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Ausgabe:

1977

Spalte:

691-694

Kategorie:

Psychologie, Religionspsychologie

Autor/Hrsg.:

Müller, Heinz

Titel/Untertitel:

Psychologie des Glaubens 1977

Rezensent:

Kiesow, Ernst-Rüdiger

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Theologische Literaturzeitung 102. Jahrgang 1977 Nr. 9

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dankbar herausgestellt wird (S. 12 f.). Das ist mir bisher in
keiner Predigtsammlung so begegnet.

4. Die Predigten lesen sich durchweg sehr gut. Rede- und
Schreibstil liegen ganz eng beieinander, was hier einen großen
Vorteil darstellt. Üblich ist eine Dreiteilung der Predigten
mit in der Regel ganz knappen Schlüssen, aber langen
Einleitungen. Diese wollen Hindernisse beim Hörer aus
dem Weg räumen oder sind kasual bestimmt. Geschichten
und Erlebnisse säumen manchmal den Gedankenweg, noch
häufiger sind es Zitate (sie sind freilich nicht immer ganz
genau wiedergegeben worden, vgl. S. 20, 33, 92, 144). Luther
kommt als häufigster Gewährsmann zu Wort; eben dort,
wo er des Vfs. Theologie und Lebensweisheit bestätigt oder
bereichert. Besonders frappierend ist die knappe Formulierungskraft
des Rhetors. Sie besticht, ohne zu langweilen,
und wirkt oft humorweckend. Im „Wort an den Leser" steht
zwar einseitig, aber bedenkenswert: „Das Evangelium, als
Botschaft der Freude, liebt die einfache Aussage, die klare
Frage, den kurzen Satz" (S. 11). — Der Predigtband insgesamt
ordnet die Predigten unter drei Gesichtspunkten: Zuspruch
(Predigt 1-8, S. 15-54), Erfüllung (Predigt 9-18,
S. 55-104), Veränderung (Predigt 19-28, S. 105-157). Nicht
alle Predigten geben diese Grundworte je in gleicher Stärke
wieder.

5. In dem allen tritt deutlicher als in anderen Predigtausgaben
die Biographie des Predigers selbst hervor; nicht
nur im Sinne von Daten, sondern von Erfahrungen mit dem
Wort, die für manchen gewiß theologisch einseitig und oft
zu arkan gehalten sind, die Ärger und Schmerz für Hörer
und Prediger gebracht haben, aber auch und vor allem eine
leidenschaftliche „Freude am Wort" ausstrahlen.

Berlin Friedrich Winter

PSYCHOLOGIE UND
RELIGIONSPSYCHOLOGIE

Müller-Pozzi, Heinz: Psychologie des Glaubens. Versuch
einer Verhältnisbestimmung von Theologie und Psychologie
. München: Kaiser; Mainz: Matthias-Grünewald-
Verlag [1975]. 192 S. 8° = Gesellschaft und Theologie. Abt.:
Praxis der Kirche, hrsg. v. Ch. Bäumler, H.-D. Bastian, R.
Bohren, N. Greinacher, M. Josuttis, F. Kamphaus, P.
Krusche, Y. Spiegel, A. Uleyn, R. Zerfaß, 18. DM 22,-.

Sborowitz, Arie: Individuation und Glaube. Mit einem Geleitwort
von Wilhelm Bitter. Darmstadt: Wissenschaftliche
Buchgesellschaft 1975. XIII, 123 S. 8°. Kart. DM 30,-.

In der Religionspsychologie gewinnen die Beiträge psychoanalytischer
Autoren immer mehr an Gewicht. M-P.
bezeichnet seine Abhandlung vorsichtig als „Versuch", aber
er legt doch eine sehr entschiedene Konzeption vor. Er beschränkt
sich allerdings ausdrücklich auf den individuellen
Glauben „in seiner psychogenetischen, dynamisch-ökonomischen
und strukturellen Funktion innerhalb der Gesamtpersönlichkeit
" (5) und klammert die Sozialpsychologie der
Religion bewußt aus. Nachdem er im 1. Abschnitt die Gesprächslage
zwischen Theologie und Psychologie kurz
charakterisiert hat, nimmt er im 2. Abschnitt den theologischen
Ausgangspunkt bei Tillichs Glaubensverständnis. Die
allgemeine psychologische Grundlegung fällt bemerkenswert
knapp aus (3 S.). Der Vf. spricht sich hier gegen die
Subjekt-Objekt-Trennung in der Psychologie aus und betont
, daß es gerade auf die Dreidimensionalität von „Sinn-
bezogenheit, Innerlichkeit und Intentionalität" im psychischen
Leben der Person ankomme (31). Den Schwierigkeiten
einer Psychologie des Glaubens, die weder auf Psychologismus
noch auf Apologetik hinausläuft, stellt sich M-P. im 4.
Abschnitt. Er lehnt das in der Religionspsychologie zumeist
vertretene Prinzip vom Ausschluß der Transzendenz ab und
setzt ihm das Prinzip der Intentionalität entgegen; dafür

