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Ausgabe:

1977

Spalte:

680-681

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Faupel, Bruno

Titel/Untertitel:

Die Religionsphilosophie George Tyrrells 1977

Rezensent:

Gerber, Uwe

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679

Theologische Literaturzeitung 102. Jahrgang 1977 Nr !>

680

Mannigfaltigkeit der religiösen Erfahrung, wie sie im Jahre
1902 William James (deutsch von Georg Wobbermni 1907)
dargestellt hat, wird in der Gegenwart weit übertroffen.
Das zeigen die religiösen Zustände in den USA, die mit
Quäkern, Shäkern und Puritanern begannen und nun in
ihrer unübersehbaren Verschiedenheit, die alle Grenzen
der bekannten Religionen überschreitet und mit vielen anderen
hinduistische Gurus, tibetanische Lamas, Meister des
Zen (japanisch buddhistische Lehre der Selbstversenkung
mit Einfluß auf die westliche Psychotherapie) umfaßt. Dazu
kommen Okkultismus, Magie, Astrologie, Dämonenkult und
vieles andere in unübersehbar mannigfaltigen Prägungen.
Zur Begegnung mit dem Heiligen sollen auch Drogen, elektronische
Apparate und magische Formeln für Zauberriten
führen können. In drei Abschnitten wird die Fülle der Erscheinungen
geordnet: 1. orientalischer, besonders indischer
Spiritualismus und transzendentale Meditation und Yoga-
Technik sowie der Zen Buddhismus, 2. Erneuerung mannigfacher
Jesusbewegungen bis zu grotesken Mißbildungen. Es
wirken auch religiöse oder pseudoreligiöse Erscheinungen:
Bekehrungen außerhalb der Kirchen und der Gesellschaft,
eigene Gemeinschaften mit Bibelstudium, missionarischer
Fanatismus, doktrinärer, auch fundamentalistischer Heilsglaube
, Auflehnung gegen die Kultur. Die psychologische
Deutung wird versucht vor allem im Sinne des Widerspruchs
und Aufruhrs gegen die Vatergeneration, 3. Religiöse
Deutung wissenschaftlich technischer Erfolge und
ihre Anwendung, um zum Heiligen zu führen. Die Methoden
sind mannigfaltig, ebenso die Ergebnisse für religiöse
Erfahrungen im Sinne wenigstens einer religiösen Morphologie
. — Weitere Untersuchungen amerikanischer Forscher
richten sich auf die Wandlungen des Bewußtseins die bis in
die Sphäre des Heiligen und seine äußere Gestalt führen.
Der säkulare Mensch der Gegenwart in Amerika ist zersplittert
und gelangt nicht mehr zu den schöpferischen
Quellen der eigenen Persönlichkeit. Nur mit Hilfe der Drogen
oder unter dem Einfluß orientalischer Geistigkeit
kommt er zur Erforschung tieferer Seelenschichten und zu
einer neuen Geistigkeit. Wir müssen uns entwirren und
eine Form des menschlichen Gewissens entwickeln, die von
einer Welt zur andern gehen kann. Zum ersten Mal in der
Geschichte könnte jeder das geistige Erbe der ganzen
Menschheit ernten: Orient und Occident würden den Horizont
des religiösen Bewußtseins gewaltig vergrößern. Könnte
nicht ein vielseitig religiöser Mensch auftreten, der weckte
und einte die religiösen Kräfte von Ost und West mit ihren
großen geistigen Traditionen? Oder gibt es einen Bruch in
der Geistigkeit des Menschen, wo die Vielfalt eine Zerstreuung
aller religiösen Kräfte bedeutete, die zugleich alle zerstörenden
Kräfte in der Gesellschaft losmachte? Gewisse
Zeichen weisen auf eine echte Umbildung des religiösen
Gewissens. Jedenfalls würde William James als Amerikaner
sich am Pluralismus freuen. Aber er ist kein Prophet,
und als Philosoph müßte er, wie wir alle, für die Antwort
auf die Zukunft warten.

Gregor Malantschuk, Universität Kopenhagen: Das Verständnis
des ,Heiligen' bei Sören Kierkegaard (übersetzt aus
dem Dänischen ins Italienische von Salvatore Spera): Der
Begriff des Heiligen fügt sich in die Darstellung der geistigen
Entwicklung des Menschen wirksam ein, ästhetisch,
ethisch und religiös: 1. Das Leben ist bestimmt durch eine
ewige und heilige Macht und 2. der Mensch ist eine Verbindung
aus Zeitlichem und Ewigem; damit ist Ziel und Aufgabe
für ihn bestimmt. Der Mensch sucht das Unendliche,
er wendet sich aber von dem Gedachten ab und den wirklichen
Aufgaben des Lebens zu. Jeder Mensch bekommt
seine Aufgabe von Gott. Das Gute wollen, heißt heilig sein.
So kommt es zu immer strengerer Forderung, die christliche
Sittlichkeit zu verwirklichen. Gott gehorchen bedeutet
gegen die Sünde kämpfen. Wer dem Weg des Glaubens
folgt, merkt immer mehr den Abstand von Gott. Gott ist
heilig, der Mensch ist Sünder. Auch wenn man meint, die
sündige Befleckung mit der Welt vermieden zu haben, stellt

