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Ausgabe:

1977

Spalte:

753-755

Kategorie:

Systematische Theologie: Allgemeines

Autor/Hrsg.:

Mostert, Walter

Titel/Untertitel:

Sinn oder Gewissheit? 1977

Rezensent:

Fritzsche, Hans-Georg

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Theologische Literaturzeitang 102. Jahrgang 1977 Nr. ]0

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SYSTEMATISCHE THEOLOGIE

Moetert, Wolter: Sinn oder Gewißheit? Versuche zu einer theologischen
Kritik des dogmatischen Denkens. Tübingen: Mohr
1!tT(1. X. 186 S. gr. S° = Hermeneutische Untersuchungen
zur Theologie, hrsg. v. ('.. Ebeling, E. Fuchs, M. Mezger, 16.
I.w. DM 42,-.

Diese Arbeil isi eine von Gerhard Ebeling betreute Züricher
Dissertation (1974) — keine übliche Dissertation, keine ..hisi<>-
rische Monographie", sondern eine ziemlich aufs Ganze gehende
Sachabhandlung, die Ihren Gegenstand uns der ihm eigenen Problematik
erfassen und syst.....atisch darstellen will. Sie bleibt

nicht ohne Blick nur die (beschichte, aber doch ohne historischen
Beleg, dn ohne Festlegung auf ein bestimmtes historisches Phänomen
. Allerdines spielt im /«e ilen Teil die Theologie Luthers
die Rolle eines Exoinpcls und Modells.

Der Anspruch der Arbeit greift hoch. Sie will den ..Dogmatismus
" überwinden. Worunter vor allem das Axiom eines ..Sinnes
der Geschichte" bzw. „globaler Heilsvorslellungen" verstanden
wird und in welcher Gestnil „metaphysisches Denken" in noch
potenzierter Gestalt sieh In die .Neuzeit übertrage. („Die metaphysischen
Vorstellungen hallen die fundamentale und systematische
Differenz des Menschen zu Gott noch anzuzeigen vermocht
. Nun aber zieht der Mensch die Majestätseigenschaften
Gottes auf sieh ... Im Entwerfen geschichtsphilosophischer
Konzepte auf die Gesamtheil des Menschengeschlechts und das
Ziel der Geschichte", S. 143. „Problematisch ist nicht Mi.'' Neuzeit
, sondern ihr soteriologisches Selbstverständnis", S. 165.)
Als Wurzel aller Übel erscheint (und das erinnert an Bultmann)
das Sicherungsbedürfnis des Menschen und sein Streben nach
SclbstvcrwirkJichung das subjektive Korrelat zur Fata Mor-
gann eines ..aufweisbaren (icsamtsinncs der Geschichte" (S.136,
158). ..Das Gewißheitsbedürfnifl des Menschen (ist) gleichsam
die Enrmalursuchc des Sündenfalls'' (S. 134). Luthers Kampf
gegen dii' Schwärmer und sein Abweis jeglicher Seihst recht Fertigung
werden zum theologischen Ausweis dieser Frontstellung.
Als menschendienliches Werk falle der Theologie (die nicht einfach
um der Kirche willen da ist) heule die Aufgabe zu, die

Menschheit vor einem herostratischen Prometheismus (der nur
tragisch enden könne) bewahren zu hellen (und dessen Gefährlichkeil
nicht allein die ökologische Krise anzeigt). Doch keine
neue A nt ihyhrisl heologie griechischer Kosmosvergol I ung (S.
109). sondern — und das läßt positivistische Züge anklingen —
„endgültige Disjunktion der Gewißheitsproblematik von der
Wcltgestaltung, Colli s von der Weh", S. 168. „Subtraktion der
Gewißheitsfragc von der Weltbeziehung", Verzichl auf den
„Mißbrauch der Weh zur Sinnverwirklichung"! „So stellt sieh
die Titelfrage der Arbeit als scharfe Alternative heraus: Die Belastung
der Geschichte mit der Gewißheitsfrage in dem Sinnpostulat
ist letztlich die Zerstörung der Gewißheit und des Sinnes
, indem Sinn nie empirisch, immer nur als Denkfigur transzendental
-zukünftig gedacht wird. In dieser Ausprägung sollte
das Sinnproblem obsolet sein" (S. 169f.).

Das ist nun eine deutliche, ja drastische Tendenz«ende im
Vergleich zu den Theologien revolut ionärer W elt Veränderungen
In den sechziger Jahren („Die Praxis, die ans einer unvollständigen
Kenntnis der Lebensphänomene hervorgeht, kann
das Lehen nur mehr verwirren als ihm helfen", S. 50. vgl. S. 49),
eine Absage an Theologien des I lopisnius. der Hoffnung
(., ... merk würdige Parallelität zwischen der dem Christentum
ofi vorgeworfenen Vertröstung auf das Jenseits und der heute
gehörten Vertröstung auf die Zukunft . . .", S. 111). der Gewalt
(„An der Gewali enthülll sich das Wesen des Menschen, wenn
er sich allein aus der Aktivität Versteht", S. 99), an das Verändern
um des Yeränderns willen. Überhaupt ein .Nein zur

I heologie bzw. Ideologie der Geschichte.

