi sei schizophren gewesen,
und verordnet, Olivis Esehatologie entweder außer acht
zvi lassen oder sie unter seine Ekklesiologie zu subsumieren
. Im englischen Sprachraum ist man zuweilen von
der kontinentalen Forschung stark beeiiiilui.it worden.

Darüber hinaus bat man jedoch hier versucht, Olivis divergierende
Auffassungen in einen logischen Zusammenhang
zu bringen. Besonders die Untersuchungen vier bedeutender
Olivi-Forseher machen deutlich, daß die traditionellen
Darstellungen Olivis verbessert werden müssen:
Olivi ist weder ,,der große Spiritualenfüluer" der Frati-
celli (Rhrle) noch schizophren gewesen (Öliger); auch ist
der Einfluß Joachims von Fiore nicht zu leugnen wie auch
nicht die Tatsache, daß Olivi die römische Kirche als