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Ausgabe:

1977

Spalte:

851-853

Kategorie:

Referate und Mitteilungen über theologische Dissertationen und Habilitationen in Maschinenschrift

Autor/Hrsg.:

Künzel, Georg

Titel/Untertitel:

Studien zum Gemeindeverständnis des Matthäus-Evangeliums 1977

Rezensent:

Künzel, Georg

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Theologische Literaturzeitung 102. Jahrgang 1977 Nr. 11

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keit ist nicht Ausdruck des Strebens nach einem perfekten
Sühneinstitut, das Gott zu einem genau berechenbar
reagierenden Automaten machen würde, wobei dem Ernst
der Forderung trotz der Genauigkeit die Spitze abgebrochen
wäre. Mit dieser minutiösen Kasuistik, die einem
Außenstehenden so schwer zugänglich ist, wird die Totalität
des keinen Bereich des Lebens aussparenden Anspruchs
Gottes ausgedrückt. Von derselben Überzeugung ist Jesus
getragen. Er geht aber nicht den Weg der Kasuistik, sondern
den Weg der Radikalisierung des überlieferten Gebotes
, wie es die Antithesen der Bergpredigt zeigen. Radikalisierung
und Kasuistik sind Ausdruck ein und derselben
Überzeugung.

Kunze], Georg: Studien zum Gemeindeverständnis des Matthäus-
Evangeliums. Diss. Erlangen 1975. 161 S..LXIX S.Anmerkungen
mit Literaturverzeichnis.

Vorliegende Arbeit gliedert sich in eine Einführung
(S.l-22: „Zur Auslegungsgeschichte des Matthäus-Evangeliums
unter ekklesiologischem Aspekt von der 1. Hälfte
des 19. Jahrhunderts bis in die 1. Hälfte des 20. Jahrhunderts
") und sechs Kapitel. Kap.l verweist auf den ,,ge-
schichtstheologischen Aspekt der matthäischen Theologie"
(S.23-36). Kap. 2 stellt das „Jesusgeschehen als Gottesgeschichte
" dar (S. 37-75). Das „Selbstverständnis der
Gemeinde" wird in Kap. 3 beleuchtet (S.76-104), wobei
„Funktionen in der Gemeinde" eigens behandelt werden
(Kap.4, S. 105-112). Kap.5 gilt der Beziehung zwischen
„Petrus und der Vollmacht der Gemeinde" (S. 113-134).
Die eschatologische Perspektive schließlich greift Kap. 6
anhand einer Detailuntersuchung explizit auf (S.135 bis
156: „Ende und Vollendung - das Wortfeld z&os im
Matthäus-Evangelium").

Ekklesiologische Aussagen des Matthäus-Evangeliums
werden in dieser Arbeit somit vor dem Hintergrund der
Christologie des Matthäus-Evangeliums und der theologisch
motivierten Geschichtsschau seines Evangelisten
entfaltet. Den Rahmen hierzu geben Kap.l (mit Ausführungen
zu den öixaiooivri - bzw. d'ixaioi - Belegen und dem
matthäischen Gebrauch von nfoßviir) und Kap. 6. Das Ergebnis
lautet: Christologie, Ekklesiologie und Eschatologie
haben im Matthäus-Evangelium ihren gemeinsamen Bezugspunkt
in der geschichtstheologischen Perspektive des
Evangelisten. Von den Reflexionszitaten, die das Jesusgeschehen
als Vollzug und Erfüllung alttestamentlicher
Bundesverheißung deuten, bis zu den Aussagen über Ende
und Vollendung des Äons gibt das Evangelium einen zielgerichteten
Aufriß. Ziel der Geschichte ist das Leben der
Gerechten im Herrschaftsraum des Vaters (13,36ff.47ff.;
25,31 ff.), der seit Grundlegung der Welt bereitet ist und
der bei der Parusie des Menschensohns durch die eschatologische
Aussonderung alles Gottfeindlichen offenbar werden
wird. Für die Gegenwart der Gemeinde, die in der
Nachfolge Jesu Haß und Verfolgung ertragen muß (5,10ff.
44ff.; 10,17ff.; 23,34; 24,9) bedeutet der Ausblick auf die
Vollendung zweierlei: Er ist mahnender Hinweis auf das
bevorstehende Gericht, von dem die Gemeinde mitbetroffen
ist. Zugleich auch tröstender Zuspruch, daß die Ankunft
des Menschensohns der Bedrängnis der Gegenwart
ein Ende bereiten wird.

Im Rahmen der theologisch bestimmten Gesamtschau
des Evangelisten erweist sich die Verzahnung von Christologie
und Ekklesiologie als konstitutiv für das Matthäus-
Evangelium. Für den Aufweis dieses Tatbestandes leistet
das christologisch orientierte Kap. 2 Vorarbeit (Teil A,
S. 37-69): „Das Jesusgeschehen im Aufriß des Matthäus-
Evangeliums". Teil B, S. 70-75: „Hoheit und Niedrigkeit
in der Christologie des Matthäus-Evangeliums"). Exemplarisch
seien einige Punkte genannt: Der Ruf in die Nachfolge
gilt ebenso wie das Leben in der Nachfolge und die
Sendung der Jünger als Jesu Werk (c 8ff.; 11,2). Die mat-
thäische Gemeinde ist „Jesu Gemeinde" (16,18). Hat sie

Vollmacht zu Lehre, Vergebung, Heilung, so ist es Jesu
Vollmacht, an der sie teilhat (28,20a; 5,1 ff.; 9,lff.;
10,lff.). Ihr Taufen und Lehrenfolgt Jesu Taufe und Lehre.
Als „Licht der Welt" setzt sie das messianische Werk Jesu
fort, der zum „Licht" für das „Galiläa der Heiden" geworden
war (4,15f.; 5,14). Innergemeindlich entspricht der
Hirtensorge Jesu die Sorge um die von Verführung bedrohten
Gemeindeglieder (9,36; 18,12f.).