ein bezeichnendes Zitat: „sozusagen als intendiertes Objekt
bleibt Gott in die religionspsychologische Betrachtung eingeschlossen
. ... Dabei wird Gott nicht als eine .verrechen-
bare' Größe in die Wissenschaft eingeführt, doch ist er als
Verweisungshorizont, ... , als Objektrepräsentanz ganz bestimmter
Prägung, als das, worauf sich der glaubende
Mensch bezieht, gegenwärtig" (39). Auf die kritische Auseinandersetzung
mit der experimentellen Religionspsychologie
(bes. Girgensohn und Gruehn) im 5. Abschnitt folgen
dann teils Zustimmung, teils Vorbehalte gegenüber den Entwürfen
von Sunden, Pruyser und Vergüte.

In der Mitte des Buches (Abschnitt 7—9) entwickelt der
Vf. die eigentlichen Grundlagen seines religionspsychologischen
Denkens aus der Psychoanalyse S. Freuds. Auf C. G.
Jung geht er in diesem Zusammenhang auch etwas ein, allerdings
nur, um seine Religionspsychologie zu verwerfen, weil
sie „letztlich ein Aufgehen der Theologie in Psychologie"
bedeute (86). Es ist ein erheblicher Mangel, daß M-P. sich
vor allem auf Jungs Schrift „Psychologie und Religion" von
1940 stützt, statt auf das Gesamtwerk, und daß seine Urteile
über Jung vielfach aus zweiter Hand stammen (bes. Affemann
). So kommt er bei seinen weiteren Darlegungen des
öfteren zu Ergebnissen, die er ähnlich oder genauso schon
bei Jung hätte finden können! Freuds Anschauungen über
die Religion werden ausführlich referiert, obwohl dies in der
Literatur schon oft genug geschehen ist; erstaunlicherweise
wurde z. B. das ganz ähnlich orientierte Buch von H. G.
Preuß, Illusion und Wirklichkeit, 1971 (vgl. meine Rezension
in ThLZ 98, 1973 Sp. 147 ff.) nicht berücksichtigt. Ansonsten
zieht der Vf. auch im Blick auf Freud recht oft die Sekundärliteratur
heran (etwa Jones und Scharfenberg). Die
Tendenz seiner Darstellung wirkt apologetisch, weil Freuds
Religionskritik offenbar doch noch immer als Belastung für
das heutige Gespräch zwischen Theologie und Psychoanalyse
empfunden wird. M-P. weist demgegenüber mit Recht nach,
daß Freuds persönliche Einstellung nicht identisch ist mit
den Erkenntnissen der Psychoanalyse insgesamt und daß
insbesondere deren neuere Weiterbildungen, wie z. B. die
Ich-Psychologie, große Beachtung in der Religionspsychologie
verdienen.

Mit dem Verständnis der Psychoanalyse nun auch als
Hermeneutik der religiösen Symbole werden hier wirklich
neue Akzente gesetzt: „Glaube kann verstanden werden als
ein integraler Bestandeil der sprachlichen Symbolorganisation
, und religiöse Bildungen können analog der Struktur
des Traumes und des neurotischen Symptoms dem szenischen
Verstehen als hermeneutischem Verfahren zugänglich
gemacht werden. .. ., Glaube ist der psychologischen Forschung
,als ein Stück Welt' zugänglich gemacht, ohne daß
damit einer rein reduktionistischen Betrachtungsweise
stattgegeben würde" (119). Der Bedeutung der psychonan-
alytischen Symboltheorie für die Religionspsychologie und
ihrer Entwicklung widmet M-P. breiten Raum; dabei
schließt er sich eng an Arbeiten von Beres und Lorenzer an
sowie auch an Tillich. Jungs Auffassung wird wieder nur
gestreift und mit dem — nicht ganz unberechtigten — Hinweis
versehen, daß bei ihm die Unabhängigkeit des Symbols
vom einzelnen Subjekt zu sehr dominiere. Dagegen sieht die
Psychonanlyse die Symbolbildung vornehmlich als Ich-Leistung
an. Dieser Gesichtspunkt findet im 10. Abschnitt Anwendung
auf die Ontogenese der Religion in der Kindheit
(vgl. Erikson!). Wir können die Richtung der vielen Erwägungen
wieder nur mit einem typischen Zitat andeuten: „In
diesem Sinne ist ,Gott' wie jedes religiöse Symbol eine psychische
Strukturbildung, ..., die sich in einem komplizierten
psychischen Prozeß aus dem Material früherer zwischenmenschlicher
Beziehungen, aus deren realen und phantasierten
Anteilen, bildet. ... Als konstitutiv für den religiösen
Glauben erweist sich immer wieder die anthropologisch
wichtige Tatsache, daß sich der Mensch ein nicht präsentes
Objekt vorstellen und wissen kann, daß Symbol und
Objekt nicht identisch sind" (152). Ob der symbolischen Repräsentanz
Gottes auch eine Wirklichkeit entspricht, „be-