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Ausgabe:

1977

Spalte:

618-620

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Greive, Wolfgang

Titel/Untertitel:

Praxis und Theologie 1977

Rezensent:

Winter, Friedrich

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Theologisohe Literaturzeitir g 102. Jahrgang 1977 Nr. 8

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Nach Prof. Fr.-H. Lepargneur, O. P., Brasilien, der übei
„Krankheit in einer christlichen Anthropologie" (S. 71-80}
schreibt, ist es „ein wesentlicher Gesichtspunkt für eine
christliche Anthropologie der Krankheit", daß der Mensch
„seine Situation transzendieren kann" (S.72). „Leiden,
Krankheit und Tod sind sicherlich nicht die Vorrechte des
Christen; aber neu ist bei Christus und seinen Nachfolgern
der verdienstvolle Wert, den diese Schwachheit erlangt"
(S.73). „In Krankheit lernen wir, den körperlichen Kräften
als das den wesentlichen Teil unserer Persönlichkeit
Bildende zu mißtrauen. Die biologischen Kräfte schaffen
in der Tat ein schönes Tier, aber im Menschen gibt es etwas
anderes, etwas, was nicht irrtümlich für natürliche Kräfte
angesehen werden darf. Wir empfinden eine andere Kraft:
Die Freiheit unserer Persönlichkeit" (S. 74/75). Trotzdem
wehrt sich Lepargneur gegen die weitverbreitete christliche
Auffassung, „daß Krankheit und Schwäche ideale
Faktoren für geistiges Wachstum sind" (S.78). Denn
Krankheit ist sowohl körperlich als auch seelisch „eine
ernste Beschränkung der menschlichen Freiheit" (S.77),
sie ist „ein Übel" (S.78). „Die Zurückweisung von Übel,
Krankheit und Tod ist natürlich und gesund" (S. 78). Aber
„Krankheit ist niemals unabhängig von einer Person, und
daher erhebt sich die Bedeutung von Krankheit aus einer
gewissen Beziehung von Übel zu der Person, die ihr Opfer
ist und die es nötig hat zu reagieren. Für sich betrachtet,
hat Krankheit eine Ursache, eine Ätiologie, aber keine Absicht
, keinen Sinn (meaning)" (S.79). „Christus selbst ist
nicht gekommen, menschliches Leiden zu erklären, sondern
um darin zu verweilen, es zu erfüllen und es dadurch
zu erleichtern, die Notwendigkeit einer Erklärung durch
seine menschlich-göttliche Anwesenheit zu ersetzen. Die
christliche Bedeutung von Krankheit und Leiden ist, uns
nach Christi Leiden zu formen. Dies ist nichts Natürliches,
sondern die Frucht eines Glaubens, welcher mit Paulus erklärt
, daß Gottes Macht in der Schwachheit der menschlichen
Kreaturen wohnt" (S.79).

Raymond J.Nogar, O.P., der bis zu seinem Tode 1968
in Kalifornien lehrte, kehrt in seinem Aufsatz „Der Herr
des Sinnwidrigen. Eine nicht-Teilhardische Ansicht" (S.
81-87) sehr pointiert die Absurdität des Christusglaubens
hervor. „Wie irgendein Mensch in Christus den Herrn der
Weltordnung sehen kann, geht völlig über meine Kräfte.
Er hat sich immer als der Herr des Absurden gezeigt"
(S. 82). Für eine bestimmte psychische Struktur ist sicher
auch eine solche mehr rhetorische Position hilfreich.

Der englische Bibelwissenschaftler Leonhard Johnston
bespricht in seinem Artikel „Der Tod Jesu" (S. 91-101)
sehr klar und profiliert die unterschiedlichen Interpretationen
, die der Tod Jesu im Neuen Testament erfährt und
versucht, das sie Verbindende zu formulieren.

George J. Dyer aus Illinois bietet eine stilistisch sehr gut
aufgemachte Übersicht über „Neue Entwicklungen in der
Theologie des Todes" (S. 103-117), wobei K.Rahner, L. Bo-
fos und R. Troisfontaines im Vordergrund stehen, die dann
in den drei folgenden Aufsätzen noch eine gesonderte Vorstellung
erfahren. Aber man möchte den Aufsatz von Dyer
um seiner Klarheit und seines Informationsreichtums willen
auf keinen Fall missen. Man ist erstaunt, welch neues
Licht in der katholischen Theologie der Gegenwart auf so
alte Fragen wie die der Wiederbringung aller, der Kinder-
Erlösung, des Fegefeuers usw. fällt.

