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Ausgabe:

1977

Spalte:

674-675

Kategorie:

Christliche Kunst und Literatur

Autor/Hrsg.:

Ohly, Friedrich

Titel/Untertitel:

Der Verfluchte und der Erwählte 1977

Rezensent:

Holtz, Gottfried

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Theologische Literaturzeitung 102. Jahrgang 1977 Nr. 9

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voll zu eigen. So eindeutig seine Parteinahme für eine sozialistische
Gesellschaft war, so klar distanzierte er sich von
der bestehenden Wirtschaftsordnung und erkannte den Zusammenhang
von Krieg, Faschismus und Kapitalismus.
Balzer versteht es gut, Eckert als den redegewandten und
streitbaren Funktionär der SPD, der auf Hunderten von
Arbeiterversammlungen das Wort ergriff, ja als wahren
„Volkstribunen" anschaulich werden zu lassen. Richtig sieht
er seine Entwicklung auf dem Hintergrund seiner Kindheitseindrücke
an der Seite seines Vaters, eines „Armenpflegers"
und Volksschullehrers in einer Mannheimer Arbeitervorstadt
, und auf dem Hintergrund seiner Erlebnisse im
1. Weltkrieg, in den er noch als Kriegsfreiwilliger gezogen
war. Eckert erstrebte jahrelang eine um die SPD als konsequente
Arbeiterpartei gesammelte geschlossene Linke. Balzer
zeigt auf, wie er immer mehr in Opposition zur Beschwichtigungspolitik
der sozialdemokratischen Parteiführung
geriet und sich zum wichtigsten Repräsentanten der
linken Opposition innerhalb der SPD in Baden entwickelte.
Als Ediert Anfang Oktober 1931 mit anderen Linken wegen
seines Protestes gegen die Tolerierung der Notverordnungspolitik
Brünings durch die SPD-Führung aus der Partei ausgeschlossen
wurde, gesellte er sich nicht dem Kreis um Max
Seydewitz zu, der die SAP gründete, sondern trat noch am
Tage seines Ausschlusses aus der SPD nach Konsultation
mit dem Zentralkomitee der KPD in diese ein. Nachdem er
bereits seit Jahren durch die badische Kirchenleitung Verweisen
, Disziplinarverfahren und Bestrafungen ausgesetzt
war, wurde er nun sofort aus seinem Pfarramt entfernt, und
der Bund, in seiner großen Mehrheit auf die SPD orientiert,
setzte ihn als Vorsitzenden ab. Darauf trat Eckert sowohl
aus dem Bund als auch aus der Kirche aus.

Balzer sieht in diesem Weg eine folgerichtige Entwicklung
von der Religion zum wissenschaftlichen Sozialismus. Hier
ist der Theologe geneigt, zu widersprechen. Eckert trat nicht
in die KPD ein, weil er Atheist geworden wäre, sondern weil
er in der KPD die einzige große politische Kraft sah, die
entschlossen war, sich dem drohenden Faschismus kompromißlos
zu widersetzen. Freilich hat Balzer darin recht, daß
der Anschluß an die KPD nicht ein spontaner, emotional bestimmter
Entschluß war, sondern durch eine gründliche gesellschaftswissenschaftliche
Analyse seit langem vorbereitet
war. Aber die von Eckert seinerzeit abgegebene Erklärung,
seine innere Einstellung zum Glauben habe sich nicht geändert
, verdient Beachtung. Es ist Balzers Recht, die theologischen
Elemente der Argumentation Eckerts auszuklammern
, aber nur wenn diese genau geprüft worden sind, kann
er seine schwerwiegende und nur auf den ersten Blick überzeugende
Behauptung aufrechterhalten. Alles deutet nämlich
darauf hin, daß Eckert sich stets als Christ verstand,
auch wenn er vier Jahrzehnte lang Funktionär einer kommunistischen
Partei war. Die bestehende Volkskirche in
ihrer Klassenbindung war für ihn allerdings seit dieser Zeit
nie mehr eine Artikulationsmöglichkeit, aber sein Protest
gegen diese entsprang offenbar nicht nur politischen, sondern
auch tiefen religiösen Motiven. Eckert machte sich das
revolutionäre Programm der Kommunisten zu eigen und
sah fortan in dessen Verwirklichung seine Lebensaufgabe.
Doch blieb der Sozialismus für ihn offenbar das „Vorletzte"
oder, wie er es einige Jahre zuvor formuliert hatte, ein kleiner
, aber unumgänglicher Schritt auf dem Weg zum Reiche
Gottes. Nur so erklärt sich m. E. ausreichend sein Versuch
nach dem 2. Weltkrieg, in der französischen Besatzungszone
eine linke Sammlungsbewegung ins Leben zu rufen, in der
auch Christen ihren Platz haben sollten, und seine rege Vortragstätigkeit
zum Thema „Christentum und Sozialismus".
Ich selbst hatte die Freude, bei einer Gedächtnisveranstaltung
für Jan Hus in Konstanz 1965 Erwin Eckert und seine
Frau persönlich kennenzulernen; das Gespräch, das wir bei
dieser Gelegenheit miteinander führen konnten, zeigte, daß
Eckert das Bestreben vieler Christen in der DDR, ein positives
Verhältnis zu ihrem Staat zu gewinnen, mit wachem
Interesse verfolgte. Mit Erstaunen stellte ich damals fest,

