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Ausgabe:

1977

Spalte:

688-689

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Titel/Untertitel:

Zur Frage des Schwangerschaftsabbruches 1977

Rezensent:

Winter, Friedrich

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687

Theologische Literaturzeitung 102. Jahrgang 1977 Nr. 9

688

und G. im Interesse größerer Konkretion ihrer Theologie
geübt haben, soziologisch vertieft würde, könnten die
grundlegenden Intentionen der dialektischen Theologie
realisiert werden (288).

Soweit die zentrale These Lessings zur „soziologischen
Ortsbestimmung" (20) von B.s und G.s Theologie. Wie diese
seit den dialektischen Anfängen konstante Struktur jeweils
gebraucht und gefüllt wird, ist Gegenstand weitausholender
Analysen, die hier nicht wiedergegeben werden können.
Besonderes Gewicht haben die Interpretation von G.s Säkularisierungsthese
und der Bezug, den Lessing zwischen
B.s Verknüpfung von Schöpfung und Bund (als der Grundlage
des Analogieprinzips) und dem Verhältnis von Privatheit
und Öffentlichkeit herstellt. Da leuchtet der Zusammenhang
von theologischer und gesellschaftlicher Reflexion
unmittelbar ein, auch wenn man fragen wird, ob er auf die
bürgerliche Gesellschaft beschränkt ist.

Lessings Buch ist ein interessanter und in vielen auch überzeugender
Versuch, mittels soziologischer Analyse die Gesamterscheinung
der dialektischen Theologie genauer zu
umreißen. Dieser Versuch einer historischen Relativierung
war in einer Situation nötig geworden, wo viele in der Rede
vom Worte Gottes, wie sie die dialektische Theologie geübt
hat, nur noch einen autoritären Gestus zu sehen vermögen
und wo sich die Theologie überhaupt anschickt, ihre soziale
Position kritisch zu reflektieren. In manchem berührt sich
die Arbeit mit den Untersuchungen von Y. Spiegel zu
Schleiermachers Theologie und regt zu Vergleichen an4.

Lessing hat es allerdings dem Leser sehr schwer gemacht,
seine Absichten zu erkennen und seine Argumentation
nachzuvollziehen. Das Buch liest sich vor allem am Anfang
außerordentlich schwer, weil die leitenden Kategorien nur
mit einem Minimum an Erläuterung eingeführt werden5.
Wer sich nicht die Mühe macht, die einschlägigen Titel von
Weber und Habermas dazu zu studieren, weiß oft kaum,
was gemeint ist. Man muß nicht nur — wie recht und billig —
mit dem Autor, sondern oft genug auch für ihn und an seiner
Stelle denken. Interesse und Überzeugungskraft gewinnen
seine Argumente eigentlich erst, wenn man die Erwägungen
von Weber und Habermas voll mitsprechen läßt, die
Lessing mehr assoziiert als wirklich auf seinen Gegenstand
zuspitzt und anwendet. Lessing will auf eine Strukturanalyse
hinaus und glaubt dazu peinlich alles eliminieren
zu müssen, was er (in positivistischer Terminologie und
Sichtweise) „normativ" orientierte Soziologie nennt. Selbst
wenn man ihm das zugesteht, ist nicht einzusehen, warum
er den Leser nicht darüber aufklärt, worin er eigentlich die
vielgenannte „Krise der Privatheit" näherhin sieht. Was
Weber und Habermas dazu ausführen, ist ja nicht ohne weiteres
dasselbe. Durch solche Selbstbegrenzung wird die
Uberzeugungskraft und Tragweite seiner These bedenklich
ausgehöhlt. Daß B. und G. in der bürgerlichen Gesellschaft
stehen und sich auf diese eingestellt haben, war von vornherein
als Ergebnis zu erwarten; daß sie andererseits keine
explizit soziologisch fundierte Theorie der Gesellschaft vorgetragen
haben bzw. vortragen wollten, ist bekannt. So
kommt alles auf die konkreten Modalitäten an. Hier wäre
die Analyse der soziologischen Relevanz theologischer Denkfiguren
weiter zu konkretisieren gewesen, wenn Lessing
seine Ergebnisse gegenläufig mit den expliziten politischen
und gesellschaftlichen Stellungnahmen B.s und G.s konfrontiert
hätte. Beide Theologen haben die Krise der liberalbürgerlichen
Gesellschaft doch so tief gesehen, daß sie auch
ins Soziale hineinreichende Alternativen in ihr Denken einbezogen
haben. Es ist zu bestreiten, daß die Frage nach gesellschaftlichen
Implikationen „keinen unmittelbaren Anhalt
an ihrer Theologie" hat (287). Es gibt das Bewußtsein
sozialer Konditionierung schließlich auch ohne direkte soziologische
Theoriebildung. Beide kannten die Feuerbach-
Marxsche Religionskritik zu gut, als daß sie an dieser Stelle
keine Probleme gesehen haben sollten. So möchte ich auch
bestreiten, daß man wie Lessing trotz mancher Einschränkungen
vorher am Ende so umstandslos von einer „theologischen
Rekonstruktion der liberalen Gesellschaftsverfassung
" in B.s und G.s Spätwerk sprechen kann. Bei B. hat
Lessing offenbar die eschatologische Pointe des Analogiedenkens
nicht gesehen und dadurch den dynamisch-kritischen
Sinn des Analogiebegriffes verfehlt. Entsprechend
wird in dem Verhältnis von Schöpfung und Bund der Bezug
auf das Reich Gottes nicht zur Geltung gebracht (vgl. KD
IV/2, S. 863)°. Hätte Lessing das beachtet, wäre der Vorwurf,
B. habe Kirche und Demokratie idealisiert, so leicht nicht
zu erheben gewesen (278 ff.).

