Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

1977

Spalte:

132-133

Kategorie:

Psychologie, Religionspsychologie

Autor/Hrsg.:

Pöll, Wilhelm

Titel/Untertitel:

Das religiöse Erlebnis und seine Strukturen 1977

Rezensent:

Rensch, Adelheid

Ansicht Scan:

Seite 1, Seite 2

Download Scan:

PDF

131

Theologischo Literaturzeitung 102. Jahrgang 1977 Nr. 2

132

daß „dio SM-Zahlon mit dor fortschreitenden Zivilisation
angestiegen" sind, daß „in vielen Ländern mehr Menschen
durch SM umkommen als durch alle Infektionskrankheiten
und Verkehrsunfälle", daß „der SM heim Mann immer
noch häufiger vorkommt als bei der Frau, beim alten Menschen
häufiger als bei dem jungen, heim isolierten öfter als
bei demjenigen, der in guten zwischenmenschlichen Verhältnissen
lebt ..." (10 f.). Aber „die praktische Erfahrung
lehrt, daß der SM in der überwiegenden Mehrzahl aller
Källe in einer seelisch krankhaften Verfassung begangen
wird, für die dementsprechend der Mediziner . . . zuständig
ist" (12). Fast immer, wenn SM verübt oder versucht w iiil.
stellt (nach R.) der Arzt ein „präsuizidales Syndrom" fest,
dessen „entscheidende Momente" „Einengung", ..gehemmte
und gegen die eigene Person gerichtete Aggression
" und „SM-Phantasien" sind. Das präsuizidale Syndrom
kann durch verschiedene psychische Krankheiten
verursacht sein, I, TL durch endogene Depression (28 %
der untersuchten Fälle), durch Neurosen (20%), durch
mißglückte Altersadaption (20%). Bei SM-Versuehen
stehen Neurosen (30%) und neurotische Reaktionen (30%)
an erster Stelle. Aber, das ist R.s Überzeugung, „Hilfe ist
möglich". Denn „alle Krankheiten, die zum SM führen,
sind heute medizinisch oder psychiatrisch erfolgreich be-
handelhar, sind zu heilen oder zumindest wesentlich ZU
bessern; der SM wäre also in all diesen Fällen ein durchaus
vermeidbares Phänomen, wenn eine solche Behandlung
rechtzeitig eingeleitet und fachgerecht durchgeführt wird"
(48). Deshalb ist es dringend nötig, „SM-Verhütungszentren
" zu schaffen. So wichtig (für R.) in SM-Gefahr
medizinisch-psychotherapeutisches Eingreifen ist, es mul.1
unzureichend sein, wenn dio SM-Verhütung nicht als „Aufgabe
mitmenschlicher Verantwortung" erkannt wird, mit
der sich R. im zweiton Teil seiner Arbeit (05 — 00) beschäftigt
: „SM-Ankündigungen dürfen nicht unbeachtet
hleihen." Es gibt „besonders gefährdete Gruppen", /,. B.
alte Menschen, unheilbar chronisch Kranke, Süchtige,
Menschen in Ehe- und Liebeskrisen, Menschen in schwerem
sozialem Notstand, Mensehen nach einem Autounfall (07
bis 70). Abgebaut werden müssen „zwischenmenschliche
Barrieren", „falsche Stellung zum Außenseiter und zum
Sehwachen" (71—78). Hierbei hat die Sohuleraiehung eine
wichtige Aufgabe! Die Möglichkeiten des einzelnen und
die Verantwortung der Gesellschaft müssen sich gegenseitig
ergänzen.

Dio drei Bücher dürfton für den Stand dor Diskussion
über den SM insofern repräsentativ sein, als sie, jedes in
seiner Art, zeigen, wie komplex das Problem ist. Aber bei
allen Unterschieden der Standpunkto besteht doch wohl
Einigkeit in der Beantwortung wichtiger Fragen: 1. SM
ist nicht gleich SM. Wie in der Heiligen Schrift die ST
Simsons (Ri 10) ganz anders zu beurteilen ist als das Selbst-
gericht des Judas (Mt 27), so auch die ST Klaus Manns,
Stefan Zweigs, Jochen Kleppers ganz anders als der SM
Adolf Hitlers, Heinrich Himmlers und Hermann Görmgs.
2. Es ist unsachgemäß, die ST Freitod zu nennen, denn
jeder, der ST verübt oder versucht, steht in einer Not, der
er nicht mehr gewachsen ist, Vinter einem Zwang, dem er
unterliegt. („Ein Patient antwortet auf dio Frago des untersuchenden
Arztes, ob er sich umbringen wolle, treffend •
.Wer will das schon ? Das tut man doch gegen seinen
Willen!'" R. 18.) Der Selbstmörder handelt stets in einer
Notlage, aus der es für ihn nur noch den Ausweg in den
Tod "gibt, wenn ihm nicht geholfen wird. 3. Suizidgefährdeten
kann~und muß geholfen werden. Zusammenarbeit
zwischen Ärzten, Seelsorgern, Fürsorgern, Familienangehörigen
muß organisiert werden. 4. Die ST kann nicht
verherrlicht und darf nicht verdammt werden, auch nicht
von der Kirche. Denn'ST muß nicht Flucht vor Gott sein;
Jochen Kleppers Beispiel zeigt: Selbstmörder können in
ihrer Not Zuflucht suchen bei Gott.

