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Ausgabe:

1977

Spalte:

684-688

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Lessing, Eckhard

Titel/Untertitel:

Das Problem der Gesellschaft in der Theologie Karl Barths und Friedrich Gogartens 1977

Rezensent:

Vogel, Traugott

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683

Theologische Literaturzeitung 102. Jahrgang 1977 Nr. 9

684

Luzern stattfand. Dem evangelischen Beobachter fällt auf,
daß diese katholischen Voten vom Mut zur Interpretation
christologischer Formeln bestimmt sind, während protestantische
Theologie vielleicht eher solche Formeln entweder mit
orthodoxen Haltungen übernimmt oder aber sie kritisch
eliminiert bzw. stillschweigend fallenläßt.

Der Herausgeber, Leo Scheffczyk, betont u. a. (7 ff.): Der
Duktus christologischer Debatten orientiere sich heute an
der Frage nach dem „wie" der Gott-Mensch-Einheit in
Christus; das „daß" stehe außer Diskussion. Weiter sei das
geschichtliche Wirklichkeitsverständnis fundamental und
für heutiges Argumentieren unaufgebbar. Dabei werde ein
modernes Geschichtsverständnis entwickelt, das offen sei
für „das Unableitbare, Überraschende und Einmalige" (12).
Schließlich betont Scheffczyk einen Konsens über die Plura-
lität neutestamentlicher Christologien und eine in manchem
etwas variierte Zustimmung dazu, daß Fragestellungen im
Sinne einer „Christologie von unten" sachgemäß seien und
u. a. Impulse zu einer aktuellen, nichttheologischen Christusaneignung
geben.

Alois Halder, Augsburg, stellt mit dem Thema „Wirklichkeit
als Geschichte" (15 ff.) philosophische Fragen zum Vorverständnis
der Christusvermittlung. Er interpretiert Geschichte
vor allem von Defizienzerfahrungen her (Verlust
von Natur, Geschichte, Gott usw.), was mir angesichts der
Möglichkeit, Geschichte und menschliches Hoffnungspotential
als konvergierend anzusehen, einseitig scheint. Dagegen
ist sein Versuch, „nicht-metaphysisch Geschichte zu denken
" (29 ff.) beachtlich. Geschichte entstünde im „Zwischen"
von Partnern, wenn dieses „Zwischen" Ereignis wird; Geschichte
hat so kein Subjekt, sondern wird von Subjekten
gerade auch im überraschend Neuen hergestellt, und darin
ist die Geschichte Freiheitsgeschehen.

Heinrich Fries, München, skizziert „Zeitgenössische
Grundtypen nichtkirchlicher Jesusdeutungen" (36 ff.). Er
berücksichtigt Vorstellungen der Jesus-People-Bewegung,
journalistische Deutungen (R. Augstein und J. Lehmann),
literarische Deutungen des zeitgenössischen Romans, neuartige
Verfremdungsmöglichkeiten im Sinne des Verfremdungseffekts
von Brecht, marxistische Aussagen und schließt
mit dem Thema „Jesus im zeitgenössischen, jüdischen Denken
" (64 ff.).

Franz Mussner, Regensburg, rekonstruiert die neutesta-
mentliche Sohneschristologie (97 ff.) und vertritt die These:

.....die Sohneshomologese hält die verschiedenen christolo-

gischen Entwürfe des NT zusammen; sie alle konvergieren
in der Sohneschristologie" (107). Vorstufe der Sohneschristologie
ist nach Mussner die Prophetenchristologie.

Mussner formuliert auch beachtliche Überlegungen zu
einer „kommunikationstheoretischen Analyse" (88). Auszugehen
ist dafür vom vorösterlichen „Sehakt" der Jünger,
der Jüngerfragen entstehen läßt, die erst mit Ostern eine
Antwort finden. Explizite Christologie ist dann die daraus
resultierende „Versprachlichung Jesu" mit einem Pluralismus
von Sprachmodellen (87 f.). Mussner wendet für die
vorösterlichen Jesuserfahrungen der Jünger den Begriff des
Sprachtheoretikers J. T. Ramsey „disclosure" (Erschließung)
an; solche Erfahrungen lösen neue Erkenntnisse aus (vgl.
Aha-Erlebnisse), die dann reflektiert und zur Sprache gebracht
werden (100).

Peter Hünermann, Münster, behandelt das Thema „Gottes
Sohn in der Zeit" (114 ff.). Wichtig ist sein Interpretationsversuch
zum Problem der Perichorese; es geht hier um
die Union des Göttlichen und Menschlichen im Prozeß
(120 ff.). Vorausgesetzt ist dabei ein Vorverständnis von der
Offenheit der menschlichen Natur in ihren Vollzügen (Opera
tionalisierung des Begriffs der „Natur") und von der
Offenheit des Selbstseins auf ein Du hin. Offenes Menschsein
konvergiert dann mit der göttlichen „Hingabebewegung
" (125 ff.).