Wie das für G.s mehr protologisch, an der Schöpfung
orientiertes Denken zuletzt ausschaut, wäre noch einmal zu
prüfen.

Berlin Traugott Vogel

1 Grundfragen der christlichen Sozialethik. Auseinandersetzung
mit Paul Althaus (1922), zitiert nach: Anfänge der dialektischen
Theologie, hrsg. v. J. Moltmann, Teil X, ThB 17/1, München 1962,
(152-165) 158.

! G. Sauter, Soziologische oder polltische Barth-Interpretation?,
EvTh 35, 1975, (173-183) 176.

1 Strukturwandel der Öffentlichkeit. Untersuchungen zu einer
Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft, Politica 4, Neuwied -
(West-) Berlin 1962.

' Theologie der bürgerlichen Gesellschaft. Sozialphilosophie und
Glaubenslehre bei Friedrich Schleiermacher, FGLP 10/XXXVII,
München 1968.

5 Das beklagt auch H. Gollwitzer, vgl. ders., Vom Nutzen und
Grenzen soziologischer Theologiebetrachtung. Bemerkungen zu
Eckhard Lessings Barth- und Gogarten-Interpretation, EvTh 33, 1973,
622-628.

« So interpretiert mit Recht H.-G. Geyer, vgl. ders., Einige vorläufige
Erwägungen über Notwendigkeit und Möglichkeit einer politischen
Ethik in der evangelischen Theologie, in: Freispruch und
Freiheit. Theologische Aufsätze für Walter Kreck, hrsg. v. H.-G.
Geyer, München 1973, 101-124.

Ringeling, Hermann, u. Hans Ruh [Hrsg.]: Zur Frage des
Schwangerschaftsabbruches. Theologische und kirchliche
Stellungnahmen. Mit Beiträgen von H. Ringeling, St. H.
Pfürtner, W. Hof mann, G. Barczay, M. Stähli, D. Hoch,
W. Kägi, Lausanner Gruppe „Projekt 4" und Stellungnahmen
zahlreicher Organisationen. Basel: F. Reinhardt
[1974]. 263 S. 8°. DM 16,80.

Es geht um eine Veröffentlichung aus Anlaß einer Diskussion
um den Schwangerschaftsabbruch in der Schweiz. Dieser
Begriff wird anstelle von „Schwangerschaftsunterbrechung
" richtiger verwendet. Evangelische und römisch-katholische
Autoren (I. Ethisch-grundsätzliche Dokumente,
S. 9—148) und Gremien (II. Stellungnahmen von Oragnisa-
tionen, S. 149—262) nehmen zum Problem vielschichtig Stellung
. Sie versuchen, auf drei Revisionsvarianten des Schweizer
Strafrechts, die zur öffentlichen Diskussion gestellt
worden waren, zu antworten. 1973 hatte eine Expertenkommission
diese drei Möglichkeiten herausgebracht: „1. Die
Drei-Indikationen-Lösung, das heißt die medizinische, die
juristische' (Vergewaltigung, Verkehr vor dem 16. Lebensjahr
usw.) und die eugenische Indikation ... 2. Die Vier-Indikationen
-Lösung, das heißt zusätzlich zu den genannten
eine soziale Indikation ... 3. Die Fristenlösung, das heißt
Straffreiheit bei einem Schwangerschaftsabbruch, der innerhalb
der ersten 12 Wochen . .. ausgeführt wird" (S. 28 f.).

Ein vorzüglicher Überblick von H. Ringeling über die Diskussion
vorwiegend in der BRD, in österreicht und der
Schweiz hält sich, was die Wertung betrifft, im großen ganzen
im Rahmen der Äußerungen von K. Barth zur Sache
(KD III, 4, 1951): Fragen um den Schwangerschaftsabbruch
(S. 11—41). Es ist deutlich, wie sich die evangelischen Ethiker
überwiegend für die erste oder zweite Lösung aussprechen,
während sich nur eine Minderheit für die Fristenlösung einsetzt
. Gyula Barczay kommt besonders zu Wort: Für die Fristenlösung
(S. 91—105). Er erkennt das Recht auf das Leben
von Ungeborenen an, meint aber darüber hinaus, daß „vom
christlichen Glauben her in der Konfliktsituation ... zuerst
immer das Kriterium des leiblich-sozialen-seelisch-geistigen
Wohls der potentiellen Mutter bedacht werden" müsse (S.
100). Sie allein könne es entscheiden, ob sie dem werdenden