Ausgangspunkt ist für den Religionsphilosophen Ladislaus
Boros, S. J., Innsbruck, in seinem Aufsatz „Tod: eine
theologische Überlegung" (S. 139-155) die These, daß „der
Jod uns dio erste Möglichkeit gibt, eine End-Entscheidung
zu treffen, Auge in Auge mit Christus in völliger Freiheit
und mit äußerster Geistesklarheit" (S. 139). „ImTode,
Christus gegenübergestellt, hat jeder Mensch die Gelegenheit
, seine Entscheidung im Vollbesitz seiner Kräfte, in
absoluter Klarheit und in völliger Freiheit zu treffen"
(S.140). „Daraus folgt: Wir müssen alle in Bereitschaft
Weihen. Was und wer gibt uns die Sicherheit, daß wir im

Tode die richtige Entscheidung treffen werden?" (S.145/
146). Von diesen Voraussetzungen her interpretiert Boros
nun sehr interessant und hilfreich die Lehre vom Fegefeuer
, von der Fürbitte für die Toten, von der Verdammung
als selbstgewählte Trennung von Gott, von der
Hölle usw. Es ist leider nicht möglich, die u. E. durchaus
diskutablen metaphysischen Hypothesen von Boros, die
eine Entmythologisierung im besten Sinne des Wortes bedeuten
, im einzelnen vorzuführen.

Neben dem Aufsatz von John Hick empfinden wir die
Ausführungen von Prof. Roger Troisfontaines, S. J., Na-
mur in Belgien, über „das Geheimnis des Todes" (S.157
bis 173) als einen ausgesprochenen Höhepunkt der Auf-
satzsammlung. In einer überaus klar gegliederten, faszinierenden
phänomenologischen Analyse wird der einfache
Grundgedanke ausgeführt, daß sich im menschlichen Leben
zwei Entwicklungslinien kreuzen: Einer ständigen Abnahme
der körperlichen Kräfte und der bestimmenden Bedeutung
der äußeren Lebensumstände steht ein ständiges
Wachstum der geistigen Persönlichkeit und ihrer relativen
Freiheit von den äußeren Umständen gegenüber. „Im
Augenblick des Todes nimmt das menschliche Sein sein
eigenes Maß" (S. 171), wird das von dieser Materie befreite
geistige Selbst dazu fähig, die ihm eigenen Tätigkeiten ungehindert
auszuführen (S.165). „Die Bedeutung des irdischen
Abenteuers ist, die geistige Person für jenen freien
Akt auszubilden, wodurch er sein eigenes Sein festsetzen
soll. Der Mensch ist fleischgewordener Geist, der sich im
Akt des Werdens befindet, bevor er die Fülle seines Seins
erreicht" (S.172). "Auf der letzten Seite von Andre Mal-
raux's „Die menschliche Beschaffenheit" sagt der alte Gi-
sors: ,Du kennst die Redensart: es dauert 9 Monate, einen
Menschen zu Leben bringen, aber nur einen Augenblick,
ihn zu töten . . . Höre: Es dauert nicht 9 Monate, sondern
60 Jahre einen Menschen zu machen, 60 Jahre von Opfer
und Willenshandlungen . . . von so vielen Dingen! Und
wenn der Mensch endlich geschaffen ist, wenn nichts Kindisches
, nichts Jünglingsmäßiges in ihm bleibt, wenn er
wirklich und wahrhaftig ein Mensch ist, ist er für nichts
anderes gut als für Sterben.' Zweifellos eine bittere Feststellung
, die das ganze Buch zusammenfaßt und die die
hoffnungslose Philosophie ausdrückt, die damals galt. ,Das
Leben ist absurd; alles wird vom Tode zerstört.' Aber dieselbe
Feststellung könnte in anderem Lichte gedeutet
werden. Ja, wenn ein Mensch wirklich ein Mensch geworden
ist, ist er nicht länger für etwas anderes gut als für den
Tod; denn sein ganzes Wachsen hatte keinen anderen
Zweck; denn der Tod ist der Vorgang, der Kreuzweg, wobei
das Leben endlich voll aufblühen kann." (S. 172/173).

Prof. Kilian McDonell, O. S. B., Minnesota, faßt in seinem
Aufsatz „Tod und Welt-Auferstehung" (S. 181-191) den
Tod ebenfalls als Möglichkeit zu persönlicher, freier Entscheidung
und betont unter Berufung auf Kolosser 1,15-18,
Epheser 1,8-10 u. 19-23, Römer 8,18-22 usw., daß Gott
nicht unsere Seelen rettet, sondern daß unsere Auferstehung
in die Erlösung des gesamten Kosmos eingebettet ist.

Bei dem kurzen Epilog von Boros „Der Himmel: Das
Wesentliche unserer Zukunft" (S. 193-195) handelt es sich
ebenfalls um einen Wiederabdruck.

Niemand wird erwarten, daß ein Buch die so überaus
gewichtigen und brennenden Fragen nach Leiden und Tod
gültig beantworten kann, aber wir bekennen, daß seine
Lektüre für uns ausgesprochen anregend, gewinnbringend
und hilfreich war.

Berlin Hans-Hinricli Jenssen

Greive, Wolfgang: Praxis und Theologie. München: Kaiser [1975].
69 S. 8° = Theologische Existenz heute, hrsg. v. T.liendtorff u.
K.G. Steck, 184. DM8,80.

Der Akzent der Veröffentlichung liegt darauf, daß in der
Auseinandersetzung mit rationalen Empirikern unter den