Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

1977

Spalte:

844-845

Kategorie:

Praktische Theologie

Titel/Untertitel:

Die Bedeutung Paul Tillichs für die kirchliche Praxis 1977

Rezensent:

Langer, Jens

Ansicht Scan:

Seite 1, Seite 2

Download Scan:

PDF

843

Theologische Literaturzritung 102. Jahrgang 1977 Nr. 11

844

einprägsamen Formulierungen oder erhellenden Bildern
und Vergleichen, nur spärlichen Gebrauch, obwohl so
etwas dem Prediger, wie hier und da sichtbar wird, durchaus
zu Gebote steht. Aber diese so unrhetorischen Predigten
zeigen auch, daß sich von dem sie prägenden theologischen
Grundansatz her gut predigen läßt.

Die Predigten und Andachten über 24 noutestament-
liche und 6 alttestamentliche Texte halten sich, wie ebenfalls
im Vorwort erläutert wird, „durchweg an die traditionelle
Gestalt der Textpredigt. Die thematischen Überschriften
sind erst für die Drucklegung hinzugefügt".
Aber dennoch geht es „in jeder Predigt um eine besondere
Thematik, und zwar um ein Thema christlicher Lehre, das
sich an Hand des Predigttextes konkretisieren läßt. Es ist
ein Rat meines praktisch-theologischen Lehrers Wilhelm
Hahn gewesen, aus diesem ganz pragmatischen Grunde,
um nämlich der Abstraktheit und Allgemeinheit so vieler
Themapredigten zu entgehen, an der Textpredigt festzuhalten
, und das hat mir bis heute eingeleuchtet" (S. 7).
So sind die Predigten zwar alle im besten Sinne des Wortes
biblisch und erfreuen teilweise durch einen ausgiebigen
und sachlich einleuchtenden Rückgriff auf weitere Bibelstellen
über den eigentlichen Predigttext hinaus, der aber
u. U. stark zurücktreten kann. Eine solche innerlich und
auch äußerlich an die Bibel gebundene, aber dem einzelnen
Text mit innerer Freiheit begegnende Predigtweise
ist auch u. E. die heute primär gebotene Predigtweise und
wird durch die Predigten Pannenbergs überzeugend und
zur Nachahmung anregend demonstriert, so z. B. in der
Predigt über den schwierigen Text Mk5,l-20 mit dem
Thema „Die Freiheit und der Anstand", eine Predigt, die
zwar einerseits den Bildgehalt ihres Textes stark aufgreift
und nützt, aber andererseits sachlich stärker an Paulus
als an Markus orientiert ist.

Sehr beherzigenswert ist es auch, wenn gesagt wird, daß
in den Predigten „nicht nur nach den Analogien der
gegenwärtigen Situation der Predigthörer mit der Situation
des Textes gefragt wird, sondern auch die Differenzen
und Gegensätze heutiger Erkenntnis der betreffenden
Thematik zu Aussagen des Textes berücksichtigt und gelegentlich
pointiert werden. An diesem Punkt erblicke ich
den tiefsten Unterschied zu der Auffassung, die in jedem
Text das Wort Gottes sucht, dem dann natürlich in der
Predigt nicht widersprochen werden kann" (S. 8). Als Beispiel
ließe sich wieder die Predigt über Mk5,l-20 anführen
oder auch die Predigt über Mt 16,24-25 „das Kreuz Jesu
und das der Christen", die mit erfreulicher Deutlichkeit
dem Situationsunterschied Rechnung trägt: „Man kann
einer Vorstadtgemeinde nicht den Lebensstil des Martyriums
als Kreuzesnachfolge predigen, wenn die Hauptbeschäftigung
der Hörer nach dem Gottesdienst darin bestehen
wird, sich ihrem Sonntagsbraten zu widmen. Auf
solche Weise werden die größten Worte des Christentums
verschleudert, entleert, bis sie gar nichts mehr besagen"
(S. 179).

Obwohl der Prediger betont dafür eintritt, der Gemeinde
einschlägige theologische Information über Text und
Thematik nicht vorzuenthalten, „als ob deren Glieder auf
der Intelligenzstufe von Kleinkindern stehengeblieben
wären", betrachtet er dennoch „die Mitteilung theolo-

f;ischer Lehre und Information keineswegs als die eigent-
iche Aufgabe der Predigt. Wenn ich mich an gute Predigten
erinnere, so waren es solche, die mich beim Zuhören
zur Besinnung anregten über das Leben und seinen Sinn.
In diesem Sinne habe ich auch versucht, in meinen Predigten
Anleitungen und Anregungen zur Meditation zu
geben, zur Vertiefung des Hörers in den Sinn seines und
unseres gegenwärtig gclebten Lebens, so wie dieser Sinn
durch die christliche Überlieferung erschlossen wird"
(S. 9).