Walter Kaspar, Tübingen, geht von der Fragestellung
„Christologie von unten?" aus (141 ff.). Er setzt mit der
Bemerkung ein, der heutige ekklesiologische Streit um eine

mehr offene oder geschlossene Kirche beruhe auf unterschiedlichen
Christologien. Er diskutiert dann protestantische
und katholische Entwürfe zur Christologie, wobei er
z. B. für Rahner die Gefahr des Umschlagens von Christologie
in Anthropologie sieht (159). Nach Kaspar müßte das der
heutigen Christologie entsprechende Wirklichkeitsverständ-
nist sowohl das Substanzdenken des Aristoteles wie auch
das Schema von Herrschaft und Knechtschaft im Emanzipationsdenken
relativieren; nach Kaspar wäre die personale
Relation zwischen Gott-Vater und Sohn das Grundmodell
für das Verständnis von Wirklichkeit (169).

Der Band schließt mit einem Gespräch zwischen Kaspar
und Küng. Hier besteht zunächst Einigkeit, daß es heute
weder um eine untheologische Jesulogie noch eine ungeschichtliche
Christologie gehen könne (161). Keine Einigkeit
besteht in der Bestimmung des Stellenwertes der
„Kirchlichkeit der Theologie" (163), ebenso in der Frage
nach den Möglichkeiten ontologischer Aussagen. Für Küng
ist der „Glaube der Kirche" nur sekundäres Kriterium der
Christologie; primäres Kriterium ist die Situation der ersten
Jünger Jesu, in die sich der Glaubende stellt. Für Küng
ist das Gott-Mensch-Verhältnis in Jesus — jenseits aller
Ontologie — Offenbarungseinheit und Aktionseinheit (170 ff.).
Kaspar bestreitet die Möglichkeit der Gleichzeitigwerdung
des Menschen von heute mit den Jesusjüngern; für ihn ist
Glaube Begegnung mit dem Erhöhten, den das Zeugnis der
Kirche vermittelt. Eine legitime Ontologie kann nach Kaspar
auch heute Doketismus und Gnosis abwehren (179 ff.).

Abschließend eine kritische Bemerkung: der vorösterliche
Jesus spielt in den christologischen Debatten des Bandes
eine bestimmte Rolle auch für systematische Aussagen.
Aber der kritische Sinn des Problems für die systematische
Christologie ist nicht reflektiert. Ich meine: vorösterliche
Christologie hat die Funktion, in der Dialektik einer „Christologie
von oben" und einer „Christologie von unten" die
Entmenschlichung der Christologie zu verhindern — eine
Entmenschlichung, die ja doch wohl kirchengeschichtlich
eine betrübliche Rolle spielte (vgl. dazu meinen Aufsatz in
der ThLZ 101, 1976 Sp. 9: Systematische Christologie angesichts
einiger Ergebnisse der neutestamentlichen Wissenschaft
). 1

Wien Kurt Lüthi

ETHIK

Lessing, Eckhard: Das Problem der Gesellschaft In der
Theologie Karl Barths und Friedrich Gogartens. Gütersloh
: Gütersloher Verlagshaus Gerd Mohn [1972]. 303 S.
gr. 8° = Studien zur evangelischen Ethik, hrsg. v. T. Rend-
torff, H. E. Tödt, H.-D. Wendland, 10. DM 52,-.

Barth hat einmal notiert: „ ... die Quelle aller Willkürlichkeiten
und Widersprüche des Denkens sind die Punkte,
wo man es nicht mehr wagt, weiter zu fragen"1. Der Vf. hat
es sich in seiner Mainzer Habilitationsschrift zum Ziel gesetzt
, Probleme in der Theologie Barths (hinfort B.) und Go-
gartens (G.) aufzudecken, wo diese nicht nur subjektiv das
Weiterfragen abgebrochen haben, sondern objektiv nichts
weiterzufragen fanden; ja wo sie nach seiner Meinung auch
gar nicht weiterfragen konnten, ohne ihren theologischen
Ansatz aufzugeben. So läuft die Untersuchung mehr noch
als auf die Konstatierung gewisser Widersprüche (198 u. ö.)
auf eine Bestimmung der Grenze der dialektischen Theologie
überhaupt und auf eine Würdigung innerhalb ihrer
Grenzen hinaus (288).

Der Titel weckt zunächst die Erwartung, der Vf. wolle
„B.s und G.s Aussagen zu gesellschaftlichen Fragen" analysieren
(11). Er erklärt das aber für „wenig ergiebig", weil
viel mehr „die Distanz des Christen gegenüber der unmittelbaren
gesellschaftlichen Situation" als „das Phänomen der
Gesellschaft als solches" zum Thema gemacht werde. Er will