Exegetischer Schwerpunkt dieses Kapitels ist die Darstellung
der Weisheitslogien (S.42-61), wobei die Logien
in Kapitel 11 (S. 45-56) unter dem Aspekt der „Ablehnung
Jesu durch Israel" den Logien von Kapitel 23 gegenübergestellt
werden (S. 56-61), die unter dem Aspekt
„Verwerfung Israels durch Jesus" behandelt sind. Christologie
und Ekklesiologie stehen auch in diesem Punkt in
einem Verhältnis der Entsprechung: Formulieren die
Weisheitsworte die Trennungslinie zwischen Jesus und
Israel in christologischer Hinsicht, so leistet der Evangelist
ähnliches für seine Ekklesiologie mit dem vieldiskutierten
Begriff des „Verstehens" (vgl. S. 87-89: „Das Verstehen
' der Jünger als Zeichen der Scheidung"). Durch das
Verstehen sind die Jünger in das Geschick der Scheidung
zwischen denen, die „sehen und hören" (13,16) und denen,
die „sehend nicht sehen und hörend nicht hören" (13,13),
d. h. zwischen neuem und altem Gottesvolk hineingestellt.
Von hier aus bestimmt sich in der Sicht des Evangelisten
das Verhältnis der Kirche zu Israel. Für ihn hat die Antithese
zu Israel definitive Gestalt angenommen. Wie Jesus
in den galiläischen Städten auf Ablehnung gestoßen ist,
werden die Jünger in den Städten Israels bis hin zur Ankunft
des Menschensohns abgelehnt werden (zu 10,23 vgl.
S. 145ff.). Zwar geschieht es in der Gegenwart des Evangelisten
, daß einzelne aus dem bisherigen Bundesvolk zu
Jüngern Jesu werden (27,57), doch die matth. Gemeinde
weiß sich in erster Linie zu den Heiden gesandt (28,18ff.).

„Grundelemente der matthäischen Ekklesiologie" wei den
hauptsächlich in den Kapiteln 3-5 dargestellt. Die Situation
der Gemeinde ist von der Auseinandersetzung mit
dem Pharisäismus und mit charismatischen Kreisen geprägt
(zu 23,8ff. vgl. Kap.3, S.lOlff.: Jesus „der eine
Lehrer"). Die bessere Gerechtigkeit, die im Vergleich zu
Lehre und Praxis der Schriftgelehrten und Pharisäer gefordert
ist, und die Liebe, die Charismatiker trotz ihrer
Berufung auf den Kyrios vermissen lassen, sind vom Jünger
in der völligen Hinwendung zum Nächsten zu üben.
Die doppelte Frontstellung kommt auch im Verständnis
der Verkündigungs- und Lehrfunktionen der Gemeinde
zum Ausdruck (Kap. 4). Einerseits sieht der Evangelist die
prophetische Wirksamkeit mit der Bemühung um die Gerechtigkeit
zusammen (10,41); andererseits nennt er die
Bemühung um das Verstehen, das zum „Fruchtbringen"
befähigt, als kritische Norm für den christlichen Schrift-
gelehrten im Gegensatz zum jüdischen (13,23.51f.). Kapitel
5 beleuchtet schließlich in seiner zweiten Hälfte die
Vollmacht der Gemeinde zur Vergebung, das Verhältnis
von charismatischer Vollmacht und Liebesgebot sowie die
missionarische Vollmacht der Gemeinde (S. 125ff.). Die
Eigentümlichkeit des matthäischen Gemeindeverständ-
nisses wird darin deutlich, daß Würde und Vollmacht der
Gemeinde vor dem Hintergrund einer nicht zu übersehenden
Ambivalenz von Glaubensgewißheit und Glaubensgefährdung
, von Naehfolgebereitschaft und Angefbohten-
heit des Jüngers zu stehen kommen (S.89ff.98ff.).

Brennpunktartig tritt das Gemeindeverständnis des
Matthäus-Evangeliums in der Petrus- Darstellung zutage.
Aufgrund einer redaktionsgeschichtlichen Verhältnisbestimmung
von 16,17 ff. und 18,15ff. (S.114ff.) wird folgendes
Ergebnis erzielt: Die Gemeinde sieht den Ursprung
ihrer Entscheidungsgewalt, die Lehr- und Disziplinargewalt
umfaßt, in der dem Petrus übertragenen Schlüsselgewalt
. Er ist der Fels, auf den sich diese Gemeinde gebaut
weiß. Für den Evangelisten ist die Vorrangstellung des
Petrus allerdings nicht in kirchenrechtlicher, sondern seel-