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Ausgabe:

1977

Spalte:

671-674

Kategorie:

Kirchengeschichte: Neuzeit

Autor/Hrsg.:

Balzer, Friedrich-Martin

Titel/Untertitel:

Klassengegensätze in der Kirche 1977

Rezensent:

Wendelborn, Gert

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Theologische Literaturzeitung 102. Jahrgang 1977 Nr. !)

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des Mittelfeldes (Wittenberger Bund!), gelang dann nicht
mehr; gegen weiterführende Projekte Wurms im Blick auf
eine bekenntniskirchliche Gesamtleitung bestanden bruder-
rätliche Bedenken. Kirchenpolitische Ermüdungserscheinungen
und die zunehmenden luftkriegsbedingten Verkehrsbehinderungen
müssen ebenfalls in Rechnung gestellt
werden.

Es wird aus der Arbeit deutlich, daß das Einigungswerk
auf die Nachkriegsordnung des evangelischen Kirchentums
weniger durch seine bisher erzielten partiellen Ausgleichsergebnisse
und vagen organisatorischen Verbindungen
(Bildung von landeskirchlichen Vertrauensausschüssen etc.)
einwirkte als vielmehr durch eine Verbesserung der Atmosphäre
innerhalb des Bekenntnisbereichs selbst wie auch in
dem integrierbaren Mittelfeld evangelischen Kirchentums;
Kontakte zu den Nationalkirchlern blieben wirkungslos.

Abschließend wird der fragmentarische Charakter des
Einigungswerkes neben äußeren Hindernissen politischer,
kirchenpolitischer und personeller Art auf die „zuweilen
verdeckten kirchlich-theologischen Differenzen" (S. 239) zurückgeführt
, zugleich aber wirkungsgeschichtlich auf seine
„entscheidende Bedeutung" für die „Neuordnung der kirchlichen
Verhältnisse nach dem Krieg" (S. 240) hingewiesen,
wobei die internen Spannungen nicht übersehen, sondern
aspekthaft in dieses Resümee eingetragen werden. Ein Dokumentenanhang
ist beigegeben.

Leipzig Kurt Meier

Balzer, Friedrich-Martin: Klassengegensätze in der Kirche.

Erwin Eckert und der Bund der Religiösen Sozialisten
Deutschlands. Mit einem Vorwort v. W. Abendroth. Köln:
Pahl-Rugenstein Verlag [1973]. 296 S. 8° = Kleine Bibliothek
. Politik, Wissenschaft, Zukunft, 36. Kart. DM 14,80.

Die vorliegende Untersuchung F.-M. Balzers, eines Schülers
des Politologen Wolfgang Abendroth, beschäftigt sich
mit der politischen Aktivität Erwin Eckerts (1893—1972), des
Geschäftsführers des Bundes der Religiösen Sozialisten
Deutschlands 1926—31 und Schriftleiters des von diesem herausgegebenen
Sonntagsblattes des arbeitenden Volkes. Der
Vf. geht dabei so vor, daß er nach einer Einleitung, die seine
Intention präzise umreißt, zunächst den soziologischen Ort
der deutschen protestantischen Amtsträger sowie der Mitglieder
des Bundes analysiert (24—54). Es folgt ein Gesamtaufriß
von Leben und Werk Eckerts bis 1931 (55-101). Darauf
wird die Position des Bundes und Eckerts in den größten
innerpolitischen Auseinandersetzungen des Zeitraums 1925
bis 1931 detailliert aufgewiesen (102—204), wobei nacheinander
die Reichspräsidentenwahl 1925, der Kampf um die entschädigungslose
Fürstenenteignung 1925/26, der Streit um
den Bau des Panzerkreuzers und das Wehrprogramm der
SPD 1928/29 sowie die Stellung zur Sowjetunion 1930/31 behandelt
werden. Als selbständige Abschnitte schließen sich
an der Konflikt um Eckert von November 1929 bis Oktober
1931 (205-259) und der Übertritt Eckerts zur KPD (260 bis
275). Das Buch wird abgerundet durch den dokumentarischen
Anhang und ein Literaturverzeichnis. Ersterer bietet
Kurzbiographien führender Mitglieder des Bundes; die Angaben
zur Person Eckerts sind die bei weitem reichhaltigsten
, wodurch der Leser willkommene Informationen über
den zweiten großen Abschnitt des Lebens Eckerts erhält.
Begrüßenswert sind auch das Verzeichnis aller Ortsgruppen
des Bundes und die Statistik über den Stimmenanteil der
religiösen Sozialisten bei den badischen Landessynodal-
wahlen 1920, 1926 und 1932.