Hierbei entsteht ein recht dunkles liild von der Geschichte,
die immer auch „Unheils- und Sündengesehichle" (S. 51) ist.
Ihr eignet eine Tendenz zum Katastrophalen, und falsche Aktivität
treibt nur einen Teufelskreis voran. (..Der soziologischen

Herleitung geschichtlicher Übel muß daher die anthropologische
Herleitung vorangehen. ... Darum verstand Luther die Sünde

nichl moralisch, sondern geschichtlich und ontologisch: Sünde

ist das. was gegen die Intention des Menschen die Well, die Geschichte
, die Gesellschaft gleichwohl verunstaltet, das, wissenschaftlich
vollkommen richtig erklärbar, dennoch als Faktor der
Geschichte nicht verschwindet ...", S. 131).

Iiier zeigt sich, wie die Rechtfertigungslehre Luthers eine
Verallgemeinerung erfährt, derzufolge sie zur Krisis (nichl nur
Über den .Sünder', sondern) über die well geschieh I liehe Aktivität
des Menschen Überhaupi wird. ..Ohne die Befreiung vom Versicherungsbedürfnis
können die Werke des Menschen nichl gul
sein. W as anders besag! Luthers Grundgedanke, dal! Liehe ohne
Glaube nicht sein kann?" (S. 149) ..Obwohl die Geschichte, das
heil.lt die politischen und gesellschaftlichen Zustände, nach Veränderung
schreien, weil in ihnen den Bedürfnissen des Menschen
nicht mehr entsprochen wird, obwohl also eine Fülle politischer
und sozialer Aufgaben einer baldigen Lösung harrt, (ist) doch

daran Festzuhalten, daß die wirkliche Gefahr nicht die überlieferten
Übel sind, sondern die Entstehung des Bösen aus der individuellen
Zerfallenheil des Menschen mit sich seihst" (S. 162).

Freilich sind viele Partien in diesera Zusamnienhangdem Vorwurf
ausgesetzt, dal! theologische Pauschalformeln, zur Grobcharakteristik
von 'Weh' benutzt, mystifizierend wirken oder
falsche Alternativenerrichten: „Das Gesetz wird nicht etwa deswegen
nichl erfüllt, weil es substantiell unerfüllbar wäre
sondern deswegen, weil der Mensch mit seiner Aktivität auf etwas
ganz anderes aus ist als auf Gesetzeserfüllung und Sinnverwirklichung
; nämlich auf Seihst Verwirklichung, der gegenüber
Gesetzeserfüllung und Sinnverwirklichung nur dienende Funktion
haben. Der strenge Nomisl und Fundamentalist, der glühendste
Ideologe einer hesseren Zukunft, die sich alle als Funktionäre
einer wahren objektiven Idee verstehen, verfolgen doch
eben darin ihre eigene Selbstverwirklichung ..." (S. 1371.). Aber
was heil.il „Selbstverwirklichung", und muß diese Dienst, an einer
Idee oder Sache oder am anderen notwendig ausschließen?
Kann es nicht die 'List der Idee' sein, die „Selbstdarstellung"
des Menschen für ihre Zwecke einzuspannen (wie man von der
Hegel-Begeisterung vormaligen theologischen Denkens lernen
könnte) .' Und wie steht es mit folgender Alterna t i ve : .. Mau kann
ilie Natur und die Geschichte, also die Well, auf die Dauer nicht,
vor der Zerstörung durch den Menschen retten, wenn man nichl
sieht, daß die Erde uns nur zum Zwecke der Befriedigung unserer
elementaren Lebensbedürfnisse, nichl aber unseres Gewißheitsbedürfnisses
Untertan ist" (S. 146). 11 ier erscheint das ..(le-
wißheitsbedürfnis" als die ganze andere, die ideologische Seile
neben den „elementaren Lebensbedürfnissen" menschlicher Existenz
— und wird die Konzeption ganz deutlich: Befreiung von

der 'Ideologisierung' der Existenz im .Namen der Rechtfertig

giingslehre Luthers. Dem entspricht eine Polemik gegen einen
offenbar unausrottbaren Zwang, ..alles Tun und Lassen mi! der
Sinnfrage zu belasten, gegen jede empirische Erfahrung Sinntotalen
zu denken" (S. 116).

Wenn Dogmatismus ..generalisierende Theoriebildung" (S.
56) ist, dann ist dieses Buch sicher von diesem Vorwurf selbst
nicht unbetroffen. Es hat mit dem Denken, gegen das es steht,
die ganze Einseitigkeit und Abstraktheil des Intellektualisti-
SChen gemeinsam. Soll der Mensch nicht nach einem Sinn seines
Daseins fragen — sosehr es gewiß auch eine Befreiung von einer
Sinnhysterie im Namen des Neuen Testaments geben mau .' Soll
der Mensch nicht versuchen, in einem guten Sinn 'sich seihst zu
verwirklichen'? Soll er nichl gegen deshumanisierende Mechanismen
seiner Geschichte wie in Naturgewalten 'einzugreifen' suchen
? Und hat nichl Schleiermacher recht, wenn er im Begriff
des „Herrschens" des Menschen über die Erde ausgedrückt findet
, daß die Arbeit des Menschen einen „Überschuß über den
Verbrauch" als das Elementare erbringen solle? ..Bleibt ein solcher
Überschuß nicht, so liegt es entweder in der Trägheit des
Menschen oder in unmäßigem Verbrauch ... Muß aber immer
Überschuß sein, so kann der Verbrauch nicht letztes Ziel sein"
— wofür Schleiermacher auf das 'darstellende Handeln' im Unterschied
zum 'wirksamen Handeln' verweist (Die christl. Sitte,
S. 501).

Aber das Buch will als Antithese wirken, und sein Verfasser

wird jedes Ersuchen nach Konkretisierung und Differenzierung