Jena Erich Hertzach

l'iill, Wilhelm: Das religiöse Erlebnis uml seine Strukturen.

München: Kösel [1974]. 304 S. gr. 8". Lw. DM 38.—.

Fortschritt und Wandel in der Psychologie machen
auch oino kritische Prüfung der religionspsychologischen
Arbeiten (insbesondere Girgonsohns und Gruehns) und
oino Neuorientierung nötig. Die religionspsychologischen
Schriften Dr. W. Polls, Gymnasialprofessor und Lein
beauftragter für Charakterologie und Religionspsyehologie
an der Phil.-Theologischen Hochschule in Freising, erfüllen
diese Aufgabe und sind das Ergehnis seiner Studien und
seiner Erfahrungen als Lehrer und Seelsorger. Das zu besprechende
Werk ist als Fortsetzung seines ersten Bandes
„Religionspsyehologie. Formen der religiösen Kenntnisnahme
" (1905) zu verstehen. Dem Gegenstand entsprechend
wird in beiden Werken das religiöse Erlebnis in seiner
Ganzheit behandell . Jedoch liegt der- Schwerpunkt der

Betrachtung im zweiten Band auf den Formen der religiösen
Stellungnahme und ihren Strukturen.

Tu vorwiegend phänomenologischer Methode werden
das spontane, das experimentell erzeugte religiöse Erlebnis
und das religiöse Erlebnis des Christen in ihrer materialcn,
funktionalen und personalen Struktur untersucht und abschließend
das Auftreten und die Echtheit des religiösen
Erlebnisses behandelt. — Die materiale Struktur des religiösen
Erlebnisses als doppelpolige Spannungseinheit von
erlebtem göttlich-heiligem Objekt und erlebendem menschlichem
Subjekt variiert hinsichtlich der Inhalte des göttlich
-heiligen Pols (absolutes Prinzip), hinsichtlich der individuellen
Prägung und Situation des erlebenden Subjekts

(existentielles Prinzip) und hinsichtlich der Weehselbe-
zogenheit zwischen beiden Polen (energetisches Prinzip), —
Der göttlich-heilige Pol ist inhaltlieh durch eine Vielfalt von
Gottesbildern bestimmt. Tm Blick darauf werden die Verborgenheit
Gottes, die Verzerrungen des Oottosbildes (mitbedingt
durch falsche Verabsolut iei ungen, unbewußte Projektionen
, neurotische Haltungen) und der „Tod Gottes"
besprochen und — in Korrespondenz dazu — die religiös
erlebten Grundsituationen des Daseins wie auch das mehr
oder weniger deutliche Verlangen nach Rettung und Vervollkommnung
(Heil). — Bei der Darstellung der funktionalen
Struktur des religiösen Erlebens versteht es Vf., den
Stellenwert und das variationsreiche Zusammenspiel der
Grundfunktionen (Fühlen, Denken, Wollen) und ihrer
Allsgliederungen aufzuzeigen.Es ergibt sich,daß man weder
dem Oedanken (vgl. Sehleiermaeher) noch dem Willen
(vgl. Girgensohn) eine sekundäre Bedeutung im religiösen
Erleben zuerkennen kann. Besonders wertvoll sind die Ausführungen
über die Andacht und die religiöse Ergriffenheit.
— Da dor Bezug zur Mitte der Person, zum Selbst, für das
religiöse Erlebnis charakteristisch ist, erhält die Analyse
der personalen Struktur einen breiten Raum. Die Vorgänge
der Aneignung, der Wandlung, die Varianten der
Einstellung und ihre, Entstehung und Verfestigung unter
den individuellen Lebensbedingungen, die Bedeutung der
Lebensthemen (Thomae) und ihr Verhältnis zu Einstellungen
und Motiven werden in differenzierter Weise beschrieben
. Tm Lern- und Vorfestignngsprozeß der religiösen
Erlebnisse spielen dio Vater- und Mutterpersünlieh-
keiten eine prägende Rolle. Doch können dieso auch durch
andere Beziohungspersonen, durch Institutionen und auch
durch Archetypen (Gottos-Ohristns-Arehetypus) vertreten
werden. — Die Analyse der Motivierung des religiösen Erlebens
enthält die vielumstrittene Frage nach dem Vorhandensein
eines religiösen TJr- und Orundbedürfnisses
(z. B. auch Erlösungs- und Transzondonzhodürfnissos).
Wenn den diesbezüglichen Begründungen des Vfs. im
Gespräch mit Vergote. Keiter, Daim, Lorsch und anderen
(nach Ansicht des Rezensenten) auch nicht, immer zugestimmt
werden kann, so ist die Auseinandersetzung doch
notwendig, tiefdringend und regt zu neuen Forschungen an.
Das Problem wird im Kap. „Das Auftreten religiöser Erlebnisse
(Entstehungsbedingungen und Anslösungsver-
fahren) noch einmal aufgenommen. Tn Auseinandersetzung