Die Untersuchung ist keine theologische bzw. kirchenhistorische
, sondern eine sozialgeschichtliche; sie vernachlässigt
deshalb bewußt die theologischen Implikationen der
Auseinandersetzung Eckerts mit der offiziellen Kirche und
Gesellschaft, zumal sie — mit Recht — davon ausgeht, daß
dieser Kampf in letzter Instanz ein sozialer war. Balzer
kann zwingend nachweisen, daß die Position der maßgebenden
Kirchenvertreter sich bereits aus ihrer Herkunft
bzw. ihrer soziologischen Bindung ergab. Die Kirchenleitungen
und Synoden waren beherrscht von Christen, die
dem Adel, der Bourgeoisie und dem gehobenen liberalen
Bildungsbürgertum verhaftet waren. Balzer ist darin zuzustimmen
, daß die Frontstellung dieser Kreise gegen den
Bund Teil der allgemeinen Klassenauseinandersetzung war.

Auch die Mitglieder des Bundes werden auf ihre Klassenbindung
hin untersucht, wobei Balzer zu dem Schluß gelangt
, daß der Bund besonders solche Arbeiter für sich zu
gewinnen wußte, die in Industriedörfern, kleinen und mittleren
Städten arbeiteten, Nachkommen von Bauern waren
und großenteils noch auf dem Lande wohnten — dies war
gerade in Süddeutschland, der stärksten Bastion der religiösen
Sozialisten, der Fall —, während er in den Großstädten
mit Ausnahme einiger Vororte und Stadtteile kaum
Resonanz fand. Der Vf. leitet als Marxist daraus die Folgerung
ab, daß der Bund nur solche Arbeiter habe beeinflussen
können, die sich erst im Ubergang zur eigentlich proletarischen
Existenz befanden und deshalb weiterhin noch christlichem
Gedankengut gegenüber aufgeschlossen waren. Der
Bund habe aber notwendig scheitern müssen, weil er die
Solidität der in spezifischer Weise klassenmäßig gebundenen
kirchlichen Leitungskörperschaften unterschätzt und
die Ansprechbarkeit der Arbeiter durch christliche Gruppen
überschätzt habe, sei die Mitgliedschaft der Proletarier doch
trotz ihres Verzichtes auf Kirchenaustritt im allgemeinen
nur noch eine formale gewesen. Damit deckt Balzer eine für
den Christen schmerzliche und auch in der Gegenwart noch
bestehende objektive Schranke christlicher Wirksamkeit
auf. Er zieht daraus für die Person Eckerts jedoch Folgerungen
, die nicht unwidersprochen bleiben sollten.

Doch bevor auf diese Grundproblematik des Buches hingewiesen
wird, sollen zunächst seine vielen unbestreitbaren
Vorzüge genannt werden: Die Stärke dieser im April 1972
vom Fachbereich Gesellschaftswissenschaften der Marburger
Universität als Dissertation angenommenen Arbeit besteht
einmal in der Dichte ihrer Quellengrundlage. Zweifellos
hat Balzer sich hervorragend in die Materie eingearbeitet
und in unermüdlichem Fleiß die größtenteils noch
unerschlossenen Quellen gesammelt, aus denen er, da sie
dem Leser schwer erreichbar sind, mit Recht ausgiebig zitiert
. Er verwertete dabei auch die Privatsammlungen
früherer religiöser Sozialisten wie Eckert, Kappes und
Wünsch, Konsistorialakten der württembergischen und lippischen
Landeskirche und in langjährigen Bemühungen erlangte
mündliche und schriftliche Auskünfte früherer Mitglieder
des Bundes. (Es verdient übrigens Beachtung, daß
der OKR in Karlsruhe und die Evangelische Kirche in Hessen
-Nassau einen Teil der Druckkosten dieser nichttheologischen
Arbeit übernahmen.)

Balzer unterscheidet fundamental zwischen dem konkreten
Klassenkampf vieler Mitglieder des Bundes mit Eckert
an der Spitze und der Tätigkeit des intellektuell-akademischen
Kreises um Tillich, der sich von einer theologischen
Fragestellung her um die theoretische Klärung des Verhältnisses
des christlichen Glaubens zum Sozialismus bemühte
. Er macht zugleich deutlich, daß es auch im Bund
selbst im Zusammenhang mit der dramatischen Zuspitzung
des Kampfes der politischen Parteien in Deutschland am
Ende der 20er Jahre zu einer Polarisierung zwischen zwei
Gruppen kam: die einen wollten in voller Solidarität die
proletarische Linke in ihrem politischen Wirken unterstützen
und die Kirche aus ihrer Bindung an die herrschenden
Schichten befreien, die anderen wollten den Marxismus
durch christliches Gedankengut ergänzen und vertiefen und
ihn auf diese Weise für Christen annehmbarer machen.
Balzer ist darin zuzustimmen, daß Eckert der entschlossenste
und folgerichtigste Vertreter der ersten Gruppe war. Er
verzichtete prinzipiell auf eine Bestreitung des weltanschaulichen
Atheismus und machte sich in einem politischen Reifungsprozeß
bei der Lösung der Tagesaufgaben die Gesellschaftsanalyse
und Klassenkampftheorie des Marxismus