Dieses stärkere Eingehen auf die Sinnfrage des Lebens
ist ja in der Predigtgeschichte nicht neu und auch grundsätzlich
sehr zu bejahen. Die Gefahr liegt bei dieser Predigtweise
allerdings darin, daß der abschließende Relativsatz
zu kurz kommt : „so wie dieser Sinn durch die christliche
Überlieferung erschlossen wird". Pannenberg beweist,
daß man dieser Gefahr nicht erliegen muß.

Überbetont ist u. E. immer noch der Rückgriff auf
negative Grenzsituationen des Lebens - Gebrechlichkeit,
Vergänglichkeit, Resignation usw. -, obwohl hierbei im
einzelnen kaum einmal übertrieben und überspitzt wird.
Aber diese Form der Anknüpfung durchzieht doch wie ein
roter Faden - vielleicht sagte man in diesem Falle besser:
wie ein schwarzer Faden - große Teile des Predigtbandes.

Der Rezensent empfindet die zeitliche Abfolge der
Predigten im ganzen gesehen zugleich als eine sachlichinhaltliche
Steigerung und die abschließende Predigt
„Vom Beten" über lTim2,l-6 vom Sonntag Rogate 1973
als einen ausgesprochenen Höhepunkt, vielleicht auch
deshalb, weil hier die Betonung der Dankbarkeit deutlich
dominiert vor der Artikulation der Bedürftigkeit des
Menschen. Sicher hat diese Predigt darin recht, daß
zwischen dem Innewerden der Bedürftigkeit und dem
Entstehen der Dankbarkeit auch ein enges Wechselverhältnis
besteht, aber es ist nun homiletisch u. E. eben doch
recht wesentlich, ob der Akzent stärker auf das eine oder
das andere gelegt wird. Eine Theologie, für die die Aufer-
weckung Jesu Christi so zentral ist, sollte den Prediger
noch stärker dazu ermutigen, an die positiven Gegebenheiten
des Lebens im Sinne der Dankbarkeit und des Lobpreises
anzuknüpfen. „Das ausdrückliche Dankgebet ist...
nur eine unter mehreren Formen des Gebetes. Alles Gebet
dagegen erwächst nur aus dem Grunde der Dankbarkeit
... Und die Sünde der Menschen besteht in erster
Linie darin, daß solche Dankbarkeit ausbleibt: sie haben
ihn nicht verherrlicht und ihm nicht gedankt, sagt Paulus"
(S. 195/196).

Druckfehler S. 123, Z. 1 v. o.: Bürger statt Bürdor

Berlin Hans Hlnrich Jenasen

Schmidt, Walter: Die Bedeutung Paul Tillichs für die kirchliche
Praxis. Im Einvernehmen mit der Evangelischen Akademie
Baden und der Paul-Tillich-Gesellschaft hrsg. Stuttgart: Evang.
Verlagswerk [1976]. 85 S. 8°. Kart. DM 4,80.

Mit dem schmalen Band soll eine Tagung der Evangelischen
Akademie Baden und der Tillich-Gesellschaft, die
auch den Buchtitel lieferte, dokumentiert werden.

Helmut Elsässer untersucht T.s Verhältnis zur Tiefenpsychologie
(9-25), was er bereits an anderer Stelle ausführlich
getan hat1. Er erläutert z. B., wie T. einen Protestantismus
, der sich durch seine permanenten moralischen
Appelle weitgehend zur Bewußtseinsreligion entwickelt
hat und vielfach alles Natürliche, Vitale und
Dämonische verdrängt, durch seine theologische Lehre von
der Sünde vermittels tiefenpsychologischer Erkenntnisse
wieder auf über das individuelle Bewußtsein hinausweisende
Strukturen zu orientieren versuchte. Die graphische
Darstellung des T.schen Verständnisses der Dimensionen
(18 und 19) deutet als praktische Anschaulichkeit ein
wenig von der Versprechung im Buchtitel an. - Heinz
Flügel hat den „Briefeines Unbekannten" beigesteuert.
Unter der Überschrift „Ein Skeptiker begegnet Paul
Tillich" (26-37) stößt der Leser auf die Zweifel, wie sie
viele um intellektuelle Redlichkeit bemühte Christen aussprechen
. Die an sich sympathische Zurückhaltung des
Skeptikers macht darauf aufmerksam, wieviel schärfer
seit Tillichs Tod gefragt wird und wieviel radikaler die
Fragestellungen sind. - Peter Kreyssig beschreibt „Die
Frage nach Gott im Denken Paul Tillichs" (38-52) aus der
Sicht eines Pfarrers, dem sein ursprünglicher Barthianis-
mus zu zerbröckeln begann und dem T.s Theologie eine
neue Möglichkeit für sein Leben als Verkündiger bot. - Mit
dem Aufsatz „Das Symbolverständnis Paul Tillichs in
seiner Bedeutung für die kirchliche Praxis" (53-77) liefert
Andreas Rössler den gewichtigsten Beitrag des kleinen