daß Eckert auch meine diesen Problemkreis betreffenden
Publikationen genau kannte. Es war Eckerts Tragik, daß die
deutsche evangelische Kirche vor einem halben Jahrhundert
für ihn, der zweifellos ein Außenseiter war und eine extreme
Position vertrat, deren theologische Fundierung der Kritik
bedarf, keinen Raum hatte. Doch gerade im Blick auf ihn,
diesen so lauteren und integren Menschen, kommt mir Karl
Rahners Wort in den Sinn, daß Gott viele habe, die die
Kirche nicht hat.
Rostock Gert Wendelborn

LITERATURGESCHICHTE
UND CHRISTLICHE DICHTUNG

Ohly, Friedrich: Der Verfluchte und der Erwählte. Vom Leben
mit der Schuld. Opladen: Westdeutscher Verlag [1976].
143 S., 12 Taf. gr. 8° = Rheinisch-Westfälische Akademie
der Wissenschaften. Geisteswissenschaften, Vorträge
G 207. DM 42,-.

Es geht um die Typen des Verfluchten und Erwählten in
der Dichtung seit dem 12. Jahrhundert, wie sie verkörpert
sind in dem legendären Gregorius und dem apokryphischen
Judas. In beiden dichterischen Gattungen ist das zentrale
Problem die unbewußte Schuld, zugespitzt auf das klassische
Oedipusproblem. In der mittelalterlichen Judasdichtung,
welche die apokryphischen Judasberichte weiter ausspinnt
(vgl. Hennecke-Schneemelcher, Neutestamentliche Apokryphen
, Ausg. EVA Berlin, I, 228; II, 32 f.), erschlägt der als
Kind ausgesetzte Judas seinen Vater und heiratet die Mutter
, geht nach dem Offenbarwerden des Inzestes als Büßender
unter die Jünger Jesu, wird dort zum Dieb und Verräter
und erhängt sich in Verzweiflung — vor dem Tod
Jesu. Desperatio geschieht nach dem Totalverlust des Vertrauens
auf Gottes Gnade und ist unvergebbare Sünde. Das
theologisch relevante Thema ist in der Dichtung vor und
nach dem 12. Jahrhundert vielfach variiert. — Die unbewußte
Schuld des Gregorius ist schon seine Erzeugung Im
Inzest. Auch er wird von den Eltern ausgesetzt, dann nach
seiner Auffindung in einem Kloster erzogen, geht in die
Welt, heiratet die Mutter (culpa culpam cumulat), büßt
17 Jahre lang auf einem Felsen im Meer, kehrt als Begnadeter
zur Mutter zurück, und nun leben beide als erwählte
Kinder Gottes. Die zweite Möglichkeit, mit der Schuld zu
leben, ist im Vertrauen auf Gottes Gnade nach dem Tod
Christi gegeben, und auf dem Heilsweg kann Gregorius
zum Heiligen werden. Ohly folgt der Dichtung Hartmanns
von Aue, geht aber auf die legendarischen und poetischen
Wucherungen neben ihr gebührend ein. „Nicht wie man In
die Schuld kommt, ist die eigentliche Frage, sondern wie
man von ihr loskommt" (S. 12). Der kürzere Weg der Gnade
", die priesterliche Absolution, wird vom Dichter nicht
gewählt, sondern der lange Weg der frei bewußt durchlebten
Sühne. Gott hat Zeit „zum Erwählen dessen, der nicht
auferlegte, sondern frei gewählte Buße tut" (S. 17). Der un-
vergebbar sündigen desperatio tritt das Vertrauen auf Gottes
Gnade auf dem Weg des Heils gegenüber.

Ohly vermutet, daß die Judasvita älter ist als die Gre-
goriuslegende, die als Antityp geschaffen sein könne. Wahrscheinlich
hat die Oedipusgeschichte eingewirkt, die im Westen
vor 1150 wieder bekannt geworden ist (s. S. 31 Anm. 73).

Das Thema des verzweifelten Verfluchten und des begnadeten
Erwählten wird von Ohly in markanten Beispielen
literargeschichtlich verfolgt, jeweils unter Darbietung
reichen gelehrten Materials. Schon auf einer der ersten Seiten
wird auf Thomas Mann, „Der Erwählte", eingegangen,
und später wird in einem eigenen Kapitel darauf zurückgegriffen
, unter Einbeziehung des „Doktor Faustus". Daneben
werden viele, auch unbekannte Dichtungen der Judas-
und Gregoriustypen behandelt, auch aus der französischen
und englischen Dichtung. Dem Theologen wird viel theolo-