man sich demütig dem Sünder gleich. Gott offenbart sich in
Christus. In Christus steht der Mensch in Verbindung mit
dem Ewigen und Heiligen. Das Ewige und das Heilige bilden
die Persönlichkeit. In seinem Lebenskampf um das Heilige
wendet Kierkegaard sich gegen die Kirche und kirchliche
Mißbräuche namentlich bei den kirchlichen Handlungen
und den Sakramenten. Er wendet sich damit gegen das
Sakrale, das nur im menschlichen Brauch oder Mißbrauch
Geheiligte. Er bestätigt damit, welchen hohen Wert Kierkegaard
dem Heiligen gab und welche entscheidende Bedeutung
im Leben des Christen.

Die Aufsätze der vorliegenden Sammlung sind teils in
italienischer, teils in französischer Sprache abgefaßt. Sie zeigen
von den Griechen und der Bibel an geistige Begründer
und Träger unserer Kultur mit dem Blick auf das Thema
des Kongresses in Rom und die vorliegende Aufsatzsammlung
. Sie bieten einen Einblick in die Vielseitigkeit der geistesgeschichtlich
gewordenen Anschauungen, ihre Entfaltung
in unserer Gegenwart und Ansätze zu der möglichen,
ja notwendigen Weiterbildung und Klärung der lebenswichtigen
Frage nach dem Heiligen.

Fernwald 2-Annerod Georg Bertram

Faupel, Bruno: Die Religionsphilosophie George Tyrrells.

Freiburg-Basel-Wien: Herder [1976]. 400 S. 8° = Freiburger
theologische Studien, hrsg. v. J. Vincke f, A. Deissler,
H. Riedlinger, 29. Kart. DM 46,-.

Der katholische Modernismus um die Jahrhundertwende
war der Versuch, die Ergebnisse der historischen Kritik auf
biblischem, dogmengeschichtlichem und religionsgeschichtlichem
Gebiet mit den Gegebenheiten des christlichen Glaubens
zu vermitteln. Auf protestantischer Seite versöhnten
die Liberalen das neuzeitliche Christentum im Medium der
Moralität mit den Wissenschaften. Die Konfessionalisten
enthoben das Christentum solchen profanen Zugriffen. Die
Eschatologen um Weiß und Schweitzer versuchten einen
Kompromiß, der einerseits die Fremdartigkeit des damaligen
Apokalyptikers Jesus betonte (319 ff.), andererseits den
Glauben in der „Ehrfurcht vor dem Leben" wirksam sah.
Im katholischen Bereich wollten nach dem I. Vatikanischen
Konzil von 1870 die Reformkatholiken und Modernisten wie
Schell, Schnitzer, Koch, Rosmini-Serbati, Loisy und Tyrrell
eine ähnliche Synthese von kirchlich normiertem Glauben
und moderner Lebenswelt herstellen.

George Tyrrell (1861 in Dublin geboren, 1879 konvertiert
wie Newman und Manning, 1891 Priesterweihe als Jesuit,
1905 Bruch mit dem Orden, 1907 Exkommunikation, 1909
gestorben), der „Apostel des Modernismus", hält die im Gewissen
aufleuchtende Offenbarung der „anderen Welt" und
unsere menschlichen Symbolisierungen dieser Erfahrung
streng auseinander. Gegenüber dem moralisierenden protestantischen
Liberalismus bezieht er die religiöse Erfahrung
auf die transzendente Welt. Andererseits kritisiert er die
katholische Identifizierung von Offenbarung und kirchlichem
Dogma. In einem nächsten Schritt unterscheidet er
dann die Theologie als intellektuelle Konstruktion der „anderen
Welt" aus wissenschaftlichem Interesse heraus und
die Glaubensartikel, sofern sie das religiöse Gefühl als objektive
Seite der Offenbarung wiedergeben, zum Zwecke
weiterer religiöser Praxis. Damit ist das hermeneutische
Problem gestellt, nach welchem Kriterium diese drei Ebenen
vermittelt sind (118 ff.)?

Tyrrell zeigt dieses auf korrelativen Wegen: über den am
Gewissen ausgewiesenen Gottes-Begriff und über das Phänomen
der Religion. Gott offenbart sich im Gewissen des
Menschen als dessen dynamische Macht, als Creator Spiritus
(258 ff., 371 ff.). Zugleich werden Gott, Offenbarung, Jesus
Christus, Kirche usw. im Medium der religiösen Erfahrung
des Menschen expliziert, so daß schließlich der Katholizismus
im Sinne der klassischen demonstratio religiosa et ca-